Ruth Franke (in: Sommergras90)

Heimat

„Ich kann nichts versprechen.“ Mit lebhaften Gesten der schmalen, gepflegten Hände begleitet sie ihre kurzen Sätze in erstaunlich gutem Deutsch. Da ist der Vater, fast neunzig, pflegebedürftig, drei andere Putzstellen, da sind die Enkelkinder. „Ich möchte Ihnen helfen, aber ich kann nichts versprechen. Mein Vater – man weiß nie …“ Die zierliche, noch immer hübsche Frau schüttelt ihre dunklen Locken und ist schon verschwunden.
Nina ist eine Perle. Umsichtig, gründlich, intelligent, anpassungsfähig, immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Manchmal muss man sie bremsen, wenn sie allzu hastig treppauf, treppab huscht. „Ich bin das gewohnt,“ antwortet sie, „morgens um sechs fing bei uns die Arbeit an.“
Allmählich enthüllt sich ihre Geschichte. Sie ist Wolgadeutsche, stammt von deutschen Einwanderern ab, die schon von Katharina II. angesiedelt wurden, um die Steppe urbar zu machen.

Getreidemeer
auf den Wolgawellen
das Lied der Loreley

Jahrhundertelang unabhängig, änderte sich ihr Schicksal, als Hitlers Truppen näher rückten. Der Weizen war gerade erntereif, da erschienen russische Soldaten in Ninas Heimatort, trieben die Einwohner zusammen und verfrachteten sie in Güterwaggons.

Tag und Nacht
das Rollen der Räder
wohin wohin

Nach vier Wochen Fahrt hielt der Zug in Omsk, Westsibirien. In Sommerkleidung waren sie fortgegangen, hier war Winter. Sie hielten zusammen, bissen sich durch. Am Stadtrand gründeten sie eine deutsche Siedlung, solide Backsteinhäuser. Nina besuchte die russische Schule, wuchs auf im stalinistischen Drill. Daheim wurde Deutsch gesprochen.

alter Brauttanz
Schön ist die Jugend
sie kommt nicht mehr*

Als die Ausreise nach Deutschland wieder möglich war, gingen Ninas Kinder und Geschwister zuerst. „Da starb mein Mann an Herzinfarkt,“ erzählt sie. Jetzt war sie mit den Eltern allein. Sie verkaufte das Haus  und wagte den Neuanfang mit den schon gebrechlichen Eltern. Hier waren sie die Russen, unwillkommen. „Aber wir sind doch Deutsche“, wenig.“
Nina arbeitet hart, geht putzen, pflegt ihre Mutter bis zu ihrem Tode, dann den Vater. Der Arzt will eine Pflegekraft beantragen, doch ihr Vater weigert sich: „Du bist doch meine Tochter.“ Ihre Augen haben dunkle Ringe.
Als der Vater stirbt, erfüllt sie sich einen Traum: Sie bucht einen Flug nach Omsk, zum Grab ihres Mannes, zu den Verwandten und Freunden, die dort geblieben sind. „Wir waren immer so fröhlich miteinander“, sagt sie „wie eine große Familie.“

Wildgänse ziehn –
auf fernen Flüssen
bricht jetzt das Eis

* Volksweise aus Hessen um 1820

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Erscheinungsjahr: 2010

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