Horst Ludwig (in: Sommergras83)

Die alte Buche

Ich komme in das Alter, wo ich einige Erinnerungen aufzeichne, so daß meine Kinder später noch Berichte von mir haben von dem, was mir offenbar irgendwie wichtig war. Ich bemerke aber auch, daß mir
die genaue Aufzeichnung des Geschehenen doch nicht so angelegen ist, denn es macht mir einige Freude, Einzelheiten wegzulassen – oder auch etwas hinzuzufügen, woran ich mich gar nicht erinnere, – einfach damit das Erzählte mehr wie etwas mit Anfang, Mitte und Ende klingt, wenn dem auch zumeist ein schnell verständlicher Sinn mangelt. Sinn im Lebendigen zu sehen, ist ohnehin sehr schwierig, und einen alles
umfassenden Sinn gibt es wohl nicht, jedenfalls keinen, der einen wie mich beglückt.
Aber es gibt Augenblicke, die trotz allem fortdauernd schön sind. So war ich wohl damals siebzehn, und ich ging oft abends mit einem etwas jüngeren Mädchen an Rainen und Gräben entlang durch die Felder, die
hinter den Schrebergärten begannen. Der warme Sommerabendwind spielte angenehm auf der bloßen Haut. Ohne wild zu sein, freuten wir uns unserer Natur.
Es ergab sich kürzlich, daß ich an einer Konferenz in dieser meiner alten Stadt in Deutschland teilnahm. In einer freien Stunde sah ich, sie war gewachsen, die Schrebergärten waren alle verschwunden, und die
Vorstadt hatte sich auch in die Felder ausgedehnt, die meine Freundin und ich damals noch als Natur durchwanderten. Der wilde Wald, der sich früher an die Felderfläche anschloß, war jetzt mehr ein Park geworden, mit befestigten Wegen; und die Bombentrichter, die man zu unserer Zeit auch Jahre nach dem Kriege noch in ungenutztem Land finden konnte, sie waren alle ausgefüllt, alles war eben, das Unterholz fast ganz verschwunden, – aber da war noch die alte Buche, jetzt ganz ohne Gebüsch davor, unter der wir damals beieinander lagen, als wir einmal viel weiter gegangen waren, als wohin uns meist unsere Abendausflüge führten. Wir hatten jedoch kein Herz mit Pfeil in die Rinde geschnitten; so etwas haben
andere inzwischen getan. Wir sahen damals in dem Baum die mächtige Natur und freuten uns daran. Ich habe ihn gleich wiedergefunden, gar nicht so weit vom Parkplatz weg, der jetzt auch für die Stadtleute angelegt
ist, die etwas an die frische Luft gehen oder sich ernsthaft allein oder zu zweit den Trimm-dich-Pfad entlang gesund traben.

Die alte Freundin
unter derselben Buche,
jetzt im braunen Kleid.

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Erscheinungsjahr: 2008

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