Ausgewählte Haiku
Übersetzungen der Haiku: eine Zusammenarbeit von Emiko Miyashita, Claudia Brefeld und Eva Moering
»Hier können Idee und Hintergrund zu diesem Projekt nachgelesen werden.
Auswahl und Kommentierung von NISHIMURA Kazuko, HIA director
陽に浮かぶ 氷河擦痕… 春立つ日
hi ni ukabu hyôga sakkon haru tatsu hi
sonnenbeschienen
die Gletscherfurchen …
der Frühling beginntロス・ブルース ROSS, Bruce (U.S.A.)
Das unmittelbare Gefühl, von dem ein Mensch glaubt, dass eine Jahreszeit gekommen ist, ist abhängig von der jeweiligen Klimazone. Es ist großartig, dass der/die Schriftsteller*in den Frühling in den von der Sonne beschienenen Gletscherfurchen findet. Die eindrucksvolle Zeit, in der der Gletscher fließt, wird ebenfalls spürbar. Obwohl wir diese Szenerie in Japan nicht beobachten können, können wir doch durch dieses Haiku die Veränderung der Natur im globalen Maßstab begreifen. Die Verwendung einfacher Worte ist ebenfalls effektvoll.
旅果てて聴く閑古鳥… 独りきり
am Ende der Reise
dem Kuckuck zuhören—
ganz alleinカンピオリ・マルコ CAMPIOLI, Marco (Italy)
Der Schriftsteller erinnert sich an seine Reise und die Leser*innen können sich so an eine vergangene Erfahrung erinnern oder mit der Fantasie spielen. Ein Kuckuck in der Ferne klingt wie Hintergrundmusik entlang der Erinnerung. Vielleicht im Wald? Die Zeit allein ist luxuriös und nicht einsam. Das geordnete Leben in der Stadt beginnt ab morgen und eine so herrlich ruhige Zeit kann verloren gehen.
風船のまだ見えてゐて泣きやまず
fûsen no mada miete ite yakiyamazu
der Ballon
noch immer zu sehen
unfähig, mit dem Schreien aufzuhören池田 松蓮 IKEDA Shoren
„noch immer zu sehen“ bedeutet – am Himmel kann man immer noch den kleinen Gummiballon sehen, der wegflog. Derjenige, der nicht aufhört zu weinen, muss das Kind sein, das den Ballon liebevoll festhielt, ihn aber versehentlich losließ. Ohne das Thema oder Einzelheiten des Vorfalls zu erklären, können wir uns eine solche Geschichte vorstellen. Es ist sicher, dass die Schriftstellerin den Ausdruck im Haiku auf ihre eigene Weise beherrscht.
聖夜待つ百葉箱のリボンかな
seiya matsu hyakuyôbako no ribon kana
eine Wetterhütte
mit Schleife wartet auf
Heiligabend三好 万記子 MIYOSHI Makiko
Wenn Weihnachten kommt, ist die ganze Stadt geschmückt. Heutzutage kann man sehen, dass nicht nur die Geschenke, sondern auch ein ganzes Gebäude mit einem Band umwickelt wird. Das Reizvolle an diesem Haiku ist die Kombination aus Band und Wetterhütte. Eine Wetterhütte wird normalerweise kaum wahrnehmbar aufgestellt, aber ein rotes oder grünes Band würde gut zu dem weißen Kästchen passen. Eine solche pfiffige Dekoration kann auf dem Spielplatz einer Mädchenoberschule zu finden sein. Es macht Spaß, die Fantasie spielen zu lassen.
軒先のだいだい供へ初参り
nokisaki no daidai sonae hatsumairi
aus der Traufe
eine Pomeranze als Opfergabe
erster Schreinbesuch久保田 悦子 KUBOTA Etsuko
Es ist voller Intimität, dass die Schriftstellerin beim ersten Besuch im Schrein eine Orange aus ihrem Garten mitgebracht hat. Vielleicht zum Schrein im Wohnviertel der Heimatstadt? Besuche des Schreins können nicht nur zu Beginn eines jeden Jahres, sondern in vielen Fällen während des Jahres erfolgen. Daidai (eine Bitterorange / Pomeranze) bedeutet auf Japanisch Nachfolge. Dieser Brauch kann von den Vorfahren an die Schriftstellerin und an Kinder und Enkel weitergegeben worden sein.
Und hier fünf weitere Haiku – ausgesucht von Emiko Miyashita
花どきの小筆の穂先やはらかし
hanadoki no kofude no hosaki yawarakashi
Kirschblüten-Saison
die Spitze
eines kleinen Pinsels ist so weich菊池 幸恵 KIKUCHI Sachie
息詰めて見る寒鯉も息詰めて
iki tsumete miru kangoi mo iki tsumete
den Atem anhalten
einen Winterkarpfen beobachten
er tut das gleiche岩田 秀夫 IWATA Hideo
馬の腹蹴りて入りゆく冬の川
uma no hara kerite iriyuku fuyu no kawa
den Pferdebauch anstoßen
wir durchwaten
den Winterfluss小上 栄女 OGAMI Shigejo
毛糸玉孫のかたちに媼は編む
keitodama mago no katachi ni baba wa amu
Ein Wollknäuel
in Form ihres Enkels
die Großmutter strickt望月 よし生 MOCHIZUKI Yoshiwo
雨の香の残る小道や花山椒
ame no ka no nokoru komichi ya hanazansho
der Geruch von Regenresten
auf dem Pfad
in der Pfefferblume内村 恭子 UCHIMURA Kyoko