Gabriele Hartmann, bon-say-verlag

abgegriffen

Erscheinungsjahr: 2023

2023; bon-say-verlag Höchstenbach, Ringbindung, A6 quer, farbiges Innencover, 164 Seiten
ISBN 978-3-945890-53-0

Inhalt:

Weitere Informationen

Textproben, Inhaltsverzeichnisse, Bibliographische Angaben, Bezugsquellen (Nicht alle Elemente gleichzeitig vorhanden)

158 Haiku 2022 von Gabriele Hartmann

Erscheinungsjahr: 2023

Rezension

Zwei Rezensionen sind hier verfügbar!
Rezension von Brigitte ten Brink:

158 Haiku, eines pro Seite, 158 Momente des Wahrnehmens, des Erlebens, des Empfindens ihres Lebens im Jahre 2022 hat Gabriele Hartmann in diesem Buch festgehalten. Das Jahr 2022 ist wohl im allgemeinen Bewusstsein als ein schwieriges Jahr im Gedächtnis geblieben. Gesundheitliche Ängste (ist die Corona-Pandemie nun beendet oder nicht), finanzielle und wirtschaftliche Sorgen (explodierende Energiepreise und die damit verbundenen steigenden Kosten in allen Lebensbereichen) und nicht zuletzt politische und gesellschaftliche Verwerfungen (der Krieg in der Ukraine und der zunehmende Rechtsruck in den verschiedensten europäischen Regierungen). All diese, im Grunde doch sehr komplizierten Vorgänge, thematisiert die Autorin in ihren Haiku, in maximal 17 Silben und 3 Zeilen, tiefsinnig und hintergründig.

Doch als Erstes habe ich mich gefragt, wie der Titel des Buches – „ABGEGRIFFEN“ – zu verstehen ist. Er ist dem dritten Haiku dieses Buches entnommen:

Mutters Gesangbuch
abgegriffen
das Hohelied der Liebe
(S. 7)

In diesem Haiku hat das Wort „abgegriffen“ die Bedeutung von viel gebraucht, benutzt, abgenutzt. Doch ein Verständnis in diesem Sinne lässt sich nicht auf die anderen Haiku übertragen, weder inhaltlich noch in einem übergeordneten Sinn, der sich auf die Abnutzung des Genre Haiku im Allgemeinen beziehen würde, was absoluter Unsinn wäre. Also warum „abgegriffen“ als Titel wählen? Im Grunde ist die Antwort bereits gegeben: die Haiku sind dem Leben entnommen worden, sie sind aus dem Leben geschöpft, „abgegriffen“ worden, sie sind durch das Leben, das Erlebte des Jahres 2022 entstanden, so mein – vielleicht ganz persönliches – Empfinden.

Das Buch beginnt, ganz klassisch für Haiku-Jahresrückblicke, mit einem Neujahrshaiku

Jahreswechsel
alles, sagst du
bleibt
(S. 5)

Es bleibt das Gute, die Erinnerung an das Gute. Es bleiben aber auch die Probleme. Das neue Jahr übernimmt die Altlasten des vorherigen Jahres, schleppt sie weiter, bestimmt so die Zukunft mit.

Bei Gabriele Hartmann finden kleinste Details im Erleben Beachtung

nach dem Gewitter die Amsel unplugged
(S. 118)

Aber auch Zwischenmenschliches

erster Frühlingsmond
wir tragen unser Herz
auf der Zunge
(S. 59)

Inspiration durch Naturbeobachtungen

Zugvögel
ich schiebe meinen Koffer
in den Wind
(S. 123)

und große Ereignisse, die die ganze Welt bewegen

Russisches Brot
wir buchstabieren
FRIEDEN
(S. 57)

und

Inferno
gerade noch war alles
Sonne in mir
(S. 77)

Die Haiku bewegen sich durch den jahreszeitlichen Ablauf – mal mit, mal ohne Kigo – aber auch durch einen eher chronologischen Verlauf des Jahres, in dem aktuelle Ereignisse thematisiert werden, die im Grunde nichts mit einer Jahreszeit oder der Natur zu tun haben.
Wie immer gelingt es Gabriele Hartmann den Leser mit ihren Texten zu berühren, ihn nachdenklich zu stimmen. Doch in den Haiku des Jahres 2022 ist eine leicht melancholische Grundstimmung nicht zu übersehen, zu überhören, zu überlesen.

Das mit einer Ringbindung gestaltete Buch lädt ein, es irgendwo aufzuschlagen, das Haiku auf dieser Seite zu lesen und sich von ihm davontragen zu lassen – in die eigene Welt.

Rezension Rüdiger Jung:

Gate 6
ein Papierflieger
hebt ab

Vor gut einem Jahr hätte man diesem zauberhaften Haiku noch so etwas wie „kindliche Unschuld“ attestiert. Die Zeitläufte haben sich gewandelt. Nichts ist mehr, wie es war, seit am 24.Februar 2022 das Putin-Regime seinen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eröffnet hat. Nicht nur die Gewalt, auch die dazugehörige Propaganda wird seither großgeschrieben. Da waltet so etwas wie ausgleichende Gerechtigkeit, wenn dem schier endlosen Ausstoss manipulativer Worte im Haiku nur eine Zeile eingeräumt wird. Deren Überlänge der kritischen Aussage durchaus konform ist:

der lange Tisch … Pinocchios Maske dehnt sich

Der sechs Meter lange Tisch in Moskau wird in Erinnerung bleiben, an dem Emmanuel Macron und Olaf Scholz Putin als „Gäste“ in grosser Verlorenheit gegenübersaßen. „Pinocchios Maske“ entschärft das Ganze nicht. Eher wirkt sie in allerhöchstem Masse entlarvend. Wer die Jahreslese der im Verlaufe eines Kalenderjahrs veröffentlichten Haiku Gabrieles vor Augen hat, dem begegnet eben nicht nur, was ihr und Georges im Laufe eines Jahres widerfahren ist. Dem tut sich vielmehr ein Mikrokosmos auf, der für das „große“ Weltgeschehen durchsichtig wird: 

Heiliger Abend
einer bricht
die Waffenruhe

Auf einer ersten Ebene des Lesens verstört zutiefst, dass selbst zum Fest des Friedens sich der Friede als unmöglich erweist. Auf einer zweiten erweist sich, dass selbst mit einer „Waffenruhe“ die eingehalten würde, ein extremes Maß an Spannung verbliebe. Was dominiert: die ersehnte „-ruhe“ oder die tödlichen „Waffen-“?

Auch andere Themen bleiben virulent und beunruhigend. Das Phänomen der „Lichtverschmutzung“ etwa, das für mich noch keiner so gut in ein Haiku zu fassen vermochte wie Gabriele

Großstadtlichterin Unterzahldie Sterne

Überhaupt: das Licht. Ein Thema, dem sich in Gabrieles Haiku gesondert nachgehen ließe – nicht ohne, dass es die vielfältigsten Biegungen und Brechungen erfährt:

schwindendes Licht
der alte Förster memoriert
Baumnamen

Der Sprache und der in ihr verbürgten Erinnerung bleibt es aufgegeben, im Blick zu behalten, was der nachlassenden optischen Wahrnehmung nicht mehr verfügbar ist.

Gabrieles Haiku sind von magischer Qualität, weil sie bei den ebenso schlichten wie verblüffenden Wurzeln der japanischen Dichtung verbleibt

Mag sein, dass wir „Westler“ das nicht aufnehmen können, ohne die Anfangszeile und die beiden, die ihr folgen, in ein kausales oder doch zumindest temporales Gefüge zu pressen. Der Text selbst gibt das nicht her. Er bietet ganz klassisch ein Nebeneinander konkreter sinnlicher Wahrnehmungen, die sich wechselseitig erhellen.

Wer die Texte NICHT in ein Schema sperrt, wer sich vielmehr mit allen Sinnen ihrer Konkretion überlässt, der findet sich in einer Welt wieder, der noch jeder im Grunde alltägliche Blick zur Spannung und zum Wunder gerät:

Nachtvorstellung
ein Boule-Spieler
fixiert den Mond

Ist das nicht himmlisch? Was mich besonders freut: dass die Haiku-Lese eines aufgewühlten Jahres einen ebenso persönlichen wie hoffnungsvollen Schluss-Akkord erfährt

Aufwachraum wir beginnen wieder zu träumen

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