Ingrid Kunschke (in: Sommergras86)

Distelwolle (es handelt sich hierbei um Tanka-Prosa)

In jener Nacht legte sich der Wind.
Ich habe genug, sagte er bei sich. Wen schert es schon? Niemanden.
Um mich zumindest schert sich niemand. Und er legte sich schlafen, zwischen den Disteln am hinteren Ende der Wiese. Nur seine Träume sah man noch ein Weilchen umherschwirren. Düstere Träume vom Heulen, wenn’s keiner hört, und dem Drang, sich in einem Eimer zu verstecken.
Die Bäume verstummten. Alle Geschöpfe der Nacht hielten den Atem an; sogar der alte Schuppen hörte auf zu ächzen.
Schlafen. Lasst ihn schlafen, dachten sie. Er ist zu weit umhergestreift, hat zu viel gesehen.
Während sie über den Schlaf des Windes wachten, legten sie in Gedanken eine Liste an. Windumtost, stand darauf, ein beißender Wind, ein günstiger Wind, ein Lufthauch und Windpark – das war etwas, das ein Zugvogel vorgeschlagen hatte –, und vieles mehr. Nicht zu vergessen wiederauflebender Wind, dachten die Disteln bei sich.
In seinem Schlaf nickte der Wind unmerklich. Er hing jetzt tröstlichen Träumen nach, von wogenden Gräsern, Gischt und dem weichsten Flaum der Schnee-Eule. Zum ersten Mal in seinem unsteten Leben fühlte er sich zugehörig. Wo auf seinen Reisen hatte er Ähnliches gesehen? Ah, ja…

im tiefen Schlaf
der mongolischen Steppe:
Nomaden
träumend von der Herde
und Pferden, Pferden

Niemand rührte sich in jener Nacht. Aber die Disteln setzten wollige Samen frei und versuchten ihre Stacheln einzuhalten, nur dies eine Mal.

Erstveröffentlichung unter dem Titel Thistledown in Modern Haibun & Tanka Prose, Sommer 2009. Aus dem Englischen von Ingrid Kunschke. Anmerkung der Redaktion: Ingrid Kunschke ist Betreiberin der im deutschen Sprachraum wohl einzigartigen Tanka-Seite www.tankanetz.de

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Erscheinungsjahr: 2009

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