Gabriele Hartmann, bon-say-verlag

Wilde Vögel – Haibun

Erscheinungsjahr: 2018

2018 im bon-say-verlag

Softcover, Taschenbuch, 80 Seiten, 2018, ISBN 978-3-945890-20-2, 11,50 €

nur noch zu beziehen im bon-say-verlag

Inhalt:

Weitere Informationen

Textproben, Inhaltsverzeichnisse, Bibliographische Angaben, Bezugsquellen (Nicht alle Elemente gleichzeitig vorhanden)

Haibun von Gabriele Hartmann

Rezension

Rezension Rüdiger Jung

55 Haibun vereint der Band. Für 10 davon werden auf S. 79 Erstveröffentlichungen in „Sommergras“, „Chrysanthemum“ und „Lotosblüte“ der Jahre 2014 bis 2017 nachgewiesen; der längste Text – der abschließende – wurde in einem Wettbewerb prämiert. Groß ist die inhaltliche Spannweite, aber auch die formale Vielfalt: vom “Haiku mit minimalem verbalem Fallschirm“ (wenn ich die kleinsten Einheiten einmal so charakterisieren darf) bis zum Erzählkontext, der 6 Seiten in Anspruch nimmt; von Einheiten, die völlig ohne Haiku auskommen, bis zum Schlusstext mit seinem eindrücklichen Liebeswerben in 4 Haiku‚ darunter

mein weißes Herz
auf deiner Faust
ein Falke (S. 75)

Milan Kunderas epochaler Romantitel wird herangezogen, um zu benennen, was die Deutschen besonders gern sind und am liebsten bleiben: Fußball-Weltmeister:

die Leichtigkeit
des Seins – verlieren
mögen die anderen (S. 41)

Gabriele Hartmann verfügt über ein enormes Potential sprachlich-stilistischer Möglichkeiten, die sich an einem einzigen Text („WEG“, S. 46) illustrieren lassen: Der Titel bleibt schillernd – nach Groß- oder Kleinschreibung, nach langem oder kurzem Vokal. Ein Wort wird – Bedeutungswandel! – Silbe um Silbe verkürzt („Dienstunfähig“, „Unfähig“, „Fähig“). Es wird zurückgegriffen auf das schon in der deutschen Barockpoesie (die bereits die Freude am Experiment kannte!) beliebte Palindrom „LEBEN – NEBEL“. Schließlich dient der im Haiku bekannte und beliebte Nachhall, um die Frage nach dem Sinn des Lebens im verkürzenden Echo zu beantworten: „LEBEN“ – „Eben“! Bleibt noch zu vermerken, dass der Text der gegenüberliegenden Seite 47 bei völlig differierender Vorgeschichte auf dasselbe Haiku hinausläuft!

Es ist ein ebenso ernster und genauer wie spielerischer und luzider Umgang mit Sprache, der diesen Band auszeichnet und mich an einer Stelle an Ingeborg Bachmann erinnert: Sorgfältig verschränkt die Autorin eigenes Erleben mit Zitaten aus „Hotel California“ von den Eagles (HOTEL C., S. 11). Das scheinbar so euphorische und emphatische dreifache “open“ des Schlusses bleibt durchaus ambivalent, wenn man noch die Stimme Don Henleys im Ohr hat („You can check in any time you like –but you can never leave!“)

Faszinierend auch „ERSTER ODER DAS MEER DER RUHE“ (S. 12; letzteres bezeichnet eine bestimmte Region des Mondes). Eine Illustrierte (“Ein alter Stern“) bringt zwei Namensvettern zusammen, die das Haibun nur mit der Initiale des Nachnamens (“A.“) benennt: den Astronauten Neil und den Radfahrer (und Dopingsünder) Lance Armstrong. Wenn man so will, wieder zwei grundverschiedene Wege (der des ersten Menschen, der den Mond betrat, und der des abgestraften und seiner Siegestrophäen beraubten Supersportlers), die in ein-und-dasselbe Haiku münden, das obendrein mit beider Namen spielt:

Mündungsdelta
der einst so starke Arm
vertrocknet (S. 12)

Das Thema „Demenz“, eines der bedrohlichsten für den Einzelnen wie die Gesellschaft, begegnet des Öfteren in den Haibun. Mit einem Aufleuchten von Hoffnung am ehesten vielleicht in “MATHILDE“ (S. 25), wo das Ich die Titelfigur zwar nicht aus der Gefangenschaft in einer finalen religiösen Phrase reißen („Marschieren, in der Stunde des Todes“), diese aber im Zitat empathisch unterwandern kann, bis selbst Mathilde ihren Vers „lächelnd“ sagt.

Eindrücklich „DAS URTEIL“ (S. 28), wo das Ich des kleinen Mädchens eine verhängnisvolle Konditionierung vollzieht, indem es den Tod der Großmutter damit in Verbindung bringt, dass es ihr immer als letzte die Essensbestecke zuteilte. Niemand soll nunmehr Letzter sein und folglich sterben müssen; allein die Notwendigkeit des Essens und der dazu benötigten Bestecke etabliert die Vergänglichkeit und Sterblichkeit als Grundkonstante menschlichen Daseins.

Wird man die „RABEN“ (S. 37) eher mit dem „Raven Nevermore“ Edgar Allan Poes oder Günter Eichs freundlichem “Sabeth“ assoziieren? Ich tendiere eher zu letzterem. Was sollen das für Todes- und Unglücksvögel sein (dieser Kontext ist ja eindeutig konnotiert!), die „Knopfaugen“ haben? Die zitierte Nahtod-Erfahrung des außer-dem-Leib-seins (Blick von der Zimmerdecke) unterstreicht zwar den existenziellen Ernst der den Geiern als Aasfresser verschwisterten Raben. Dennoch waltet hier weniger der kafkaeske Schrecken als vielmehr ein surreales Schillern, das nicht einmal ganz frei von einer ironischen Note ist.

“DAS STUMME H“ (S. 63) treibt den makabren Galgenhumor auf seine bürokratische Spitze: „Silvys“ „Rente blieb aus“, und auf Nachfrage bei der zuständigen Behörde muss sie sich sagen lassen: „Sie sind gestorben“, und das alle zwei Jahre. Aber da gibt es ja das persönlich auszufüllende Formular, um sich für den Rentenbezug und mithin das Leben fristgerecht zurückzumelden. Im unentwegten Kopieren dieses Formulars entdeckt Silvy eine ganz eigene, persönliche Lesart „ewigen Lebens“. Das „stumme H“, durch Aufregung bedingt, verdankt sich nun nicht mehr dem Schrecken, sondern der gegen jegliche Bürokratie behaupteten Lebensfreude.

Die hat nicht immer das letzte Wort, kann nicht immer das letzte Wort haben. „NICHTS“ (S. 38) erinnert an Vertreibung und Deportation von 41 Kindern und ihren Erzieherinnen aus einem deutsch-israelitischen Kinderheim in der NS-Zeit und wird darüber selbst zur „Gedenktafel“, zum poetischen Mahnmal.

Von dem, worum diese Kinder aufs Brutalste gebracht wurden, vom Erwachsenwerden, spricht der Text „DREIZEHN“ auf der gegenüberliegenden S. 39. Die ganze Ambivalenz der Pubertät findet Raum in einem bestechenden Haiku:

du willst es doch auch
zwischen Puppenkleidern
der Flügel eines Schmetterlings

Zum Abschluss meiner Rezension kehre ich an den Anfang des Buches zurück, genauer gesagt: zu dem zweiten Haibun ”VERSPRECHUNGEN“, das uns in den septemberlichen „Holzmichel“ in Bad Bergzabern führt und zu Ohrenzeugen eines unschönen Dialogs von geradezu metaphysischer Tragweite macht:

Nah der Tür sitzen zwei vor leeren Krügen.
Teufel: „Es geht ihr wieder besser.“
Tod: „Abwarten.“
Wir zahlen und gehen. (S. 6)

Sicher nicht das Schlechteste: die beiden fragwürdigen Herrschaften sich selbst zu überlassen!

Rüdiger Jung

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