Gabriele Hartmann, bon-say-verlag

Serpentinen – Haiku 2021

Erscheinungsjahr: 2022

Ringbindung, A6 quer, farbiges Innencover, 216 Seiten, bon-say-verlag, ISBN 978-3-945890-49-3 16 €

Inhalt:

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210 Haiku 2021 von Gabriele Hartmann

Rezension

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Rezension von Rüdiger Jung

SERPENTINEN

Gabriele Hartmann, Haiku 2021, bon-say-verlag, 2022. ISBN 978-3-945890-49-3, Ringbindung, A6-quer, 216 Seiten

Einmal mehr eine umfängliche Sammlung der innerhalb eines Kalenderjahres veröffentlichten Haiku (die Publikationsorte sind – wie gewohnt – auf der letzten Seite nachgewiesen. „Serpentinen“ ist quantitativ und qualitativ gleichermaßen reichhaltig. Ich zitiere zunächst ein Haiku, das im wahrsten Sinne des Wortes „fabelhaft“ ist. Denn die Sehnsucht “der Pferde“ ist von menschlicher Seite gut nachvollziehbar, und „die langen Hälse“ verleihen diesem Sehnen eine sinnliche Qualität:

die langen Hälse
der Pferde – jenseits des Zauns
das Gras grüner (S. 119)

Das heißt nein sicher nicht, dass Natur in den Haiku Gabriele Hartmanns immer nur menschliche Projektionsfläche sei. Die hat durchaus – wie im folgenden Beispiel – ihre poetische Autonomie:

Neuschnee
die dünne Haut
der Erde (S. 79)

Das hat seine eigene Dynamik. Auf den ersten Blick ist der „Neuschnee“ selbst „die dünne Haut“ der Erde. Auf den zweiten Blick sensibilisiert „Neuschnee“ dafür, dass die „Erde“ auf die er sich legt um rasch wieder zu schwinden, eine „dünne Haut“ hat. Mithin ist es eine überaus verletzliche Oberfläche, die nicht nur den Neuschnee, sondern auch uns und alles Leben trägt.

unter einer Decke
kartieren wir
die Schatzinsel (S. 113)

Das ist ebenso charmant wie schillernd. Liegen da zwei Kinder „unter einer Decke“, um die gemeinsame Schatzsuche des nächsten Tages vorauszuplanen? Oder bilden die „Schatzinsel“, das „kartieren“ eher einen raffinierten erotischen Kontext? Wie auch immer, das komplicenhafte „unter einer Decke“ ist die halbe Miete!
Dass die beiden Kontexte nah beisammen sind, der Wechsel einer kindlichen oder jugendlichen Perspektive in eine erwachsene sich allenfalls in Nuancen unterscheidet, darauf deutet der nächste Texte:

Sandkastenliebe
wir vergleichen
unsere Narben (S. 162)

Das hat den Ernst der „Narben“ und doch auch einen Funken von Humor.
Auch die Ambivalenz von Drohung und Bergung, Naturgewalt und Bewahrung kann – und sei es erst in der dritten Zeile! – einen eminent erotischen Kontext beschwören.

Gewitterwolken
wir finden uns
im Heu (S. 101)

Die Autorin bleibt frisch und jung in ihrem Empfinden:

Spätheimkehr
die knarrende Stufe
vermeiden

Und sie hat, ganz wie Issa, die Achtsamkeit für jede noch so kleine und unscheinbare Kreatur:

großer Hausputz
ich trage das Spinnchen
nach draußen (S. 39)

Diese franziskanische Empathie ist mehr als nur poetische Unverbindlichkeit. Sie paart sich einem sehr kritischen Blick dafür, wo Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben“ ganz offensichtlich nicht die leitende Maxime bildet:

blinzeln
ein schwanzloses Schwein
an der Rampe (S. 156)

Es ist dieses zwischen Mensch und Tier schillernde „blinzeln“, das die Beobachtung doppelt unter die Haut gehen lässt und unerträglich macht. Wo immer das Leben ein Thema ist, da ist es auch der Tod in seinem Potential der Gefahren, in seiner Plötzlichkeit:

Biker
in den Serpentinen
ein neues Kreuz (S. 35)

Der klassischen japanischen Poesie wohnt eine ganz eigene Dialektik inne. Es ist gerade der drohende Tod, der das bedrohte Leben in seiner Einzigartigkeit nur umso kostbarer macht. Vergänglichkeit, Endlichkeit, Sterben drängen in diesem Sinne nicht in die Resignation, sondern in ein umso intensiveres Erleben der Immanenz. Wo der Tod zur Realität geworden ist, antwortet ih die Wahrnehmung der Kostbarkeit des Lebens im Akt des Gedankens. Das selbst da nicht gilt, wo die dingliche Habe preisgegeben wird:

die Brosche
die sie einst trug
versetzt (S. 53)

Einem Wort zufolge, das nicht selten Traueranzeigen vorangestellt wird, ist die Erinnerung das einzige Reich, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Wer nunmehr in unserer Erinnerung lebt, der stirbt folglich, wenn sie ihn entlässt.

schwindendes Licht
nun bin ich die einzige
die noch an ihn denkt (S. 129)

Seit sich Jesu persönliche Prophetie für Petrus (Markus 14, 30) erfüllt hat, hat der Kirchturmhahn seine Rolle als Mahnmal und Bußruf. Für Gabriele Hartmann ist er „der erste Hahn“, der nach Karfreitag einen neuen Tag vermeldet, einer, der das Recht ins Leben setzt:

Karfreitag
der erste Hahn
bricht das Schweigen (S. 37)

***
Brigitte ten Brink
Serpentinen
Rezension

210 Haiku beinhaltet dieses schlicht, man kann sagen spartanisch, gestaltete Haiku-Buch in Postkartengröße. Je ein schwarzgedruckter Dreizeiler auf einer weißen Seite, darunter die Seitenzahl – sonst nichts. Haiku pur! Nichts was ablenken könnte vom geschriebenen, vom gedruckten Wort, vom Inhalt dieser Worte, von den Texten, nichts, was davon abhält, tief in das dort Festgehaltene einzutauchen.

Es beginnt bereits mit dem Titel dieses Buches: Serpentinen. Sucht man nach der Bedeutung und nach Synonymen dieses Begriffes, wird man im Fremdwörterduden und im Synonymwörterbuch fündig. Im Fremdwörterduden1 steht u. a. die Bedeutung Kehre, im Synonymwörterbuch2 wird u. a. die Alternative Wendung angeboten. Bezogen auf die Theorie des Haiku heißt dies, innerhalb der höchstens drei Zeilen, die das Haiku umfasst, gibt es eine Überraschung und es ist alles ganz anders als (anfangs) gedacht.

Biker
in den Serpentinen
ein neues Kreuz
(S. 35)

Was in den beiden ersten Zeilen dieses titelgebenden Haiku noch nach einem Ausflug in die Berge klingt, bekommt in der dritten Zeile einen bitteren Beigeschmack, ebenso

die Brosche
die sich einst trug
versetzt
(S. 53)

Diese Wendungen sind jedoch nicht zwangsläufig tragisch
Maisonne
wie die Fältchen sich glätten
im Buchengrün
(S. 41)

Stadtmauern
diesseits und jenseits
das Lied der Amsel
(S. 81)

präsentieren immer wieder unerwartete Gedankenverbindungen

Wurzel-Rhyzom
lt. Geburtsurkunde:
Vater unbekannt
(S. 160)

und an einer Prise Spitzfindigkeit in diversen Sprachspielen fehlt es auch nicht

all1inder8er3stemichamglückzu2feln (S. 93)

und

nursoNEIDee (S. 177)

oder

ich will
dass alles bleibt
wie es ist
(S. 174)

So steckt dieses Buch voll mit 210 Überraschungen. Die Spiralbindung lädt dazu ein, es auf einer x-beliebigen Seite aufzuschlagen und sich verblüffen zu lassen von der Vielfalt der Gedanken und Einfälle, die zu unvermuteten Schlüssen führen und immer mal wieder auch mit Erinnerungen und einem Augenzwinkern versehen sind.

unter der Bettdecke
die Eulen von Hogwarts
und ich
(S. 16)

1 Duden: Das Fremdwörterbuch. 9., aktualisierte Auflage. Duden Band 5. Dudenverlag Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich. S. 950
Serpentine: a) Schlangenlinie; in Schlangenlinien fahren; in Schlangenlinien ansteigender Weg an Berghängen; b) Windung; Kehre; Wegschleife
2 Duden: Das Synonymwörterbuch. 4. Auflage. Duden Band 8. Dudenverlag Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich. S. 792
Spitzkehre, Wegbiegung, Wegkehre, Wendung, Windung

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