Im Zeitraum Januar 2015 bis April 2015 wurden insgesamt 254 Haiku und 16 Tanka von 71 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. April 2015. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.
Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert. Die Jury bestand aus Claudia Melchior, Fried Schmidt und Ralf Bröker. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.
Alle ausgewählten Texte (43 Haiku und 1 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Werke pro Autor/in aufgenommen.
„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein oder bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Achtung!
Für das nächste Heft (Nr. 110) findet wieder unser jährliches Kukai statt. Diesmal in Zusammenarbeit mit dem HHV. Leitung: Ralf Bröker, Stefan Wolfschütz
Von jedem Teilnehmer kann ein Haiku zum Thema Heimat
eingereicht werden.
Das Kukai findet vom 9.- 14. Juli im Internet statt.
Petra Klingl
Ein Haiku, das mich besonders anspricht
Drei Beispiele für Humor im Haiku habe ich ausgewählt aus dieser enormen Bandbreite der Einsendungen. Sie ragen für mich heraus aus der Vielzahl der reinen Naturbeobachtungen, des Oft-Gelesenen und des handwerklich gut Gemachten, weil sie Überraschendes oder Neues an Inhalt beziehungsweise Sichtweise (Atarashimi) bieten – und zugleich das Geheimnisvolle (Yugen) und Leichte (Karumi) in sich tragen. Sie machen konkrete, an sich unscheinbare Bilder miterlebbar (Aware), denn sie berühren durch Zäsur und Nebeneinanderstellung (Kireji). Damit wirken sie ganz bewusst anders als jene Texte, die dem Leser gleich mitliefern, was er wie zu verstehen hat.
Bei den rund 40 Haiku, die ich veröffentlichen würde, rührt sich bei etwa der Hälfte in mir kein Gedanke an textlicher Veränderung. An zwei, drei von diesen hefte ich zudem jeweils ein freundlich turtelndes Sternchen. Es steht für mich für Preiswürdigkeit, bleibt aber für den SOMMERGRAS-Leser unsichtbar. Damit er sich unbedingt selber auf die Suche nach dem Zauber macht, der guten Haiku inne wohnt.
u-bahn: die schuhe
blicken nicht freundlicher
als die gesichterBernd Haupeltshofer
Eine feine Beobachtung des eigenen Beobachtens und Urteilens. Auch mein Kopf geht von den Augen der Mitpendler zum Boden: weil ich ihren Blicken ausweichen will, weil sie bestimmt nichts Gutes über mich denken. Überall also ist Platz für Achtsamkeit, überall ist zudem die Versuchung des Wertens. Und in diesem Haiku wird mir das nicht als Weisheit gesagt, sondern zum Miterleben gezeigt. Wunderbar.
Tannenwipfel
vom Turteln der Tauben
gebogenValeria Barouch
Gebogen habe auch ich mich. Und zwar vor Lachen. Die Komposition ist handwerklich gut gelungen, besonders die Alliteration und das sanfte Honkadori lassen mich mit-spüren: Über allen Wipfeln ist eben nicht nur Ruh‘.
Sonnensichel
die Putzfrau saugt
SternenstaubBirgit Heid
„Wir sind alle aus Sternenstaub.“ Das singt nicht nur das Pop-Duo Ich + Ich, sondern ist in der Esoterik-Wirtschaft schon lange ein geflügeltes Wort und in der Wissenschaft stets verbunden mit den Begriffen Supernovae und Elementfabrik. Dieses Haiku zeigt uns darüber hinaus, das alles um uns herum aus diesem Wunderstoff entstanden ist: selbst die Hautzellen, Fliegenbeinteile, Pollenbruchstücke, Steinabriebe, Metallmoleküle auf unserem Teppich. Und auch die große Quelle unseres heutigen Lebens ist im Anfang und am Ende Produkt des kosmischen Kreislaufs – was uns am (hier sehr fein angedeuteten) Tag der Sonnenfinsternis natürlich besonders deutlich wird.
Dem religiösen Menschen wird bei dieser Gegenüberstellung vor Augen geführt, dass eine ganz besondere Kraft in unserer Welt ihre Wirkung entfaltet. Allen anderen reicht beim Blick auf die Arbeit der Reinigungsfachkraft die Erkenntnis Marc Aurels: „Schiebe alles Übrige beiseite, halte nur an jenem Wenigem fest. Bedenke unter anderem, dass wir nur die gegenwärtige Zeit leben, die ein unmerklicher Augenblick ist; die übrige Zeit ist entweder schon verlebt oder ist ungewiss Unser Leben ist also etwas Unbedeutendes, unbedeutend auch der Erdenwinkel, wo wir leben, unbedeutend endlich der Nachruhm.“
Ausgesucht und kommentiert von Ralf Bröker
Straßenmalerei
In der Kreideschachtel
auch ein BleistiftClaudius Gottstein
Ich weiß: Für viele mag ich mit meiner Wahl ein Geisterfahrer in Sachen Haiku sein.
Kein Kigo, keine feinsinnige, über drei Banden gespielte literarische Welterfahrung, nicht einmal die für Traditionalisten wichtigen 17 Silben.
Ein simples sprachliches Gefüge mit drei Hauptwörtern, einem Adverb und der für ein Haiku nahezu unverzichtbaren Präposition. Eine schlichte Zustandsbeschreibung ohne Verb, immerhin auf drei Zeilen verteilt.
Warum für mich gerade dieses Werk unter den vielen gelungenen Einsendungen zum Primus inter Pares geworden ist? Es kommt in der schillernden, lyrisch oft ein wenig abgehobenen Haiku-Welt im wahrsten Wortsinne bodenständig daher, fast spartanisch, nüchtern, realitätsnah. Wer kennt nicht die sympathischen, unnötig bescheidenen Straßenkünstler aus den Innenstädten unserer Großstädte, die vorübergehend und im Vorübergehen unser Leben bereichern? Ob in München, Berlin, Paris oder Brighton – zwischen Bahnhofsviertel und Strandpromenade verdienen sie mit Gitarre und Kreide knapp ihr tägliches Brot. Der Bleistift in der Schachtel? Ich sehe ihn als ein Zeichen der immer noch schwelenden Hoffnung auf Anerkennung, des unerschütterlichen Traums von großer Kunst. Wenn nicht heute, dann halt mañana.
Und wer jetzt immer noch einen Bezug zur Natur, zu den Jahreszeiten braucht: Im Winter und so sind Straßenmaler eher schwer zu finden.
Ausgesucht und kommentiert von Fried Schmidt
Karfreitag
mein Hunger
nach dirGabriele Hartmann
Für mich: Haiku pur.
Klassisch (mit Kigo), gleichzeitig modern kurz (eine komplette Geschichte – spürbar nachvollziehbar – in fünf Worten), ohne Umschweife, ganz ohne Satzzeichen auf den Punkt kommend:
Fastenzeit / Begehren / Vorfreude / …
Braucht es mehr für ein Haiku?
Ausgesucht und kommentiert von Claudia Melchior
Die Auswahl
Sonntagsruhe –
ungeschriebene Haiku
oben in den WolkenJohanes Ahne
Warten bis sich was rührt,
der Alte und die Katze
auf der Sonnenbank.Johanes Ahne
Tannenwipfel
vom Turteln der Tauben
gebogenValeria Barouch
Ueno Park –
barfuß laufen, laufen
über KirschblütenClaudia Brefeld
Sommergras –
die Malerin wartet
auf den Duft des RegensGerd Börner
Orion –
der alte Jagdhund
stöhnt im SchlafCezar-Florin Ciobîcă
Vollmond –
das dünne Eis des Teiches
bricht leichtCezar-Florin Ciobîcă
seit ihrem Tod
malt er nur noch
StilllebenFrank Dietrich
Zitronenfalter
unvermutet
glückt ein TagGerda Förster
Das Karussell steht
Doch am Ende dreht es sich
Wieder nur um dichPetra Gantner
Friedhofssonne
wir lassen uns wärmen
von einer ViolineHeike Gericke
Winterende…
in seinen Augen
wird es hellHeike Gericke
Regentag
die Puppen lernen
ein neues LiedHeike Gericke
Blütenduft
das Summen
der StromleitungHans-Jürgen Göhrung
Ferienende
Stau
am KopiererClaudius Gottstein
kühler dunkler dom
aus den beichtstühlen atmet es –
kinder kichernRuth Guggenmos-Walter
Karfreitag
mein Hunger
nach dirGabriele Hartmann
wachsendes Licht
was haben wir nicht alles
verlorenGabriele Hartmann
helle Strähnen
seine Finger verlieren sich
im HimmelGabriele Hartmann
u-bahn: die schuhe
blicken nicht freundlicher
als die gesichterBernhard Haupeltshofer
Sonnenfinsternis
was schob sich
zwischen uns?Birgit Heid
Osterfeuer
wieder ist der Streit
entbranntBirgit Heid
Sonnensichel
die Putzfrau saugt
SternenstaubBirgit Heid
auf und ab hüpft
der geblümte Kinderschirm
mitten in der PfützeGérard Krebs
unter all dem Schnee –
sag Buddha lächelst du
noch immer?Eva Limbach
„den Tee aus der jadegrünen Schale
leer werdenRamona Linke
„ikebana –
die metaMorphosen von dir und mirRamona Linke
Beileid texten
in der Ferne, jemand
mäht den RasenDiana Michel-Erne
im Treppenhaus
zwei Stimmen steigen
eine OktaveEleonore Nickolay
Warten – warten will ich
bis weiße Wolken
die Bäume verlassenGontran Peer
Schlachtenlärm verhallt.
Die verwaiste Ritterburg
im Kinderzimmer.Wolfgang Rödig
Verwaister Spielplatz.
An der Schaukel versucht sich
das himmlische Kind.Wolfgang Rödig
Pille danach
während im Park
die Magnolien schlüpfenAngelica Seithe
Die Zeitumstellung –
der Tag aus dem Gefüge.
Jetzt den Fünfuhrtee!Hildegund Sell
Anwaltstermin.
Seine Liebe verliert sich
in einer AkteBoris Semrow
Januarmorgen
die Sonne lacht
aus einem ReiseprospektBoris Semrow
Regentage
eine Krähe
polstert ihr NestHelga Stania
Sonniger Herbsttag
noch fliegt er, der Schmetterling
mit gebrochnem FlügelMonika Smollich
Frühjahrsangebot
ihren Körper
für acht fünfzig die StundeMartin Thomas
Bluessession
der Saxophonist spielt
meine FarbenElisabeth Weber-Strobel
in neuer Heimat
nichts mitgenommen
als den alten MondKlaus-Dieter Wirth
märzfrühe
die amseln pfeifen
auf die zeitumstellungPeter Wißmann
embryohaltung
unter der decke
drehn sich gedanken im kreisPeter Wißmann
Den Rasen geschnitten
das Laub entsorgt
in Reih und Glied die Pflanzen
Doch die Ordnung untergräbt
unentwegt der MaulwurfMonika Smollich