Gabriele Hartmann – bon-say-verlag

Variationen – Haiku

Erscheinungsjahr: 2021

Softcover, Ringbindung, Din A6 quer, 168 Seiten, ISBN 978-3-945890-28-8, 14 €

Inhalt:

Weitere Informationen

Textproben, Inhaltsverzeichnisse, Bibliographische Angaben, Bezugsquellen (Nicht alle Elemente gleichzeitig vorhanden)

Haiku 2020 von Gabriele Hartmann

Rezension

Zwei Rezensionen von Christof Blumentrath und Rüdiger Jung:

Rezension
Christof Blumentrath

Sie kommt mit dem bekannten Poltern die Hauseinfahrt hinauf, dann folgt das Quietschen des Fahrradständers. Die nette Frau von der Post kommt bei uns mit dem Fahrrad. Ich gehe ihr entgegen. Gut gepolstert steckt das kleine Schätzchen im Kuvert, ich ziehe es vorsichtig heraus und denke: Oh, wie schön es geworden ist!
VA RIAT IONEN — sie hat den Titel gekonnt in die spannende fotografische Gestaltung des Covers, „Fields of Gold“, eingefügt. Gabriele Hartmann präsentiert in diesem wunderschön gemachten Büchlein auf 168 Seiten die von ihr im Jahr 2020 veröffentlichten Haiku. Das kleinformatige Werk (DIN A6, Querformat, Spiralbindung) liegt gut in der Hand, das Papier ist angenehm dick und macht auf Anhieb einen hochwertigen Eindruck. Die Haiku, beidseitig und schlicht auf weißem Hintergrund dargestellt, nehmen mich mit auf einen sehr abwechslungsreichen Weg durch das vergangene Jahr. Gabriele Hartmann hat die Haiku nicht streng nach Jahreszeiten gegliedert. Dennoch erkennt man sehr wohl eine Art Zeitachse. Ihre Texte sind thematisch wie auch stilistisch außerordentlich vielfältig und reichen vom eher klassischen Stil in traditioneller Form:

sommerliche Bö
Hand in Hand belauschen wir
die Stille danach

die ersten Kirschen
und was bringt der Gatte mir?
Steine … nur Steine!

über großartige Einzeiler:

die Neunte — knarrende Dielen

nackt im Spiegel wir gehen blind über Rot

bis hin zu Gendai-Haiku:

geistERFAHREr

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Auch Haiku in englischer Sprache führt sie an:

entangled
in the skyline — we think
our dream to an end

verfangen
in der Skyline — wir denken
unseren Traum zu Ende

Die Autorin nimmt uns mit in die Natur:

Ostertage
von Pfütze zu Pfütze rankt
eine Fahrradspur

macht vor wohldosiertem Tiefgang nicht Halt:

einer der Sterne
sein letztes Foto
mit der Harmonika

und beleuchtet immer wieder – jeden persönlichen Bezug vermeidend – zwischenmenschliche Beziehungen:

junge Triebe

nach all den Jahren
diese Stimme

Das Jahr 2020 ist wohl für uns alle geprägt durch die Corona-Pandemie. Gabriele Hartmann befasst sich auch mit dieser Thematik, schenkt ihr aber glücklicherweise nicht all zu viel Raum, vielmehr gönnt sie uns ein gut gelauntes Augenzwinkern:

ein fremdes Parfüm
ich überprüfe
den Mindestabstand

Jeder Leser hat selbstverständlich stilistische und thematische Vorlieben. Doch die hier gesammelten Texte sind von großer Tiefe, überraschen immer wieder mit erstaunlichen Wendungen und bieten eine beeindruckende Bandbreite zeitgenössischer Haiku-Dichtung. Nicht nur den erfahrenen „alten Hasen“ der Haiku-Szene, sondern auch den unerfahrenen, suchenden, den noch unsicheren Poeten, würde ich diese kleine, feine Sammlung zum Studium ans Herz legen.
Mein Lieblingshaiku? Ein Favorit? Diese Entscheidung ist nicht ganz leicht. Und doch. Das folgende Haiku gehört vom ersten Lesen an zu meinen persönlichen Greatest Hits:

geklöppelte Zeit
auf der Kredenz
liegt feiner Staub

***

Rezension Rüdiger Jung

Gabriele Hartmann ist nichts Menschliches fremd. Für mich ein wesentlicher Grund dafür, dass ich ihre jährlichen Zusammenstellungen der einzeln an verschiedenen Stellen veröffentlichten Haiku wirklich herbeisehne. Sind doch da feiner Humor und tiefere Einsicht immer wieder ganz nah beisammen:

ganz der Vater
die grauen Köpfe
über dem Kinderwagen (S. 9)

„die grauen Köpfe“ haben ein ganz natürliches Interesse an Dauer und Fortbestand. Ähnlichkeiten mögen evident sein – oder (autsch!) an den Haaren herbeigezogen. Ähnlichkeiten können den Betroffenen zum Schaden sein oder zum Nutzen. Niemand aber geht ganz in seinen Ähnlichkeiten auf – geschweige denn, jemand sei jemals „ganz der Vater“. Im „Kinderwagen“ ausgefahren wird ein neues Leben, das hoffentlich einmal seinen ganz eigenen Weg findet (wenn auch, dankenswerterweise, ohne den steten Zwang, das Rad neu erfinden zu müssen).

Überhaupt: Neuanfänge – Haiku sind wie geschaffen dafür:

am Morgen
danach – gemeinsam
neue Tassen kaufen (S. 95)

Klingt das nicht ganz herrlich nach Versöhnung, nachdem zuvor einiges zu Bruch gegangen ist? Nicht zu vergessen: Man sollte schon alle „Tassen im Schrank“ haben!

Noch die märchenhafteste Chance (verwunschener Prinz !) kann sich wiederholen, wenn frau sich nur einen Ruck gibt:

im Frühlingslicht
der Frosch vom letzten Jahr
mein Herz tut einen Sprung (S. 79)

Selbst der Erfolg im Glücksspiel kann Angst auslösen, solange mit Neidern gerechnet werden muss:

drei gleiche Symbole
die Angst gesehen
zu werden (S. 109)

Dass noch der bestgemeinte Ratschlag einen Stich zu versetzen vermag, dürfte im folgenden Beispiel kaum einem Zweifel unterliegen:

zwischen den Lippen
eine Nadel warnt Mutter
vor der Liebe (S. 123)

Gabriele Hartmanns Haiku sind so einfach (und kompliziert!) wie das Leben – auf jede Zeile kommt es an:

sie wünscht sich
nichts (S. 68)

klingt für sich genommen resignativ. Aber sobald dem als erste Zeile „tiefe Blicke“ vorausgehen, ist die leitende Assoziation eine ganz andere: wunschlos glücklich!

Stille Nacht
der Dirigent hebt
den Taktstock (S. 23)

Erst einmal verspürt man gar nicht das Widerständige, hat man doch die einschmeichelnde Melodie von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ sofort im Ohr. Erst das bewusste, isolierte Wahrnehmen des Wortes „Stille“ lässt ahnen, dass der Dirigent vor nichts Geringerem steht, als der Quadratur des Kreises. Wenn es denn hier um einen menschlichen „Dirigenten“ geht – was im Kontext der Weihnacht nicht die einzige Lesart ist. Ein göttlicher Dirigent könnte durchaus die Stille orchestrieren – wider all unseren Unfrieden und Lärm.

Deutliche Spuren des Corona-Jahres 2020 trägt der folgende Karfreitags-Vers:

der Tod Jesu
a b g e s a g t (S. 57)

Im Rahmen des ersten Lockdown entfielen die für die Karwoche und das Osterfest obligaten großen Präsenz-Gottesdienste. „der Tod Jesu / a b g e s a g t“ klingt nach Rettung des Gottes- und Menschensohnes. Theologisch liegen die Dinge komplizierter: der „Good Friday“ entfiele – als Tag unserer Rettung und Erlösung, unseres Heils. Sieben Silben reichen der Autorin, um die ganze Problematik anzureißen, die sich ergibt, wenn Christen ihre großen Festtage nicht gottesdienstlich begehen können!

Eine besondere Gabe der Autorin ist es in meinen Augen, gerade in Anbetracht der Natur menschlicher Sehnsucht poetischen Sprachraum zu eröffnen:

Kranichrufe
unter den Wolken die Stadt
menschenleer (S. 46)

Natürlich! Wen hält es in der Stadt – wenn es draußen vor den Toren das wehmütige Vogel-V zu gewahren gilt – ganz gleich, ob es um den Abflug geht oder die Wiederkehr. Das Ganze kennt auch noch eine individuelle Lesart – nicht ohne feinen Humor:

Kranichrufe
er sagt – er geht
Zigaretten holen (S. 108)

Macht da einer den Kerkeling – und begibt sich auf den Jakobspilgerpfad? Nicht ausgeschlossen!

Ich schließe mit einem meiner Lieblingshaiku. Weil hier die Augen selber dürfen, was wir sonst nur den Blicken zugestehen

Papierdrachen
unsere Augen tanzen
im Wind (S. 142)

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