Im Zeitraum August bis Oktober 2012 wurden insgesamt 300 Haiku und 18 Tanka von 76 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Oktober 2012. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.
Diese Werke wurden vor Beginn der Auswahl von Silvia Kempen anonymisiert, die auch die gesamte Koordination übernahm. Die Jury bestand aus Annette Grewe, Eve-Marie Helm und Gabriele Reinhard. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.
Alle ausgewählten Werke (37 Haiku und 2 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Werke pro Autor/in aufgenommen.
„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein Werk auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Ein Haiku, das mich besonders anspricht
Ausgesucht und kommentiert von Gabriele Reinhard:
der weltraum
meine jeans
zu eng
Dieser Dreizeiler hat für mich alles, was ein gelungenes Haiku ausmacht: Konkretheit, Haiku-Moment, Nachhall, Juxtaposition, Originalität, klare Bilder und es ist so kurz, dass man nichts mehr weglassen kann. Sie fühlen sich an die Fernsehreihe „Raumschiff Enterprise“ erinnert? Das hat für mich etwas Humorvolles! Nicht vergessen: „Haiku, der lustige Vers“. Was mich besonders berührt? Die Wahrnehmung des eigenen begrenzten Wachstums angesichts der (Un-) Endlichkeit.
Ausgesucht und kommentiert von Annette Grewe:
Evakuierung
über die Jakobsleiter
vom schlingernden Schiff
Dieses unaufdringliche Haiku berichtet im klassischen 5 – 7 – 5 Silbenschema von einem Schiffsunglück. So nüchtern und distanziert die erste Zeile mit dem Wort „Evakuierung“ daher kommt, übermittelt sie doch die Bilder einer Katastrophe: heulende Sirenen, verängstigte und orientierungslose Menschen, überforderte Helfer.
In der mittleren Zeile wird der Rettungsweg über die Jakobsleiter beschrieben. Damit und mit der folgenden Zeile wird deutlich, dass es sich um ein Schiffsunglück handelt.
Die Alliteration „schlingerndes Schiff“ in der dritten Zeile betont die heftigen Schiffsbewegungen, die es den Menschen schwer machen, sich an der einfachen Strickleiter zu halten und bis hinab in die Rettungsboote zu klettern.
Die Jakobsleiter ist in meinen Augen der Dreh- und Angelpunkt für dieses Haiku. Die Doppeldeutigkeit ermöglicht eine erweiterte Auslegung des Textes. Der biblische Jakob erblickt in einer Traumvision (Gen 28,11) eine Himmelsleiter auf der die Engel auf und ab steigen. Oben, am Ende der Leiter steht Gott selbst und verheißt ihm Land und Nachkommen. Jakob wird sich bewusst, dass Gott ihn in allen Zwiespältigkeiten und Verirrungen seines Lebens trägt und begleitet. Die Leiter verbindet Himmel und Erde und symbolisiert damit den fließenden Kontakt zwischen Gott und dem gläubigen Menschen.
Wie die Jakobsleiter Himmel und Erde verbindet, so klammert sie in diesem Haiku die erste und dritte Zeile zusammen. Damit werden die nassen Taue und Sprossen für die Schiffbrüchigen zu Symbolen der Rettung und Hoffnung.
Die Auswahl
Gefällter Baum –
in seine Rinde war einst
dein Name geritzt.
eine wollmütze im schnee
filzt vor sich hin
irgendwo friert ein kind
Urlaubsende –
ein Rest Ostsee
in der Handtasche
Herbstabend …
Auf den Schlafbäumen
dunkelt das Krächzen.
von der Kapuze
Schnee stäubt
in unser Lachen
der weltraum
meine jeans
zu eng
Keine Glocke mehr
im Turm des alten Klosters –
Kameras klicken
Befunderöffnung
das Gesicht im Fenster
ist meins
warten auf’s Christkind
drei Generationen
Mensch ärgere dich nicht
Dauerregen
der Gärtner klickt sich
von Blume zu Blume
kaffeeduft
spatzenflügel filtern
das morgenlicht
Sonntagmorgen
eine Pfote prüft
die Tiefe meines Schlafes
Herbstabend.
Im römischen Brunnen
strömt Licht.
Knapp seine Worte.
Das leere Feld vor ihr –
unendlich.
Winteranfang –
der Mond gefriert
in der Pferdetränke
Funkstille
in der Bucht flickt der Fischer
aufs Neue sein Netz
Das Kreuz des Südens –
eine Matratzenfeder
ist ausgeleiert.
Evakuierung
über die Jakobsleiter
vom schlingernden Schiff
Heute Morgen
Großmutters Schöpflöffel
voll Schnee
Skulpturengarten
im Füllhorn der Göttin
ein Spinnenetz
schon die Astern
im milden Licht
unsere Worte abwägen
brüchiger Gesang –
auf der Urne
eine Gitarre
beim erwachen
der baum im zimmer
vollmond
schlaflose Nacht…
das Bild meiner Mutter
verliert Konturen
Herbstregen –
das Blau auf der Palette
wird dunkler.
Scirocco …
jetzt schneiden sie Ockerschlamm
in Roussillon
Aus aller Welt…
Er blättert weiter
zum Börsenteil
Neuschnee –
alle Daten auf dem Grabstein
gelöscht…
Sirup Mond
er nimmt seinen Pinsel
nach einem Monat Grau
Wütende Worte
der Dampf schlägt einen kalten
Winter vor
er wirft seine Angel aus
im Spiegelbild der Bäume
verschwinden die Vögel
Auf dem Kiesweg
im Zwiegespräch
unsere Schritte
Kabel durchtrennt.
Nirgends geht mehr ein Licht an
zwischen dir und mir
Herbstlaub
unter den alten Stiefeln
kein Rascheln
Im Septembermoor –
unsere langen Schatten
streifen Grasbüschel
Warme Sommernacht –
auf der Strasse und im Haus
Verkehrsgeräusche.
Hitzewelle
die Kerze im Grablicht
geschmolzen
sprachlos beim Anblick
der donnernden Rede
des Wasserfalls
aus Blättern
zieht sich das Grün zurück
den Fluss entlang
such ich die Farben
deiner Worte
Klarer Himmel heut –
auf dem Balkon die Elster
trägt was im Schnabel.
Ist es wohl mein Hörgerät,
das ich verzweifelt suche?