Haiku-und Tanka-Auswahl Dezember 2024

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Es wurden insgesamt 250 Haiku von 92 Autoren/Autorinnen und 59 Tanka von 22 Autoren/Autorinnen für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Oktober 2024. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert.

Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, inklusive die Foren auf HALLO HAIKU, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte keine Simultan-Einsendungen!

Bitte alle Haiku/Tanka unbedingt gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite HALLO HAIKU selbst eintragen: https://haiku.de/haiku-und-tanka-auswahl-einreichen/

Ansonsten per Mail an: auswahlen@sommergras.de

Der nächste Einsendeschluss für die Haiku-/Tanka-Auswahl ist der 15. Januar 2025.

Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.

Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der DHG-Haiku-Agenda, auf http://www.zugetextet.com sowie für eine mögliche Vorstellung auf der Website der Haiku International Association.

Die Wertung der aktuellen Auswahl HTA wurde koordiniert von Eleonore Nickolay.

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Claus Hansson, Birgit Heid und Angela Hilde Timm. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Texte – 32 Haiku von 28 Autoren – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden maximal zwei Haiku pro Autor aufgenommen.

„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.

Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken.

Kontakt: eleonore.nickolay@dhg-vorstand.de und
peter.rudolf@dhg-vorstand.de

Eleonore Nickolay

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

zur versöhnung
der blumenstrauß duftet
nach diesel

Alexander Groth

Mit diesem Haiku, das so unscheinbar und einfach daherkommt, hat der Dichter/die Dichterin mich sofort gefangen genommen. Das Haiku in der für mich ansprechenden Zeilenform kurz-lang-kurz berichtet von einer alltäglichen Geste, die wohl viele kennen und nachvollziehen können. Ein vorausgegangener Streit (ich unterstelle einmal zwischen Mann und Frau) soll mit einem Blumenstrauß ausgesöhnt werden. So weit, so gut. Aber in den Blumenduft mischt sich eine fremde Nuance: Diesel!

Jetzt ist meine Spürnase geweckt. Diesel! Wurde der Blumenstrauß an einer Tankstelle zu später Stunde bewusst gesucht und gekauft, da weit und breit kein Blumenladen mehr offen hatte? Oder wurde der Blumenstrauß aus dem Eingangsbereich des Tankshops beiläufig mitgenommen, weil er das schlechte Gewissen anregte? Im ersten Fall unterstelle ich dem Versöhner redliche Absichten, im zweiten melden sich bei mir schon leichte Zweifel an.

Für die Empfängerin des Bouquets wird die Freude am Blumenduft auf jeden Fall durch den Diesel arg gemindert. Die gutgemeinte Geste erhält einen schweren Beigeruch. „Bin ich ihm nicht mehr wert als nur ein Blumenstrauß von der Tankstelle?“

Noch tiefer gedacht erscheint mir im Diesel sogar ein versteckter Hinweis auf eine mögliche Ursache des Streits liegen zu können. Ist der Versöhner ein passionierter Autobastler mit wenig Zeit für die Partnerschaft? Oder – und nun wird es pikant – steckt gar eine andere Frau dahinter? Steht der Ausdruck Diesel doch manchmal synonym für Parfum!

Wie er es auch drehen mag, aus dieser Nummer wird der Versöhner schwer herauskommen. Ich wünsche den beiden, dass die Versöhnung dennoch klappt und von dem Dichter/der Dichterin gerne mehr dieser feinen und hintersinnigen Haiku.

Ausgesucht und kommentiert von Claus Hansson.

 

Haushaltauflösung
die zum Abschied klirrenden
Kristallgläser

Ivan Georgiev

Wie schwer ist eine Haushaltsauflösung zu bewältigen! Neben der endlosen Arbeit und den Fragen, wer sich um welche einst geliebten Gegenstände kümmern sollte, neben dem Schmutz, der sich in den lange bewohnten Zimmern angesammelt hat und neben dem vielfachen, ja geradezu zersplitterten Abschiednehmen von all diesen Dingen, bleibt für die Trauer um die schwer kranke oder verstorbene Person kaum Zeit.

Da klirren die eng beieinanderstehenden Kristallgläser, als sie nun aus der Vitrine genommen werden. Gemeinsame Feste und gesellige Treffen beschwören sie noch einmal herauf und gemahnen die Trauernden an die schönen Seiten des Lebens. An das gemeinsame Lachen, die Witze und Alltags-Anekdoten, die zunehmende Gelöstheit und den geteilten Schwips. Auch die Betagten und Verstorbenen waren einst jung und fröhlich! Ich stelle mir ein unvermitteltes Lächeln der Angehörigen vor, das das Klirren und die damit verbundenen Erinnerungen auslöst. Dienten und dienen gesellige Begegnungen nicht nur der Unterhaltung und dem Austausch, sondern auch der Zugehörigkeit und Verbindung untereinander. Generationenübergreifend. Ein großartiges Haiku!

Ausgesucht und kommentiert von Birgit Heid

 

leere Schlangenhaut
die Nummer die sie mir gab
erwies sich als falsch

Frank Dietrich

Ein Haiku ganz nach meiner Vorliebe! Zwei Bilder, die erst einmal Verblüffung hervorrufen, zumal man einer leeren Schlangenhaut nicht häufig begegnet. Noch dazu findet nicht jeder ein solches Fundstück ansprechend genug, um sich näher damit zu beschäftigen. Doch ästhetisch ist diese tierische Hinterlassenschaft allemal. Eine verlassene Schlangenhaut lässt mich zunächst an Weiterentwicklung denken. Das Reptil hat eine Stufe des Wachstums hinter sich gelassen und ist in seiner neuen Haut weitergekrochen.

Das Bild lässt sich selbstredend auch auf den Menschen übertragen. Schlangen galten in der Antike als Hüterin der Unterwelt. Die Häutung stand für Wiedergeburt und Unsterblichkeit. In den frühgeschichtlichen und antiken Naturreligionen sah man bei der Schlange einen Zusammenhang zur mystischen Weiblichkeit. Aber auch Gift, Tod und Medizin symbolisiert das Reptil. Und das Sprichwort „Aus der Haut fahren“ lässt ebenfalls an Schlangen denken. Zuvor muss allerdings ein besonders auf­re­gendes Ereignis stattgefunden haben.

Nun findet sich im Haiku die falsche Nummer. Wie in einem Bilderbuch ploppt eine ganze Reihe von Zusammenhängen auf.

Zum einen die Haut, die bei der Schlage eine unter mehreren ist, also eine Nummer hat, auch wenn man sie nicht kennt. Gibt womöglich auch die genannte Frau öfter unkorrekte Telefonnummern aus? Auch die Falschheit, die man generell der Schlange nachsagt, kommt mir als Assoziation in den Sinn. Andererseits hat sich die Unbekannte aus der sich anbahnenden Bekanntschaft herausgewunden. Auch die Weiterentwicklung ist ein möglicher Aspekt, beispielsweise die Bewältigungsstrategie, vor der der Mensch nun steht, weil er einer Lügnerin aufgesessen ist. Besser gesagt hat diese Person die Bewältigung bereits begonnen oder hinter sich gebracht, weil bei „erwies“ das Präteritum zur Anwendung kam. Zieht der Mensch womöglich die Erkenntnis daraus, dass er selbst einen Fehler begangen hat? Dass sich die Frau gewunden hat, als es um einen weiteren Annäherungsschritt ging? Oder dass sie während des Dates unerkannt aus der Haut gefahren ist? Möglicherweise bewundert der Mensch jene Frau für ihre Raffinesse nun erst recht. Offensichtlich hatte diese Dame für das lyrische Ich eine erwähnenswerte Bedeutung. Infolgedessen könnte sich, falls der Protagonist männlich ist, ein Unterlegenheitsgefühl gegenüber Frauen Bahn brechen.

Ein Haiku, das ich nicht so schnell vergessen werde.

Ausgesucht und kommentiert von Birgit Heid

 

nur vorbeigegangen
und bereits angesteckt –
kinderlachen

Tim Scharnweber

Dieses Haiku beginnt ganz beiläufig: „nur vorbeigegangen“ erregt keine Neugier in der ersten Zeile. Fast klingt es langweilig. Doch dann: „bereits angesteckt“ – womit? Unwillkürlich kommt mir die Zeit der Pandemie in den Sinn, wo sehr auf Abstand geachtet werden sollte. Also angesteckt mit einer Krankheit? Oh nee, einfach nur so vorbeigehen und dann sowas! könnte der erste Gedanke nach den ersten zwei Zeilen sein. Durch die Pause der Zäsur durch den Gedankenstrich werden meine anfänglichen Erwartungen verstärkt, doch dann kommt eine überraschende Wende: Es ist ein im Vorbeigehen aufgefangenes Kinderlachen, das ansteckend ist und zum Mitlachen reizt, weil es so fröhlich und unbeschwert erklingt. Manchmal kommt es eben ganz anders als erwartet, und nicht alles, was ansteckend ist, muss auch schlecht sein. Zudem ist dieses Haiku mit 17 Silben auch typographisch erkennbar. Ich finde es sehr gelungen.

Ausgesucht und kommentiert von Angela Hilde Timm

 

Die Auswahl

Leuchtende Sichel
willkommene Gefährtin
auf einsamem Weg

Thomas Berger

am Kamin –
der Sturm sucht nach
alten Geschichten

Marcus Blunck

Platzregen
unterm Pavillon fließen
plötzlich Gespräche

Marcus Blunck

Kinderheim
im letzten Zimmer
kein Licht

Claudia Brefeld

im Atelier
leere Flaschen
und ein Farbenrausch

Horst-Oliver Buchholz

Rast am Fluss –
sich immer wieder orten
im Strom der Zeit

Reinhard Dellbrügge

neue Nachbarin
ihr Lächeln ist bereits
ein Teil von mir

Frank Dietrich

Sandkasten-Crew
jede Schneeflocke bekommt
einen Namen

Bernadette Duncan

Der Dirigent lauscht
Mit geschlossenen Augen
Dem Meer

Hartmut Fillhardt

Die Angst im Bunker
meine Mutter verschwieg sie
Ihren Enkeln

Dieter Gebell

Haushaltauflösung
die zum Abschied klirrenden
Kristallgläser

Ivan Georgiev

Nach dem Herbstregen
in meinem Zimmer
Geruch von Erde

Claus-Detlef Großmann

zur versöhnung
der blumenstrauß duftet
nach diesel

Alexander Groth

kaufmannsladen
die kleinen diskutieren
über inflation

Alexander Groth

bellender Nebel
die Herde weidet
jenseits der Zeit

Gabriele Hartmann

seine Umarmung
die reife Süße
später Erdbeeren

Angelika Holweger

Kalter Wind
singt für den Mond
allein

Felix Jeanplong

Erntemond
Die letzten Feigen am Baum
für die Stare

Deborah Karl-Brandt

Deine Hand berührt
die Seele in mir leise
glühende Tränen

Eileen Kloweit

der Sonderling
im Rasengrab – was er wohl
dazu gesagt hätte

Gérard Krebs

Klassentreffen …
beim Abschied der herbe Duft
des Spätsommers

Ramona Linke

im Weiher
mein Gesicht und ein Wind
mit Blüten

Wolfgang Luley

Disput
wir umkreisen
den Kern

Ingrid Meinerts

Sommerende
ihr Haar im Wind
lichter geworden

Eleonore Nickolay

Wintermärchen
sie sucht nach dem Wort
für das weiße Zeug

Eleonore Nickolay

nur vorbeigegangen
und bereits angesteckt –
kinderlachen

Tim Scharnweber

die Kunst des Putzens
sorgsam sortiert die Amsel
ihr Federkleid neu

Marie-Luise Schulze Frenking

menschenleer
die Innenstadt
digitalisiert

Marie-Luise Schulze Frenking

daheim geblieben
der Schatten deines Lächelns
am Telefon

Monika Seidel

im Laubschatten
liegend liebkost mich
ein warmer Wind

Angelica Seithe

Nachbarschaftsfest
wir prosten uns zu
in fremden Sprachen

Elisabeth Weber-Strobel

Stolpersteine
immer und immer wieder
getreten

Friedrich Winzer

 

Die Jury stellt sich vor

Claus Hansson:

Seit 1995 beschäftige ich mich kreativ mit Haiku. Im Mai 2014 bin ich in die DHG eingetreten, um mehr über Haiku zu erfahren und mich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Ich beteilige mich seitdem regelmäßig mit meinen Haiku an den SG-Quartalsauswahlen und reiche sie auch bei Haiku heute ein. Mittlerweile bin ich zum vierten Mal Juror.

In meinen Haiku suche ich achtsam nach Momenten, die die Gegensätze von Ruhe und Bewegung oder Weichheit und Stärke ausdrücken. Ebenso sind mir Bashōs Gestaltungsprinzipen Flüchtigkeit und Beständigkeit wichtig.

Ich hatte in meinen Haiku anfangs größtenteils auf Adjektive und Verben verzichtet, habe aber mittlerweile meine Freude daran, sie munter in die Zeilen einzustreuen. In ihnen liegen Farbe, Ausdruck und die Fröhlichkeit des Lebens.

Meine Haiku sollen aber vor allem Erlebnislyrik und keine kopflastige Gedankenlyrik sein. Ich möchte in schlichte Worte fassen, was ich im Alltag spontan erlebe und empfinde.

Gerne können Dichter und Dichterinnen mit mir Kontakt aufnehmen, warum ein eingereichtes Haiku in mir nichts zum Mitschwingen gebracht und es diesmal nicht in die Auswahl geschafft hat. Manchmal sind es nur kleine Nuancen.

Schwalbenruf –
noch einmal tanzen
im Schleier

Birgit Heid:

Vor zwanzig Jahren begann ich, literarisch zu schreiben. Zunächst Märchen, einige Jahre später Lyrik. Meine Gedichte trieben mich dazu an, Gleichgesinnte zu finden, und so kam ich bei Facebook und beim Literarischen Verein der Pfalz e.V. an, den ich nunmehr seit bald zehn Jahren leite. Auf Facebook begegneten mir damals Poetinnen und Poeten, die mir das Haiku näherbrachten. Auf diesem Weg fand ich die DHG, wo ich aufgrund der angebotenen Lesefülle rasch die Chance bekam, mich weiterzuentwickeln.

Was mich an Haiku zunächst faszinierte, war die unglaubliche Vielfalt, die man ausgehend von ein, zwei Wörtern entwickeln kann. Sie erschienen mir wie kleine Ansammlungen von Samenkörnern, aus denen bald schon eine Blumenwiese wächst. Dass dabei diese schier endlosen Möglichkeiten unterschiedlich wirken und sinnvoll erscheinen, war ein längerer Er­kenntnisweg durch diesen üppigen Garten, und ich habe mich durchaus schwergetan, den Geheimnissen des Haiku auf die Spur zu kommen. Heute sind es vor allem die poetischen Ansätze, die mich anziehen. Mir ist in Haiku wichtig, dass sie zwei konkrete oder individuelle Ereignisse beinhalten, Dinge, die auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun haben. Zeilen, deren Zusammenhang mich auf eine Entdeckungsreise ein­laden. Ereignisse, die weit über die oberflächliche Betrachtung hin­ausgehen. Aber auch ungewöhnliche Formulierungen finde ich reizvoll. Mithin Haiku, die einerseits tiefe Überlegungen und Sorgfalt der Schreib­enden erkennen lassen und solche, die mich zu einer Nähe zum Verfasser hinführen.

Blumen-App
vermutlich sehe ich ihn
nie wieder

Angela Hilde Timm:

Die Haiku-Welt fasziniert mich wegen ihrer Vielfältigkeit und wegen dem Verbindenden über Landesgrenzen hinweg. Besonders gefällt mir der vielseitige Austausch, seit ich im Juni 2013 auf dem Kirchentag in Hamburg an meinem ersten Haiku-Workshop teilnahm. Im Juni-Sommergras 2014 stellte ich mich dann als neues Mitglied der DHG vor, 2015 dann auf der Mitgliederversammlung in Wiesbaden.

Naturlyrik in drei Zeilen mit zehn bis siebzehn Silben bewegt mich seitdem auf meinen langen Spaziergängen auf der Stader Geest mit meiner Hündin Gracy. Ich nehme einen Eindruck in der Landschaft wahr und kann ihn gedanklich formen und mitnehmen, um ihn später schriftlich festzuhalten. Für mich ist ein Haiku ein „Seelenbild“ oder ein „Lustiger Vers“, der oft erst im Nachklang ganz beim Leser ankommt.

Ich freue mich immer, wenn die dritte Zeile durch eine überraschende Wende ein Lächeln beim Leser hervorruft. Auch einen „Scharniervers“ in der Mitte, der sich auf unterschiedliche Weise auf die obere und untere Zeile bezieht, finde ich sehr reizvoll. Zudem gefällt mir das typische typografische Bild, das dem traditionellen Haiku ein unverwechselbares Erkennungsmerkmal schenkt. Nicht zuletzt fordert mich das Umstellen und Rätseln heraus, das nötig ist, um einer ursprünglichen Idee schlussendlich diese Inhalte und diese Form zu geben.

Mein Beispiel-Haiku hat bei Freundinnen diese Reaktion hervorgerufen:

Walnüsse knacken
vom Baum der gestern
gefällt wurde

 

Tanka-Auswahl der HTA

Die Auswahl wurde von Claudia Brefeld, Horst-Oliver Buchholz und Sylvia Hartmann vorgenommen. Sie wählten 12 Tanka von 11 Autoren und Autorinnen aus.

„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – hier wird ein Tanka vorgestellt und kommentiert von Sylvia Hartmann.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

dieses Gefühl
dass das Leben unfreundlich ist
als die alte Buche fällt
künftig ein Grund weniger
aus dem Fenster zu schauen

 

Deborah Karl-Brandt

Aus dem Wohnzimmer der Wohnung, in der ich aufgewachsen bin, schaute man in einen gepflegten Garten mit alten Bäumen. Direkt neben dem Wohnzimmer ragte eine Tanne in die Höhe. Ich bin mit dem Blick auf diesen Baum, der mir verlässlich und dauerhaft schien, groß geworden. Als er eines Tages gefällt wurde, war ich als Jugendliche sehr traurig. Die Wohnung wird inzwischen von Menschen bewohnt, die ich nicht kenne, meine Eltern sind gestorben. Vieles, was für mich als Kind fest und unverrückbar schien, gibt es nicht mehr. Das ist eine Erfahrung, die zum normalen Prozess des Erwachsenwerdens gehört und an die mich das Tanka erinnert.

Doch es lässt mich auch an die vielen Bäume denken, die gefällt werden, weil sie Neubauten oder Straßen weichen müssen – ganz zu schweigen von denen, die unter heutigen Wachstumsbedingungen nicht die Chance haben, ihr volles Alter zu erreichen. Die Welt wird durch den Verlust von Bäumen nicht nur unfreundlicher, sondern sie tragen ja auch wesentlich zur Produktion von Sauerstoff und damit zum Erhalt unserer Lebensgrundlage bei. Dass derjenige, der das Tanka verfasst hat, die Freude daran verloren hat, aus dem Fenster zu schauen, kann ich gut nachvollziehen. Im übertragenen Sinne jedoch kann es keine Lösung sein, sich immer mehr in seinem Bereich zu verkriechen. Hinschauen ist schon ein erster Schritt dazu, diese Welt wieder ein wenig freundlicher zu machen.

 

 Die Auswahl

Zum Abschied
von der Insel
ein letzter Gang am Flutsaum entlang.
Mein Schatten auf dem Strand
reicht bis zur Düne.

Reinhard Dellbrügge

irgendwo
in der Eintönigkeit
des Schilfs
der Ruf der Schnepfe
hat die gleiche Farbe

Frank Dietrich

meinen Kontrollzwang
kriege ich in den Griff
morgen
werde ich überprüfen
ob ich Wort gehalten habe

Gabriele Hartmann

Zeit für einen
neuen Kalender
endlich die Termine eintragen
als würden sie Schwarz auf Weiß
mein Leben sichern

Birgit Heid

Beim Brennholzstapeln:
Ein Scheit nach dem anderen
bekommt seinen Platz.
Schicht um Schicht wächst die Ordnung.
Es duftet nach Harz und Moos.

Torsten Hesse

dieses Gefühl
dass das Leben unfreundlich ist
als die alte Buche fällt
künftig ein Grund weniger
aus dem Fenster zu schauen

Deborah Karl-Brandt

Vaters feines Lächeln
an seinem Lebensende
heischt mir Respekt ab.
An seiner Stelle – ich
würde wohl verzagen

Rudolf Leder

ein Herbstabend –
der Spaziergang mit wirbelnden
gelben Blättern
jeder ist mit eigenen
Geschichten beschäftigt

Dragan J. Ristić

ein Kommen und Gehen
sein Sohn packt ihm die Tasche
mein Bettnachbar lächelt
er darf wieder nach Hause
keine Hoffnung mehr

Wolfgang Rödig

Mittagsschatten
auf dem weißen Papier
ein Stift auf dem Tisch
durch das offene Fenster
ihr Duft von nebenan

Frank Sauer

Du schöpfst
mit Händen frisches Wasser –
nimmst
ihr nichts weg
der sprudelnden Quelle

Angelica Seithe

behutsam
als habe sich eine Amsel
auf deine Hand gesetzt
hältst du sie geöffnet
für dieses flüchtige Glück

Angelica Seithe

 

Sonderbeitrag von Brigitte ten Brink

Brigitte ten Brink hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das sie besonders anspricht.

Klassentreffen …
beim Abschied der herbe Duft
des Spätsommers

Ramona Linke

Hinter diesem Haiku steht vieles zwischen den Zeilen und hinter den Worten.

Es beginnt mit einem realen Ereignis, dem Klassentreffen. Für gewöhnlich liegt bei einem Klassentreffen die Schulzeit mehrere Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte, zurück. Man hat sich lange nicht gesehen, viel zu erzählen, Gutes und weniger Gutes und man ist älter geworden, gereift. So weit, so pragmatisch. Dann aber schlägt das Haiku in der zweiten Zeile eine andere Richtung ein und widmet sich einer sinnlichen Wahrnehmung, die einer bestimmten Jahreszeit zugeordnet ist. Ein Duft wird nun Thema, der herbe Duft des Spätsommers, der sich über den zwangsläufigen Abschied am Ende des Treffens legt und eine melancholische Stimmung impliziert. Man hat sich erst gerade wiedergefunden, alte Kontakte aufgefrischt und schon verliert man sich wieder. Wie das Jahr im Spätsommer beginnt, sich auf seinen Abschied vorzubereiten, müssen sich die Teilnehmer des Klassentreffens, die vermutlich im Spätsommer ihres Lebens stehen, ebenfalls voneinander verabschieden und ein Wiedersehen ist ungewiss.

So ist die Formulierung beim Abschied der herbe Duft des Spätsommers eine wunderbare Metapher für die Schwermut, die über diesem Abschied liegt. Dieses Haiku erzählt in wenigen Worten von einem Ereignis, das Menschen, die einmal eine Gemeinschaft waren, für einen Moment wieder zusammenbringt, nachdem sie lange Zeit nichts mehr miteinander verband. Für kurze Zeit werden sie auf dem Klassentreffen wieder eine Gemein­schaft und tauschen gemeinsame Erinnerungen aus, bevor jeder in sein eigentliches Leben zurückkehrt.

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