Dieter W. Becker (in: Vierteljahresschrift 60)

Januarstrand

Die Prickenreihe führt an diesem Januarmittag über den kurzen Dunsthorizont hinein in den Bereich des Unsichtbaren. Der unsichtbaren Insel Neuwerk. Das letzte Drittel der Steinbuhne liegt fest unter Eis, das sich hellweiß aus den dunkel überschlickten Schollen des Watt herausschiebt. Das mürbe Eis bricht unter den Stiefeln und ich stehe im Wasser. Einzelne Muschelschalen hängen fest im Eis. Die See steht ruhig unmittelbar hinter der Eiskante. Ob Ebbe oder Flut ist nicht festzustellen. Spärliche Sonnenstrahlen wärmen und lassen im Gegenlicht die Wattriffelmarken erglänzen. In einiger Entfernung trippeln Möwen auf der Futtersuche. Langsam wandere ich im Wasser am Eis entlang nach Süden, dem Blinken und Glitzern entgegen.

Wechsele später über das Eisfeld zum Kiefernwald.

unter dem Eise
schlummert noch das neue Jahr.
Auch diese Zeit vergeht
Dieter W. Becker (1985)

Der obige Text „Januarstrand“ wurde von mir 1985 geschrieben, also lange vor der Gründung der DHG. Mein erster bewusst als Haibun geschriebener Text entstand im Herbst 1980 unter dem Titel „Unverhofft war ich dort“. Nach einer im Juli 1989 bei Prof. Dr. Hammitzsch und Frau Dr. L. Brüll geführten Diskussion war für mich die Zuordnung solcher Texte zur Rubrik „Haibun“ klar. Ich schrieb also weiterhin u.a. auch Haibun. Eine Veröffentlichung solcher Texte in der Vierteljahresschrift wurde abgelehnt.
Für mich unverhofft wurden dann im Jahr 2000 Haibun veröffentlicht. Den obigen Text habe ich am 17.10. 2000 unter dem Betreff „Haiku-Archäologie” an die Schriftleitung per e-mail gesandt. ( An dem oben angegebenen Text sind jetzt drei Silben und ein Satzzeichen geändert!) Schweigen. Tel. Nachfrage: „mal sehen“. Dabei ist es bis zur Stunde geblieben. Der Schlussvers des Textes von 1980 ist:

auf der Heide blüht
die Rose jetzt japanisch,
Germanisten, tschüß!

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Erscheinungsjahr: 2003

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