Es wurden insgesamt 242 Haiku von 92 Autoren und 48 Tanka von 25 Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Oktober 2019. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert. Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte vorzugsweise alle Haiku/Tanka gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite selbst eintragen:

 deutschehaikugesellschaft.de/haiku-und-tanka-die-auswahl/

 Der nächste Einsendeschluss für die Haiku/Tanka-Auswahl ist der 15. Januar 2020.

Jeder Teilnehmer kann bis zu fünf Texte – davon drei Haiku – einreichen. Mit der Einsendung gibt der Autor das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung

in der Agenda 2021 der DHG

sowie auf http://www.zugetextet.com/

und der Website der Haiku International Association (HIA)

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Claudia Brefeld, Hildegard Dohrendorf und Martin Thomas. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein. Alle ausgewählten Texte – 39 Haiku – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden max. zwei Haiku pro Autor aufgenommen. „Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.

Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken.

Eleonore Nickolay

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

nach dem Abbruch
der Hausschlüssel
mein Geheimnis

Anke Holtz

Dieses Haiku hat mich mit seiner schlichten Intensität direkt in seinen Bann gezogen. Das Wort Geheimnis ist gerade in der Kindheit fantasieumwoben, und so steht es wohl auch hier im Haiku bewusst, wenn auch im ersten Moment fast etwas beiläufig wirkend, in der letzten Zeile, scheint es doch gerade dort eine besondere Sogwirkung zu entfalten, zumal das Haiku sich inhaltlich in Zeile eins und zwei stark zurücknimmt (shibumi) … ja, fast schon ein wenig spröde wirkt. Aber genau das eröffnet mit einer gewissen Wucht einen Freiraum, und sofort befinde ich mich in der Geschichte eines alten Hauses, die ich – ich kann gar nicht anders – mit meiner eigenen Kindheit verwebe. Gerüche, Stimmungen, wechselndes Licht … all das wird evoziert und scheint sofort wieder ganz nah: Der Schlüssel wird zum Hausschlüssel meiner Kindheitserinnerungen.

Somit ist er immer ein Türöffner zur Vergangenheit und jedem, der das Haiku liest, wird er einen anderen Raum – einen eigenen Erinnerungsraum – aufschließen … und ihn mit all seinen Geheimnissen bewahren.

Der Begriff Hausschlüssel besitzt im Haiku gleich mehrere Funktionen: Als Hauptakteur steht er zentriert im Haiku und wird so zum Bindeglied zwischen dem abgerissenen Haus und den Erinnerungen, und gleichzeitig scheint er etwas Kostbares zu sein, ein Bewahrer der Vergangenheit, vielleicht auch einiger Geheimnisse, sodass seine Existenz geschützt werden muss – und selbst zum Geheimnis wird.

Es ist die schlichte Kraft, mit der das Haiku das Unsagbare zwischen den Zeilen sagt und ein Berührtwerden (aware) durch den Text entstehen lässt.

Bashō soll einmal gefragt haben: „Ist irgendwas Gutes daran, wenn alles ausgesprochen wird?“

Ausgesucht und kommentiert von Claudia Brefeld

Pfandautomat –
der leere Blick der
Dame vor mir

Taiki Haijin

Fragt man mich nach der Ursache, warum es dem Haiku hierzulande, aber auch in seiner Heimat Japan, an Nachwuchs mangelt, so kreisen meine Gedanken stets um einen Begriff: Lebenswirklichkeit. Meines Erachtens ist dem Haiku, vor allem in seiner traditionellen Ausrichtung, der Bezug zur Realität abhandengekommen. Was vor mehr als 400 Jahren für Bashō (1644–1694) und seine Zeitgenossen zum Alltag gehörte und demnach die Grundlage der Dichtung bildete, unterscheidet sich wesentlich vom Erfahrungshorizont heutiger Menschen. So muss sich das Haiku insbesondere auf der thematischen Ebene erneuern, will es eine Zukunft haben.

Erfreulicherweise ist die deutsche Haiku-Landschaft bei Weitem nicht so konservativ wie die japanische. Dies liegt zum einen an der unterschiedlichen historischen Genese der Gattung und zum anderen an der insgesamt recht freien Form, schließlich wurde beispielsweise die Diskussion um ein festes Silbenschema längst ad acta gelegt. Darüber hinaus sind hierarchische Organisationsstrukturen, welche in Japan in der Vergangenheit immer wieder dafür gesorgt haben, dass progressive Strömungen unterdrückt wurden, so gut wie nicht vorhanden. Fruchtbarer Boden also, um eine Reform zu starten.

Dass diese Reform gelingen kann, haben zahlreiche eingesandte Beiträge zur aktuellen Haiku-Auswahl von SOMMERGRAS gezeigt, was mich persönlich sehr gefreut hat. Mein Favorit war dabei das oben stehende Gedicht. Im Gegensatz zu anderen Texten, die sich einer althergebrachten Naturmotivik bedienen, welche häufig dazu führt, dass sich der Leser fragt, ob er so etwas Ähnliches nicht schon einmal irgendwo gelesen hat, kann ich mit Sicherheit behaupten, dass es sich hierbei um das erste Haiku mit Fokus auf einen Pfandautomaten handelt, das ich bewusst wahrgenommen habe. Das Gedicht wahrt für mich dadurch jedoch nicht nur seine Originalität – ein wichtiger Punkt, wenn es um die Bezeichnung als gelungenes Werk geht –, sondern ist aufgrund dieser thematischen Bezugnahme gleichzeitig auch in meiner realen Lebenswirklichkeit verortet und spricht mich daher direkt an. So stehe ich während einer gewöhnlichen Arbeitswoche wohl häufiger vor einem Pfandautomaten, als dass ich einen ausgiebigen Waldspaziergang unternehmen oder Wildgänsen beim Fliegen zusehen würde.

Doch nicht nur das, das vorliegende Haiku präsentiert sich auch noch auf zahlreichen anderen Ebenen als ansprechendes Gedicht. Neben der konkreten Situationsbeschreibung, welche durch die erste Zeile in prägnanter Form gegeben wird, war ich besonders vom großen Interpretationsfreiraum fasziniert. Unweigerlich fragt man sich, warum der Blick der Dame als „leer“ beschrieben wird? Ist die Ursache hierfür in der tristen Handlung des Flascheneinwurfs zu sehen? Liegt es an der vor ihr stehenden Schlange und der damit verbundenen Wartezeit? Ist sie mit ihren Gedanken woanders, da etwas vorgefallen ist? Oder handelt es sich womöglich um eine ältere Frau, die auf der Straße Flaschen gesammelt hat und daher gewiss noch ganz andere Sorgen hat, von denen Autor und Leser nur eine vage Ahnung haben? Hinzu kommt die semantische Überschneidung, die zwischen den leeren Flaschen, die eingeworfen werden, und dem leeren Blick der Frau besteht. Je häufiger ich das Gedicht lese, desto mehr überträgt sich dieses Gefühl der Leere und Beklommenheit auch auf mich, weswegen ich dieses Haiku als besonders erwähnenswert betrachte.

Ein weiteres Beispiel für die inhaltliche Erneuerung des Haiku, welches zudem zeigt, dass die Natur auch bei moderner Thematik nicht außen vor bleiben muss, ist folgendes Gedicht:

Regentag
auf dem Bildschirm grinst erneut
der Endgegner

Sebastian Salie

Wer noch nie ein Video- oder Computerspiel gespielt hat, wird zu diesem Text wohl nur schlecht einen Zugang finden. Für all jene, denen diese Form der Unterhaltung nicht fremd ist, offenbart sich jedoch ein sehr interessantes Spannungsfeld.

Stunde um Stunde hat man investiert, um am Ende vor dem letzten Gegner des Spiels zu stehen. Dieser erweist sich in den meisten Fällen jedoch als besonders schwer zu besiegen. So auch in der Erfahrung des Autors, welcher in der geschilderten Situation – angezeigt durch das Adjektiv erneut – nicht den ersten Versuch unternimmt, um es mit ihm aufzunehmen. Welch glückliche Fügung, dass sich das Ganze an einem verregneten Tag zuträgt! Da macht es auch nichts aus, wenn man es immer und immer wieder probiert und somit keinen Fuß vor die Tür setzt. Der verregnete Tag draußen und das Spielen am Computer drinnen ergänzen sich auf diese Weise ausgesprochen gut.

Natürlich lässt sich darüber streiten, ob die genannten Gedichte wirklich Haiku sind oder nicht vielleicht doch eher als Senryu bezeichnet werden sollten. Macht man den Unterschied zwischen beiden Gattungen verkürzt am Vorhandensein eines Jahreszeitenwortes aus, so lässt sich argumentieren, dass es im Deutschen zunächst einmal keine strikt vorgeschriebenen Jahreszeitenwörter gibt, die im japanischen Haiku häufig die Kreativität des Autors bremsen und mittlerweile ohnehin zu rein floskelhaften Worthülsen verkommen sind, die niemand ohne Jahreszeitenwörterbuch versteht. Zum anderen könnte man Pfandautomaten und Computerspiele auch einfach als Teil der menschlichen Natur betrachten, welche die Lebenswirklichkeit in einer modernen Dienstleistungsgesellschaft mindestens genauso gut beschreiben wie Tiere und Pflanzen.

Dementsprechend würde ich auch das dritte Haiku, das mich bei der aktuellen Auswahl neben einigen weiteren Gedichten besonders angesprochen hat, ohne Zögern als solches bezeichnen. Schließlich findet sich auch in diesem Text die häufig geforderte Konkretheit des Augenblicks, gepaart mit einer überraschenden Wende, verpackt in wenigen Worten:

Candle-Light-Dinner
wie zärtlich er die Worte
in sein Smartphone tippt

Eva Limbach

Ausgesucht und kommentiert von Martin Thomas

 

Die Auswahl

im Gartenlokal
ich setze mich
auf die Sonne

Christa Beau

Rentnerrunde
sie helfen sich
beim Wörtersuchen

Martin Berner

Mexiko-Käfer
wir klettern in den Duft
der Siebziger

Christof Blumentrath

Rast und Routenplanung.
Der Käfer auf der Karte
eilt querfeldein.

Reinhard Dellbrügge

Das Spinnennetz
zwischen Fahrrad und Mauer – über Nacht
wieder da.

Reinhard Dellbrügge

Halloween
dem Kürbis
eine Seele geben

Frank Dietrich

ein weißes Blatt –
die rauen Spuren
des Radiergummis …

Ruth Guggenmos-Walter

immer leerer –
im Zug sitzt die Nacht …

Ruth Guggenmos-Walter

Pfandautomat –
der leere Blick der
Dame vor mir

Taiki Haijin

Backfischausflug –
die alten Sonnenblumen
blicken zu Boden

Taiki Haijin

Ihre Rundung
liegt schmeichelnd in meiner Hand –
erste Kastanie

Erika Hannig

letzte Kornblume –
geblieben ihr Traum
vom wogenden Meer

Claus Hansson

Herbstanfang
wir tunken unser Brot
in Bratenfett

Gabriele Hartmann

Nach dem Abbruch
der Hausschlüssel
mein Geheimnis

Anke Holtz

Herbstsee
vergessen in der Tiefe
des Rucksacks die Badesachen

Anke Holtz

Septembermorgen –
wir lauschen dem Storchenpaar,
das nicht mehr klappert.

Manfred Karlinger

Start in den Urlaub
unser Navi
übernimmt das Gespräch

Elisabeth Kleineheismann

In der Kirche
auch die Christusfigur
verstaubt

Petra Klingl

Kräutergarten
auf Reisen durch
seine Düfte

Gérard Krebs

Abendläuten
das Elternhaus
abschließen

Eva Limbach

Candle-Light-Dinner
wie zärtlich er die Worte
in sein Smartphone tippt

Eva Limbach

im Stau
das Autobahnkreuz überqueren
Wolkenschiffe

Ramona Linke

Freundinnen Selfie
verschmitzt lächeln
zwei Faltengesichter

Ingrid Meinerts

Kündigung
über den Steilhang fällt
mein Schatten

Ruth Karoline Mieger

beim Vortrag
übers Sterben vertieft
in meine Handlinien

Ruth Karoline Mieger

Umzug
im Seidenpapier
die gekittete Vase

Eleonore Nickolay

Sterbehospiz
sie diktiert ihm
ihre Passwörter

Eleonore Nickolay

Der neue Rucksack
Das alte Gepäck plötzlich
Schwerer geworden

Jonathan Perry

prüfungstag
das kind hustet
und hustet

Sonja Raab

Wohnzimmer
der alte Sessel
steht immer im Weg

Sebastian Salie

Regentag
auf dem Bildschirm grinst erneut
der Endgegner

Sebastian Salie

Oktobersonne
reite im Blätterregen
aus dem Alltag

Helga Schulz Blank

Geburtstagsmorgen
Spuren von Krähenfüßen
nicht nur im Schnee

Brigitte ten Brink

Noch vom letzten Jahr
dies Schild am Straßenrand
‚Neue Ernte‘

Angela Hilde Timm

Deinem Schreibtisch
der jetzt der meine ist
missfällt das Unerledigte

Erika Uhlmann

Altenheim
im Nebenzimmer
Nabucco

Friedrich Winzer

Fair Trade
für einmal Straße kehren
Omas Pflaumenmus

Friedrich Winzer

Windstille –
in der Hängematte
schwankende Pinien

Klaus-Dieter Wirth

unerwartete
Erbschaft – Großvaters
trauernder Hund

Klaus-Dieter Wirth

 

Sonderbeitrag von René Possél

René Possél hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das ihn besonders anspricht.

repariere den Wachsengel
mit der Wärme
meiner Hände

Bernadette Duncan

Die Haiku-Idee ist einfach und naheliegend: eine Engelfigur aus Wachs, die „ich“ allein mit meiner Handwärme bearbeiten, „reparieren“ kann. Aus dieser Situation gewinnt das Haiku einen bestimmten Hall-Raum.

Engel haben in der säkularen Welt zurzeit eine erstaunliche Konjunktur. Mit dem Rückgang des traditionellen Gottesglaubens bekommen interessanterweise die „Boten der Transzendenz, des Höheren“ eine größere Bedeutung. Viele verbinden dabei mit dem Wort „Engel“ esoterisches Gedankengut …

Entscheidend für die Assoziationen ist hier der „Wachsengel“ und dessen „per se“ Empfindlichkeit. Wachs ist ein weiches Material, das durch Stöße oder Hinfallen leicht beschädigt werden kann. Das scheint bei diesem konkreten Wachsengel der Fall zu sein. Wenn man die Bedeutung von „Engel“ mit der Verletzbarkeit der Wachsengel verbindet, ergibt sich für manche ein reizvoller esoterischer Gedanke: Die Boten der Transzendenz, die uns geschickt sind, können leicht verletzt oder zerstört werden.

Der dritte (positive) Gedanke ergibt sich ebenfalls aus dem Material: „Ich“ kann mit meinen menschlichen Möglichkeiten = „der Wärme meiner Hände“ den „verletzten Engel“ (die Botschaft) wieder in Ordnung bringen, „reparieren“.

Nach so viel Be-Deutung zuletzt ein paar nüchterne handwerkliche Hinweise.

Mir scheint der Aufbau verbesserungswürdig zu sein – im Sinne einer klareren Haiku-Struktur. Die erste Zeile umfasst hier gleich acht Silben und beginnt (unter Weglassung des Personalpronomens) mit der ersten Person. Zudem fällt sie gewissermaßen „mit der Tür ins Haus“. Da die Pointe vom Wort „reparieren“ ausgeht, würde ich dies an das Ende setzen und vorher langsam mit den Bildern beginnen: Erst der Wachsengel, dann die Wärme der Hände, zuletzt das Wort „reparieren“. Von daher schlage ich (nebst Besprechung) folgende Version vor:

der Wachsengel
die Wärme meiner Hände
repariert ihn

 

Tanka-Auswahl der HTA

Silvia Kempen und Peter Rudolf haben sechs Tanka ausgewählt.

„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto werden Texte vorgestellt und kommentiert.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

nach all den Jahren
eine Nachricht
von dir
die Rückkehr
der wilden Schwäne

Frank Dietrich

Warum ist hier jemand verschwunden, weggegangen? Das wird nicht gesagt, aber die Person, die jetzt eine Nachricht bekommt, hat wohl einiges an Leid erlebt, gewartet, gehofft. War es zur Zeit des Frühlings, als die wilden Schwäne zurückkehrten? Dann kamen die Erinnerungen wohl jedes Jahr mit den Schwänen zurück. Und somit wieder Leid und Hoffnung.

Im Märchen „Die wilden Schwäne“ von Hans Christian Andersen aus dem Jahr 1838 sehe ich eine Analogie zu diesem Tanka. Den Inhalt möchte ich hier in Kurzform wiedergeben:

In einem Königreich lebt ein König mit seiner Tochter Elisa und seinen elf Söhnen. Eines Tages beschließt er, wieder zu heiraten. Die Stiefmutter verwandelt die elf Prinzen in Schwäne. Elisa kann dank ihres reinen Herzens dem Zauber widerstehen. Sie muss aber fliehen.

Von einer guten Fee erfährt sie, wie sie die Brüder wieder zurückverwandeln kann: Sie soll auf Friedhöfen Brennnesseln sammeln und daraus Hemden für ihre Brüder weben. Sie darf kein Wort reden, bis die Aufgabe erfüllt ist; sonst würden ihre Brüder sterben.

Eines Tages begegnet ihr bei der Arbeit ein fremder König, der sich in sie verliebt und sie mit in sein Schloss nimmt, wo sie ihre Arbeit fortsetzt. Der Erzbischof hält sie für eine Hexe, und sie wird zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt.

Bis zuletzt webt sie an den Hemden. Auf dem Scheiterhaufen kommen die Brüder als Schwäne angeflogen. Sie wirft ihnen die Hemden über, und sie verwandeln sich wieder in Menschen. Nur der jüngste Bruder behält einen Schwanenflügel, weil sein Hemd noch nicht fertig war. Jetzt konnte Elisa wieder sprechen und alles erklären. Der König heiratet sie.

Letztendlich gehen das Märchen und wohl auch das Tanka gut aus. Der Anfang ist gemacht, es ist eine Nachricht gekommen – die Ungewissheit mit dem daraus resultierendem Leid, dem Warten und Hoffen ist vorbei. Es werden sicher „Narben“ bleiben. Im Märchen wird dies durch den Schwanenflügel des jüngsten Bruders versinnbildlicht. Vielleicht werden Vorwürfe gemacht, es wird geredet, es werden Fragen gestellt, die beantwortet sein wollen und hoffentlich kann verziehen und aufeinander zugegangen werden. Dann können die „Narben“ schrumpfen, kleiner werden.

Ausgesucht und kommentiert von Silvia Kempen

bunte Farben
streicht mein Pinsel
je nach Lust und Laune
das Spiel beginnt
mein Blatt fliegt auf – wohin

Ute Kassebaum

Mit einfachen Worten, angenehm bescheiden, beschreibt die Autorin etwas ganz Alltägliches. Beim ersten Wort wird klar, welche Jahreszeit mit diesem Text auftritt. Mit dem zweiten Wort ist die erste Zeile schon zu Ende, der Herbst steht fertig da. Dem lässt die Autorin in der zweiten Zeile ein lyrisches Ich, einen Maler, gegenübertreten. Der geht dem Malen in der nächsten Zeile „je nach Lust und Laune“ nach. Mit „das Spiel beginnt“ vollzieht der Text eine Wendung, er öffnet sich, die Autorin sucht nach Mitspielern für das lyrische Ich. Und wer erscheint als Mitspieler?

Ob der Maler vielleicht gerade das Wasserglas mit der einen Hand festhält und mit der anderen den Pinsel auswäscht? – Gleich fährt der Wind, der zum Herbst gehört wie die „Farben“, „bunt“ oder ein „Blatt“, daher in einem Stoß vielleicht nur, aber immerhin heftig genug, um das Blatt Papier zu entführen. Damit ist der Höhepunkt doppelt erreicht: Der Herbstwind tritt auf, ohne dass er genannt wird, und er nimmt statt der üblichen Blätter ein Blatt mit, das ihm nicht gehört. Soweit spricht das Tanka stimmungsmäßig an.

Ohne die explizite Frage „wohin“ wäre der Text offen geblieben. Dem Leser, der sich auf das lyrische Ich einlässt, hätten sich Fragen gestellt, die von der einen Frage „wohin“ zur Seite geschoben wurden. Zum Beispiel: Mag ich den Herbst, wie er gerade ist? Kann ich den Wind in diesem speziellen Moment als herbstlichen Mitspieler akzeptieren? Wünschte ich, ich könnte ihn abstellen für eine gewisse Zeit? Verwünsche ich den Wind? – Wie viele weitere Fortsetzungen lägen da drin! Zu Hause könnte erzählt werden: „Heute habe ich ein wahres Meisterwerk gemalt – leider hat es der Wind mitgenommen!“

Was aber macht das „wohin“ bei diesem Text, ohne Fragezeichen? – Ob die Autorin ein Fragezeichen gesetzt hatte, das unterwegs bis ins SOMMERGRAS verloren ging? – Dem wird nicht so sein. Aber auch ohne das Fragezeichen kann dieses letzte Wort die gewollte Wendung des Tanka ins Intellektuelle nicht verbergen. Es stört unvermittelt die entstandene Herbststimmung und beendet sie. Denn nun sind Antworten verlangt.

Damit ist aber nicht gesagt, dass das „wohin“ das Tanka stört. Vielmehr darf man annehmen, dass die Autorin diese eine Frage für ihren Text bevorzugt, da sie den Fokus auf sie legt: Wohin trägt der Wind das Blatt? – Da gäbe es vermutlich auch wieder viele Möglichkeiten, auf diese einladende Frage Antworten zu geben. Beispielsweise bis zum Kennenlernen eines hübschen unbekannten Menschen, der gerade das Blatt auffängt oder es vom Boden aufnimmt, um es zurückzubringen.

Ausgesucht und kommentiert von Peter Rudolf

 

Die Auswahl

nach all den Jahren
eine Nachricht
von dir
die Rückkehr
der wilden Schwäne.

Frank Dietrich

um die domkuppel
fledermäuse
aus heiligen mauern
der staub
unberührt …

Ruth Guggenmos-Walter

bunte Farben
streicht mein Pinsel
je nach Lust und Laune
das Spiel beginnt
mein Blatt fliegt auf – wohin

Ute Kassebaum

die Kellnerin
sich mit einem Lächeln nur
bedankend
und mein Springkrautknospenherz
blüht auf

Jonathan Perry

gleichgültig sind mir
die Geschicke der Menschheit
geworden –
höre ich die Amsel singen am Abend
tanzt mein Herz voll Freude

Jonathan Perry

vor seinem Garten
rankt roter wilder Wein
schmückt die Tanne
ihm schnürt es den Hals zu
die erste Weihnacht allein

Helga Schulz Blank

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