Im Zeitraum Juli 2015 bis Oktober 2015 wurden insgesamt 244 Haiku und 49 Tanka von 89 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Oktober 2015. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert. Die Jury bestand aus Ruth Guggenmos-Walter, Heinz Schneemann und Frank Dietrich. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.
Alle ausgewählten Texte – 50 Haiku und 7 Tanka – werden in der Reihenfolge der erreichten Punktzahlen veröffentlicht.
„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Der nächste Einsendeschluss für die Haiku-/Tanka-Auswahl
ist der 15. Januar 2016!
Jede/r Teilnehmer/in kann bis zu fünf Texte – davon aber nur drei Haiku – einreichen.
Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung auf http://www.zugetextet.com/.
Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, aus einer Einsendung ein Haiku zu benennen, das bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite im SOMMERGRAS veröffentlicht werden soll. Für alle Einsendungen gilt: Sie dürfen noch nirgends veröffentlicht worden sein, weder in Printmedien noch in digitalen Medien.
Die Einsendungen bitte im Mail-Body (keine angehängten Dateien) an: auswahlen@deutschehaikugesellschaft.de
Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken. Das macht Spaß, und man lernt viel dazu.
Petra Klingl
Ein Haiku/Tanka, das mich besonders anspricht
Aleppo –
die Augen der Ruine
und die der KinderHorst-Oliver Buchholz
Sofort haben mich die Augen in ihren Bann gezogen. Zuerst waren es große, lebendige Augen, die in alten Gemäuern steckten und sich bewegten und schauten, wie in einem fantastischen Film. Aber natürlich sind im Haiku mit den „Ruinen“ nicht nur die unwiederbringlich verlorenen Baudenkmäler gemeint, sondern auch die zerstörten Wohnhäuser. Und die still schauenden Kinderaugen, das ist ein abgegriffenes Bild – aber deswegen nicht weniger wahr. Die Augen bleiben.
Und indirekt sind da auch die Augen des Betrachters.
Ich finde es richtig, dass die aktuellen Geschehnisse um uns herum auch in einer Haiku- und Tanka-Auswahl ihren Niederschlag finden.
Was mich an diesem Haiku am meisten fasziniert: Es ist, dass es etwas sehr Schwieriges schafft. Immer wieder überfällt mich u. a. vor dem Bildschirm ein bestimmtes Gefühl.
Dieses Gefühl, „die Wortlosigkeit“ in Worte zu fassen – hier ist es gelungen.
Kommentiert von Ruth Guggenmos-Walter
Frühschicht. Die Falten
des Kopfkissens nimmt er mit
in den TagBoris Semrow
Ein sehr plastisches Haiku. Die Falten des Kopfkissens werden zu seinen eigenen. Und während erstere schnell wieder geglättet sind, nimmt er letztere mit „in den Tag“. Ein sehr gelungenes Haiku über die Müdigkeit des frühen Aufstehens und deren Auswirkungen auf den Rest des Tages. Da hilft auch kein Kaffee. Nur eine erholsame Nachtruhe vermag dieses Schlafdefizit wettzumachen, und es ist eben jenes Kopfkissen, welches (scheinbar) für seine Falten verantwortlich ist, das ihn letztendlich auch wieder von ihnen befreien wird.
Samstagabende
allein mit dir vorm Fernseher –
eine Zeit in der
ich begann Unterhosen
in 3er-Packs zu kaufenTony Böhle
Ein Beziehungstanka, das inhaltlich und formell sehr an die von Tony Böhle erinnert – und noch dazu ein sehr gelungenes. Es ist zwar nicht per se verwerflich, einen Samstagabend vor dem Fernseher zu verbringen, aber das Wort „allein“ deutet die beginnende Isolation des lyrischen Ichs an, während „allein mit dir“ einen emotionalen Widerspruch suggeriert. Außerdem handelt es sich nicht um einen einzelnen Samstagabend, sondern um „Samstagabende“ (Plural). Dieses Verhalten ist zu einem Ritual geworden. Da das Fernsehgucken eine sehr passive Tätigkeit darstellt, die nicht gerade der Kommunikation förderlich ist, sagen diese ersten beiden Zeilen schon recht viel über die Beziehung aus.
In den letzten drei Zeilen erfahren wir die Reaktion des lyrischen Ichs auf diese zunehmend unbefriedigende Beziehungssituation: Er (oder sie) fing an, Unterhosen „in 3er-Packs zu kaufen“. Das ist zwar billiger, aber es wird offensichtlich, dass der Sprecher nicht mehr versucht, auf sein Gegenüber attraktiv zu wirken. Er verzichtet gewissermaßen auf seine erotische Ausstrahlung – eine Art erotischer Defätismus. Und darin liegt die eigentliche Stärke dieses Gedichts: Ohne das Thema Sexualität auch nur in einem Wort zu erwähnen, entsteht der beklemmende Eindruck, dass bei diesem Paar auch sexuell nicht mehr viel läuft.
Kommentiert von Frank Dietrich
Die Diskussion darüber, was ein Haiku oder gar ein gutes Haiku ist, kann zwar ermüdend sein, aber sie wird nicht abreißen. Darin spiegelt sich die Besonderheit dieser kleinen Sprachwunder. Ein Haiku als solches gibt es im strengen Sinne eigentlich gar nicht. Ein Haiku geschieht, wenn es beim Betrachter ankommt und sich in ihm entfaltet. Haiku ist so gesehen nicht der Text an sich, sondern ein Kommunikationsereignis, das durch den Text vermittelt wird. Die Überschrift zu dieser Rubrik “Ein Haiku, das mich besonders anspricht” nimmt diesen wichtigen Aspekt in sich auf.
Was nun mich persönlich besonders anspricht und was ich von einem – in meinem Verständnis – guten Haiku erwarte, ist diese Offenbarung des Besonderen im Alltäglichen, die mir einen neuen Einblick in Zusammenhänge eröffnet, die ich zuvor so nicht gesehen habe. Dabei bin ich mir sehr wohl bewusst, dass das mit mir selbst zu tun hat und mich – ein gro-ßes, aber zutreffendes Wort – verändert.
Unter diesem Aspekt möchte ich aus den Einsendungen folgendes Haiku, das mich besonders angesprochen hat, hervorheben:
Fahrt nach Salzburg
aus dem Zugfenster
Lärmschutzwände betrachtenTraude Veran
Sofort wird eine Spannung sichtbar: Salzburg ist etwas Besonderes, ist mehr als eine Reise wert, ist eine Perle unter den Städten und ein Magnet für viele Touristen. Schon beim Nennen des Ortsnamens werden Bilder, Vorstellungen und Gedanken geweckt und sofort mit entsprechenden Erinnerungen oder Erwartungen verknüpft. So wird schon die Fahrt nach Salzburg zu einem inneren Ereignis der Annäherung und Einstimmung. Ich halte nach der ersten Zeile etwas inne und füge beim Lesen einen Gedankenstrich oder ein Komma ein, denn dann stoße ich auf etwas ganz Anderes, Unerwartetes: In meinem inneren Annäherungsprozess begegne ich plötzlich beim Blick aus dem Zugfenster Lärmschutzwänden. Nicht die Festung, nicht der Dom, nicht die Berge, nicht die Salzach, kein Mozart, sondern banale, den erwartungsvollen Blick einengende Lärmschutzwände. Wie enttäuschend! Als Tourist werde ich plötzlich in Schranken verwiesen.
Macht mich das ungeduldig, vielleicht sogar ärgerlich? Es wird nicht gesagt, aber es klingt als ungesagte Möglichkeit umso deutlicher an.
Das also habe ich in meiner Annäherung zu betrachten. Mein Blick stößt nicht nur auf unerwartete Schranken. Er wird – und hier öffnet sich für mich eine weitere Ebene des Betrachtens – auf mich selbst zurückgelenkt. Ich komme in einer Erfahrungswirklichkeit an, die anders ist, als ich es mir aus meiner Erwartungsperspektive vorgestellt habe. Verharre ich in einer touristischen Selbstbeschränktheit oder bin ich bereit zu einem Perspekti-venwechsel, um Salzburg heute aus der Sicht seiner Einwohner kennen- und verstehen zu lernen?
Und schließlich: Was bei einem Kurztrip dieser Art durchaus auch unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleiben mag, wird bei längeren Reisen oder gar der Lebensreise als ganzer umso dringlicher.
Es geht immer wieder um die Wahrnehmung, wie unsere Erwartungen und unsere Erfahrungen zueinander passen. Und es geht damit auch um die Frage, wie wir die unvermeidlichen Spannungen zwischen beiden betrachten. Das letzte Wort ist für mich wie eine Einladung dazu, dass hier Haiku geschieht.
Kommentiert von Heinz Schneemann
Die Auswahl
15 Punkte konnten erreicht werden
Als es fiel
das allerletzte Blatt
sah niemand zuMatthias Stark
13 Punkte
Caféhausgeräusche
von den Schultern fällt
die Stille des SchneesElisabeth Weber-Strobel
13 Punkte
Der Schrei der Krähe
am Ende der Nacht –
TraumverlorenRoland Strauß
13 Punkte
Herbststurm
ich öffne die Kapsel
einer KlatschmohnblüteDiana Michel-Erne
13 Punkte
Dort beim Gartentor
wo wir Abschied nahmen
lippenroter MohnHorst-Oliver Buchholz
13 Punkte
Herbstfärbung
wie bunt
all’ unsere PläneChristof Blumentrath
13 Punkte
verdrängte fragen
mit mir ergraut
der abendhimmelBirgit Schaldach-Helmlechner
13 Punkte
laue Sommernacht
nur der Mond und ich –
in einem Hemd von dirElisabeth Weber-Strobel
13 Punkte
Wetterschmerz
Großvater klopft dreimal
ans BarometerFriedrich Winzer
12 Punkte
der Koto lauschen
meine Augen auf der Suche
nach der MelodieBrigitte ten Brink
12 Punkte
Mondlicht –
unsere ungestellten Fragen
nach Hause tragenKlemens Antusch
12 Punkte
Unbekannte Blume
ich nehme
ihren Duft mitChrista Beau
12 Punkte
Vorhaltungen
die Lust an einem alten Stich
zu kratzenGabi Hartmann
12 Punkte
Wintersonne
wohin das Licht, das eben
mich noch blendeteGerd Börner
11 Punkte
riesiges Loch
ohne Füllung –
KohlentagebauJoachim Thiede
11 Punkte
flüchtiger Flirt –
wie Sommerregen
auf heißem AsphaltBrigitte ten Brink
11 Punkte
Frühschicht.
Die Falten des Kopfkissens
nimmt er mit in den TagBoris Semrow
11 Punkte
die letzten Rosen –
sie schwingt den Schal
über die SchulterGisela Farenholtz
11 Punkte
Blütenblätter
im Sommerwind …
SchmetterlingeFriedrich Winzer
11 Punkte
Blutmond
das lange Warten
auf ein GedichtSimone K. Busch
11 Punkte
bunte Fischkutter –
in diesem Herbst ankern wir
näher am UferEva Limbach
11 Punkte
Auf Nebelschwingen
heftet sich Dunkelheit
an meine Schultern.Beate Conrad
11 Punkte
Nachtwache
das leise Klingeln
ihres TeelöffelsEleonor Nickolay
11 Punkte
Vollmond
in der klaren See
laichen die FischeZorka Cordasevic
11 Punkte
abgetrieben …
vom Sturm geschüttelt
as leere NestHeike Gericke
10 Punkte
Melanose –
aus den Kartoffeln
schält sie die AugenHeike Gericke
10 Punkte
fangfrisch
glitzert der Morgen
im Netz der SpinneAnke Holtz
10 Punkte
auf der Brücke
beidseitig ruft
der BachAngelika Holweger
10 Punkte
Am San’ya-Kanal
wieder die Trauerweiden
wie Buson sie sah.Horst Ludwig
10 Punkte
stürmische See –
verkrieche mich in die Wärme
einer MilchspeiseRamona Linke
10 Punkte
Vernissage
die Fremdheit
des KleidesMartina Heinisch
10 Punkte
Die Winde treiben
die heimatlosen Tränen
über die Erde.Hildegard Pranckel
9 Punkte
Perseidennacht
unter zahllosen Sternen
Wünsche verschweigenMatthias Stark
9 Punkte
kindergeburtstag
im wind
treibt ein birkenblattHelga Stania
9 Punkte
am Waldrand
in der Herbstsonne
fliegt mein HaikuNorbert Kraas
9 Punkte
kosmische Rose –
zwischen den Schläfen
das Dröhnen seiner WorteRamona Linke
9 Punkte
Altstadt
vom Münster tönt der Sonntag
durch die GassenBrigitte ten Brink
9 Punkte
Gewitterdunst
plötzlich allein
im GipfelabstiegTaiki Haijin
9 Punkte
noch gebrochen
sein Deutsch, doch schon
im Singsang des DialektsKlaus-Dieter Wirth
8 Punkte
Besuch bei Mutter
erst zum Abschied
erkennt sie michBoris Semrow
8 Punkte
Kormorane
auf dem Felsen
lüften ihr PriestergewandMargareta Hihn
8 Punkte
Aleppo –
die Augen der Ruinen
und die der KinderHorst-Oliver Buchholz
8 Punkte
allein in überfüllter bahn
die fahrgäste
worldwide unterwegsPeter Wißmann
8 Punkte
Ebene im Wind
Eine Träne
wendet sich abClaudius Gottstein
8 Punkte
Herbstwald.
Sein Fuß stockt
vor den BucheckernGisela Farenholtz
8 Punkte
einschulung
an diesem tag tschilpen
die spatzen lauterHelga Stania
8 Punkte
Hochzeitstag
seine Hand streichelt
den HundEleonore Nickolay
8 Punkte
Septemberwind
En passant deine roten
Apfelbäckchen streichelnRoland Strauß
8 Punkte
die vollkommen
geformten Melonen
im Obstregal, ich betrachte sie
mit MissgunstTony Böhle
13 Punkte
Samstagabende
allein mit dir vorm Fernseher –
eine Zeit in der
ich begann Unterhosen
in 3er-Packs zu kaufenTony Böhle
11 Punkte
Im Nieselregen
auf der Rinde
nun deutlich die Flechtensie zieht die Kapuze
noch tiefer herunterTaiki Haijin
11 Punkte
Grabstein an Grabstein
die Ewigkeit gekrümmt
von der Schwerkraft
zur Abendzeit folge ich
meinem Schatten heimDietmar Tauchner
11 Punkte
Wohnungsauflösung
in Kisten verpackt
ErinnerungenAm Haken die Schürze
mit blassen BlümchenMargareta Hihn
10 Punkte
Kriegszittern –
die einen überholen
die anderen,
dort wo der Baum
den Weg verbiegtGerd Börner
9 Punkte
ich – hitzeträge
und schwerkraftgebunden auf
der Gartenliege
über mir unendlich leicht
ein AmselliedBrigitte ten Brink
8 Punkte