Im Zeitraum Februar bis April 2011 wurden insgesamt 305 Haiku und 24 Tanka von 77 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. April 2011. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.
Diese Werke wurden vor Beginn der Auswahl von Claudia Brefeld anonymisiert, die auch die gesamte Koordination hatte. Die Jury bestand aus Jochen Hahn-Klimroth, Ina Müller-Velten und Heike Stehr. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.
Alle ausgewählten Werke (16 Haiku und 3 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Werke pro Autor/in aufgenommen.
„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein Werk auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Claudia Brefeld
Ein Haiku, das mich besonders anspricht
Ausgesucht und kommentiert von Ina Müller-Velten:
Kranichrufe –
mein unruhiges Herz
Gerda Förster
Der Himmel ist voller Kraniche. Zweimal jährlich ziehen Kraniche in langen Ketten über meinen Garten. Ziehen sie fort, kehre ich oft gerade das Laub unter den Bäumen zusammen und die kalte Zeit des schwächer werdenden Lichtes hat begonnen. Kommen sie zurück, bin ich sicher, dass es bald Frühling wird. Kraniche ziehen um die Zeit der Äquinoktien, in den letzten Jahren oft auch weit nach der herbstlichen Tagundnachtgleiche. Manchmal sieht man sie nicht, doch ihr Rufen ist zu hören.
Im wiederkehrenden Ereignis erfasst der Mensch auf elementare Weise einen „Lebens-Zeit-Raum“. Der Vogelzug markiert mehr als nur den Wechsel zwischen je zwei Jahreszeiten. Er veranschaulicht in unseren Breiten die Teilung des Jahres in hell und dunkel und alle erdenklichen Gegensätze der Wettererscheinungen, die unser Empfinden beeinflussen. Er ist auf diese Weise ein Zeichen des vergehenden Jahres, aber auch ein Zeichen des herannahenden. Noch heute beginnt mit dem ersten Tag des astronomischen Frühlings, „Nouruz“, der persische Kalender.
Nomaden der Lüfte nennt man die Zugvögel zu Recht und der Vogelzug lässt den zurückbleibenden Menschen Abschied und Verlassenheit spüren. Vielleicht meldet sich auch im Innern der Wunsch nach Veränderung. Die unstete Nomadenseele, die uns Menschen aller Sesshaftigkeit zum Trotz nicht abhanden gekommen ist, rührt sich mit Macht. Mitziehen, eine Veränderung des Ortes oder der Lebensumstände – vielleicht nur eine Erinnerung an das Gefühl, aufzubrechen, um sich auf eine Reise zu begeben. Gedanken an eine Freiheit, die dem Flug der Vögel gleicht.
„Kranichrufe“ ist in diesem Haiku zweifach Jahreszeitenwort. Offen bleibt nämlich, ob das Jahr voranschreitet oder stirbt. Es wird nicht ausgesprochen, ob das Herz voller Hoffnungen ist oder von Abschiedsgefühlen gequält wird. Die Unruhe, Vorbotin der Veränderung, hat es ergriffen. So erlaubt das Haiku in seiner Kürze und Offenheit den Lesern die Verknüpfung sehr unterschiedlicher Gefühle mit dem Naturerleben. Der minimalistische Text evoziert möglicherweise beim selben Leser – je nach Jahreszeit und persönlicher Grundstimmung – unterschiedliche Bilder. Freudig, melancholisch oder resigniert klingt es an. Das Bild ziehender Vogelketten wird nicht bemüht. Allein die Rufe, die aus der Ferne herankommen, aufhorchen lassen, anschwellen, und nach dem Überflug immer leiser werden, lösen bereits „Unruhe“ aus. Diese kann latent vorhanden gewesen sein und durch die Rufe geweckt worden sein. Vor allem aber scheint sie über das Ereignis hinaus anzuhalten; ein fein beobachtetes Moment.
Ausgesucht und kommentiert von Jochen Hahn-Klimroth:
Dauerdienst –
den Regen betrachten
gegen die Nacht
Klemens Antusch
Die melancholische Stimmung dieses Haiku hat mich angezogen und an eigene Erfahrungen mit nicht enden wollenden Nachtdiensten im Krankenhaus erinnert. Schlaflos und unruhig steht man am Fenster und wartet darauf, dass etwas geschieht. Oder vor der Notaufnahme in die Nacht blickend, Regen in den Scheinwerfern des Rettungswagens.
Das Haiku ist sprachlich gelungen, klare, schlichte Worte, sehr rhythmisch gesetzt. Die Länge der Nacht findet in der zweiten und dritten Zeile durch den Binnenreim Regen / gegen mit seinen langen Vokalen ihre Entsprechung. Ein gelungenes Beispiel für ein modernes Haiku.
Ausgesucht und kommentiert von Heike Stehr:
Wogend, der Bambus,
Regen fällt leise
vorbei.
F. S.
(nicht in die Auswahl gekommen)
Elastisch wiegen sich die Halme des Bambus im Wind, ihr Hin und Her macht ihn sichtbar, das Rauschen der Blätter und das Knarren der Stämme macht ihn hörbar. Auf verschiedenen Sinnesebenen fängt mich das Haiku ein. Ich entdecke einen sanften Regen, lausche ihm, sehe seine Tropfen fallen, rinnen, perlen … Immer weniger Töne, auslaufende Bewegungen, das klingt in mir, bis es zur Ruhe kommt. Die Zeilenlängen visualisieren das Weniger-Werden. Vorbei.
Vorbei? Meine Gedanken gehen weiter zu den lauten und leisen Momenten, zum Auf und Ab des Laufes des Lebens: endlich vorbei, zum Abschluss gebracht das kräftezehrende Projekt, oder leider vorbei, seine Zeit zu Hause, zum Studium geht mein Sohn … Mein Malerherz denkt an ein Bild, das ich malte. Dieses Haiku bewegt etwas in mir.
Die Auswahl
Dauerdienst –
den Regen betrachten
gegen die Nacht
Klemens Antusch
Sitzungspause
ich atme hastig
Wintersonne
Klemens Antusch
Grasgeflüster –
bis zu den Schwalben
das leichte Weiß
Gerd Börner
sie geht –
ich leere mein Glas
in den Regen
Gerd Börner
Besuch in der Heimat –
auf dem Fabrikschornstein
nisten jetzt Störche
Roswitha Erler
Kranichrufe –
mein unruhiges Herz
Gerda Förster
Frühlingsregen –
das Kind spricht
Mit einer Kröte
Gerda Förster
Frühjahrssonne
Die ersten, großen Schatten
stehen an der Wand
Hans-Jürgen Göhrung
Blaue Stunde…
Dein Lächeln
behalte ich für mich
Ilse Jacobson
eiskalte Nacht
er zeigt mir die Sterne
im iPhone
Simone Knierim-Busch
im Kreisverkehr
die nächste Ausfahrt
der volle Mond
Simone Knierim-Busch
Heimweh –
eine Fliege
landet.
Andrea Knoke
Abschied
im Mondlicht
seine Hände
Ramona Linke
im Morgennebel
selbst die Netze der Fischer
sind geheimnisvoll
Rainer Mehringer
auferweckt
über den gräbern
das grün
René Possél
der Restaurator
schließt die letzten Risse
im Himmelreich
Klaus-Dieter Wirth
Mit Chagall
wolltest du fliegen
ins Blau –
über den Dächern der Stadt
ist es Nacht geworden
Ilse Jacobson
Es war mir
als fiele Schnee
so weiß
lag das Mondlicht
auf deinen Händen
Helga Stania
Der Duft
südlicher Minze
zart
wie ein Sommervogel
tanzt heute mein Herz
Helga Stania