„ALLES!“
Eine Foto-Tanbun-Sequenz von Rita Rosen & Gabriele Hartmann, inspiriert durch die gemeinsam besuchte Ausstellung „100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“
Erscheinungsjahr: 2022
Rezension
Brigitte ten Brink
ALLES!
Rezension
Ein kleines handliches Büchlein liegt vor mir, mit Spiralbindung im Querformat 14,8 mal 10,5 cm groß, 52 Seiten stark, das gut in eine Handtasche oder auch eine etwas größere Jackentasche passt, um es z. B. zur Verkürzung von Wartezeiten zu lesen. Man könnte es auch als „chapbook“ bezeichnen, ein Einsteckbüchlein, das ganz unkompliziert überall mit hingenommen werden kann. Das Cover zeigt das Foto eines Blattes auf einem in dunkleren Rosatönen gehaltenen Hintergrund und der Titel ALLES! klingt vielversprechend.
Es entstand anlässlich der Ausstellung „100 Jahre Jawlensky in Wiesbaden“, die Gabriele Hartmann und Rita Rosen gemeinsam besuchten. Ihre Eindrücke haben sie in Tanbun-Form festgehalten. Ein Tanbun besteht aus einem sehr kurzen und prägnanten Prosateil mit einem abschließenden Haiku. Jedem Tanbun wurde von Gabriele Hartmann ein Foto, zur Seite gestellt, das mit dem Text eine feinsinnige Verbindung eingeht. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um Fotos der Exponate. Im Anhang findet der Leser eine Kurzbiografie Alexej von Jawlenskys, eine Kurzbeschreibung der Begriffe „Tanbun“ und „Sequenz“, ein Inhaltsverzeichnis, kurze Informationen zu den beiden Autorinnen nebst einem kurzen Nachwort zur Entstehung des Büchleins: eine Hommage an das Lebenswerk des Künstlers, die jeweilige persönliche Retrospektive einer beeindruckenden Werkschau verpackt und verbunden im „Stil japanischer Kettendichtung“ (S. 52).
Gabriele Hartmann macht mit dem Tanbun „Gold“ in mehrfacher Hinsicht den Anfang: Es ist das erste Tanbun in dem Büchlein und es behandelt sowohl die Ankunft der Autorin in Wiesbaden an einem stürmischen Herbsttag, als auch den Auftakt des Aufenthaltes Jawlenskys dort und es zieht ein beeindruckendes Resümee.
GOLD
21. Oktober. Einer dieser Herbsttürme reißt die bunten Blätter aus meinem Himmel. „In Wiesbaden man erwartet mich schon.“ *
am Ende
dieses Tages werde ich
reicher sein
GH (* Jawlensky an Karl Obersteg, 31. Mai 1921) (S. 5)
Abgerundet wird das Büchlein dann durch das letzte, von Rita Rosen verfasste Tanbun.
PFADE
Zwischendurch – immer wieder – wohltuend Landschaftsbilder. „Der Große Weg am Abend“ führt durch dämmriges Grün zum schwarzen Tor – verschlossen.
Zeitumstellung –
im frühen Dunkel
der NachHauseWeg
RR (S. 42)
Die beiden Autorinnen haben jeweils ihren eigenen Blick auf die Werke und ihre individuellen Empfindungen während des Ausstellungsbesuches. In den Tanbun kommt dies im ganz persönlichen Stil der jeweiligen Verfasserin zum Ausdruck. Bei Rita Rosen z. B. immer wieder ein direkter Zusammenhang zwischen dem Exponat, das sie gerade betrachtet, und dem konkreten aktuellen Empfinden bzw. der gegenwärtigen Erfahrung. So behandeln ihre Tanbun im Prosatext jeweils eines der Ausstellungsstücke und das dazugehörige Haiku ihr persönliches momentanes Erleben.
SCHMERZ
Mit den Online-Tickets in den Raum. Nebeneinander stehen. Goldbraune Striche – die Stirnfalten des Meditierenden. „Meine kranken Hände“ nannte er das Bild.
ich
zerknülle
den Flyer
RR (S. 6)
oder
GESICHT
der Weggefährtin. Hochmütig, hochnäsig, hochtalentiert. Kunterbunt. „Farbe ist Emotion“, bestimmte die W.
ein Pulk vor dem Bild –
in meinem Rücken
Ellenbogen
RR (S. 34)
Gabriele Hartmann dagegen macht auch immer wieder das „Drumherum“ zum Thema.
BLAU
Alltagsgegenstände – doch diese Farbe! Fasziniert umrunde ich die Stele, strecke eine Hand aus …
ein Räuspern
ruft mich zur Räson – ich suche
das Weite
GH (S. 21)
oder
ZUWENDUNG
Ein neuer Raum. Unter Glas die Liste der Sponsoren. Ein Herr im Cut nähert sich, nestelt am Audioguide, kommt
noch näher …
dann streift mich
Sandelholz
GH (S. 29)
Durch die Lektüre bekommt der Leser einen Eindruck von der Präsentation und dem Werk Jawlenskys. Dieser Eindruck wird durch die Fotografien, welche sowohl Ausschnitte der Exponate aber auch visuelle Erweiterungen der textlichen Inhalte zeigen, noch verstärkt.
Ein rundum gelungenes kleines Werk, das nach der Lektüre Lust darauf macht, diese Ausstellung zu besuchen, um sich eine eigene Anschauung zu verschaffen.