Für diese Auswahl wurden insgesamt 247 Haiku von 93 Autoren und 69 Tanka von 29 Autoren eingereicht. Einsendeschluss war der 15. April 2021. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert.

Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, inklusive die Foren auf HALLO HAIKU, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte keine Simultan-Einsendungen!

Bitte alle Haiku/Tanka gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite HALLO HAIKU selbst eintragen:

Märzauswahl: Einsendeschluss 15. Januar 2022

Ansonsten per Mail mit Stichwort Haiku/Tanka-Auswahl 15. 7. 2021 im Betreff bitte an:

auswahlen@deutschehaikugesellschaft.de

Der nächste Einsendeschluss für die Haiku-/Tanka-Auswahl ist der 15. Juli 2021.

Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.

Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der Agenda 2022 der DHG und auf http://www.zugetextet.com/sowie für eine mögliche Vorstellung auf der Website der Haiku International Association.

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Bernadette Duncan, Sonja Raab und Wolfgang Gründer. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Texte – 40 Haiku von 33 Autoren – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden max. zwei Haiku pro Autor aufgenommen.

„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Ab SOMMERGRAS 134 löst mich Peter Rudolf in der Koordination der HTA-Jury ab.
Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle im Namen von Peter Rudolf ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, sich bei ihm zu melden, um als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken:

auswahlen@deutschehaikugesellschaft.de –
Stichwort „HTA-Jury-Mitarbeit“

Eleonore Nickolay

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

heut bleib ich im Stillen
nur die Knospen
brechen auf

Horst-Oliver Buchholz

Ein auf den ersten Blick unscheinbares Gedicht, das jedoch viele Merkmale eines guten Haiku enthält: einfache Sprache, ein Hauch von sabi, leicht nachvollziehbare Bilder bei gleichzeitiger Offenheit und damit genug Raum für die eigene Lesart.

Ob die Arbeitswoche voll war oder eine Entscheidung ansteht – das eigene Stillsein und Schweigen fokussiert die Aufmerksamkeit und lässt die Natur zu Wort kommen. Ich muss an Mahatma Gandhi denken, der lange die Angewohnheit hatte, jeden Montag zu schweigen.

Auch der urbane Leser findet sich in diesen drei Zeilen ohne Mühe wieder, gibt es doch Wochen, in denen das Beschriebene auf jedem Parkplatz, vor jedem Bäcker beobachtet werden kann.
Besonders reizvoll erscheint mir die Gegenläufigkeit der sich immer mehr konzentrierenden Form bei gleichzeitig inhaltlicher Öffnung.

Man solle dem anderen die Wahrheit nicht wie einen nassen Waschlappen um die Ohren schlagen, sondern sie hinhalten wie einen Mantel, in den man hineinschlüpfen kann, meinte Max Frisch. Dieses Haiku hält freundlich Worte hin, in die man mit der eigenen Erfahrung leicht hineinschlüpfen kann.

Ausgesucht und kommentiert von Bernadette Duncan

 

erster Geburtstag
immer wieder küsst sie
die schwarze Puppe

Petra Fischer

Zunächst einmal entspricht dieses Haiku formal den Charakteristika klassischer japanischer Haiku, es ist kurz, beschreibt in einfacher Sprache ein einmaliges Ereignis, eine momentane, konkrete Situation. Mancher mag hier in strenger Betrachtung das Fehlen eines Jahreszeitenworts bedauern. Gut, soll er, es tut dem Haiku keinen Abbruch.

Wir erfahren das Handeln eines Kindes an seinem ersten Geburtstag, den es kaum als solchen bewusst wahrnehmen wird, befinden sich wohl Festlichkeiten und Zeiträume dieser Größenordnung noch nicht in seinem Erfahrungshorizont.
Bewegend ist die unbefangene Freude eines Kindes, die uns im wiederholten Küssen einer Puppe, die es offenkundig als Geschenk erhalten hat, geschildert wird.

Mir sind zwei Formulierungen aufgefallen, zu denen ich etwas anmerken muss.

Ich habe bisher absichtlich vom Protagonisten als „dem Kind“ gesprochen. Inwieweit ist es notwendig, das Geschlecht des Kindes vorzugeben? Warum darf es nicht auch ein Junge sein?

Weiterhin habe ich mich gefragt, warum die Puppe als „schwarz“ beschrieben wird. Was ist so bemerkenswert daran, dass ein („politisch korrekt“ nicht als „schwarz“ zu beschreibendes) farbiges Kind eine „schwarze“ Puppe küsst?
Ja, ich habe diese Falle bemerkt!

Mir fällt in letzter Zeit auf, das mag eine höchst subjektive Empfindung sein, dass eine Tendenz besteht, Haiku zu dichten als Transportvehikel für Meinungen und auch als aktuelles Tagesgeschehen Verkündendes oder Problematisierendes zu betreiben.

Ich fühle mich unwohl, wenn ich eine Keule spüre, die mich in meiner Freiheit zur Interpretation, zu der ein Haiku ja aufrufen soll, in eine ganz bestimmte Richtung treiben will.

Ich fühle mich wohler, wenn ich ein Haiku entdecke, dessen literarisches Konzept nicht von vornherein eine gewünschte Wertung vor sich herschiebt, sondern einen konkreten Moment der Achtsamkeit, dem „von Herzen kommenden Wahrnehmen und Erkennen des Augenblicks“1, beschreibt, und dem Rezipienten die Freiheit lässt, in seinem Erinnerungs- oder Erfahrungsschatz, seinen Zukunftsvisionen, zu wühlen, um es fertigzustellen. Damit kommt es seiner ostasiatischen Herkunft inhaltlich näher.

Lassen wir den Besuchern dieses Kindergeburtstags einfach die Erfahrung dieses kleinen freudigen Erlebnisses: sein erster Geburtstag, immer wieder küsst es die neue Puppe.
Doch, in seiner ursprünglichen Form ein bemerkenswertes, bewegendes Haiku!

1   www.honpantarhei.com; 16.02.2021

Ausgesucht und kommentiert von Wolfgang Gründer

 

heut bleib ich im Stillen
nur die Knospen
brechen auf

Horst-Oliver Buchholz

Es ist keine leichte Übung, einen Tag schweigend zu verbringen. Zurückgezogen in einem Kloster wird es dadurch erleichtert, dass jeder im Kloster diese Übung kennt, respektiert und man sich nicht erklären muss oder genötigt fühlt, Zettelchen zu schreiben. Man kann sich einfach zurückziehen und schweigen. Im Alltag ist das nicht so leicht, denn kaum grüßt die Nachbarin, bekommt man schon ein schlechtes Gewissen, wenn man nicht zurückgrüßt, sondern nur nickt oder zwinkert. Man wird im Laufe eines Tages von den Kindern so vieles gefragt, man antwortet oft automatisch. Ich habe es selbst einmal ausprobiert, und es war für mich so schlimm, dass ich nach zwei Tagen Halsschmerzen bekam. Die unterdrückten Worte, die unbedachten Worte, die einem als Mama herausflutschen, die man aber gleich wieder bereut, weil man ja schweigen wollte. Es sind so viele Momente, die einen innerhalb der Familie verzweifeln lassen. Letztendlich behilft man sich dann mit dem Handy oder mit Zettelchen, aber das beeinflusst den Wert der Übung natürlich wesentlich.

In einer anonymen Stadt ist es vielleicht auch einfacher als in einem kleinen Dorf auf dem Land, wo alleine der morgendliche Einkauf zum Bäcker zum Spießrutenlauf wird, weil man ständig von Bekannten angesprochen wird.

Aber gehen wir nun davon aus, dass dieses Haiku wirklich den Idealfall bietet: Jemand sitzt alleine und ungestört irgendwo in einem Garten oder im Schatten einer Arkade und beschließt, diesen Tag im Stillen zu verbringen.

Und dann sind da die Knospen eines Strauches, eines Baumes oder einer Blume und sie brechen gerade auf, sie öffnen sich, ebenfalls still, aber doch ist es die Sprache der Natur, die so viel erzählt.

Man fühlt selbst, wie man aufbrechen möchte. Wie man singen, jubeln, lachen möchte. Wie es von innen nach außen dringt, so wie die Natur alles hervorbringt.

Welchen Sinn macht Schweigen? Das Unterdrücken der Töne, die ein Teil von uns sind? Ist das gegen die Natur in uns? Oder halten wir uns für einen Augenblick, eine Stunde, einen Tag oder mehrere Tage einfach mal zurück und lassen uns darauf ein, nicht nach außen zu drängen, sondern zuzuhören und etwas in uns hineinzulassen. Aufmerksam, bewusst, achtsam.

Vielleicht kann so innerlich auch in uns etwas aufbrechen, das wir so noch nie gespürt haben, weil wir es in unserer lauten Welt nie bemerkt haben. Weil wir es zerredet oder übertönt haben.

Ausgesucht und kommentiert von Sonja Raab

 

Frühjahrsputz …
einer der Ahnen fällt
aus dem Rahmen

Ramona Linke

In der ersten Zeile dieses eine Wort mit den drei Punkten, die Raum für Gedanken geben. Der Winter ist vorbei, die letzten Reste werden weggewischt, vor dem Haus gekehrt, Spinnenweben entfernt, Fenster geputzt, die neue Sicht nach draußen, endlich wieder Sonnenlicht, frische Luft, das Gezwitscher der Vögel ins Haus lassen.

Das Alte, Verstaubte wird vertrieben.

Dann in der zweiten Zeile fällt plötzlich ein Ahne.

Hatte man Streit mit einem Familienmitglied, ist es also ein „Ahne“, der noch lebt? Der Großvater? Oder denkt man nicht mehr an jemanden der verstorben ist? Ist die Erinnerung an diesen Ahnen mit dem Neuen, das der Frühling bringt, erloschen und die Trauer des Winters mit dem Frühjahrsputz vertrieben worden?

Die letzte Zeile löst es auf: Der Ahne ist aus dem Rahmen gefallen. Und doch ist nicht nur beim Putzen ein kleines Missgeschick passiert, sondern wieder bietet sich die Möglichkeit eines weiteren Bildes. Jemand, der aus dem Rahmen fällt, ist nicht angepasst. Ein Ahne, der in Erinnerung bleibt, weil er Ungewöhnliches geleistet hat. Einer, der nicht so schnell vergessen wird, weil er aus der Menge heraussticht.

Mit diesem Gedanken kann man nun in den Frühling gehen. Gestärkt und mutig den eigenen Weg gehen und mit der Kraft der Ahnen weiterkommen, vielleicht mit dem Pioniergeist, etwas Ungewöhnliches zu beginnen.

Ausgesucht und kommentiert von Sonja Raab

 

Die Auswahl

der himmel berührt
die erde am horizont
ferienbeginn

Elisabeth Anderes

Die kleine Freude
eine Dame im Aufzug
zwei Lächeln im Winter

Jürgen Artmann

der Gartenweg
frisch geschottert
Kirschblüten

Martin Berner

alter Steinway
ich spiele Muster
in den Staub

Christof Blumentrath

ein Kamel
zieht am Himmel vorüber
ein Elefant

Christof Blumentrath

Vergissmeinnicht –
das Mädchen hebt kurz
seine Maske

Marcus Blunck

Heckenrosen
mein Enkel erzählt von
seinem Zauberschwert

Brigitte ten Brink

heut bleib ich im Stillen
nur die Knospen
brechen auf

Horst-Oliver Buchholz

Ferien
vor mir das Meer
der Tage

Stefanie Bucifal

Mondregenbogen
unerwartet nach 50 Jahren
sagt sie „Ja“

Maya Daneva

am spielplatz
der hund
sucht die kinder

Hans Egerer

erster Geburtstag
immer wieder küsst sie
die schwarze Puppe

Petra Fischer

Deutschkurs –
unter der letzten Treppe
seine Gebete

Petra Fischer

Sonnenblumen.
Die Erwartung, dass das Licht
gut ist.

Volker Friebel

märz an der eisdielentheke
die blüte
im portemonnaie

Claus-Detlef Großmann

Auf dem Wertstoffhof
der Abschied beim Leeren
des Kofferraums

Taiki Haijin

Der Duft der Jugend
aus der Dose
Billigpils

Taiki Haijin

allein im Hotel –
Die Beständigkeit
der Erinnerung

Claus Hansson

Ameisenstraße
die Jüngste fragt woher
alles kommt

Gabriele Hartmann

Meeresbrise
sie steckt ihr Hörgerät
mir ins Ohr

Birgit Heid

Konzertende
der Frosch nimmt die Nacht mit
in den Teich

Anke Holtz

Telefonmeeting
aus dem Hörer die Stimme des Chefs
und ein Specht

Anke Holtz

Fachgebietsbesprechung
Per Zoom zeigt sie
ihr Baby

Deborah Karl-Brandt

Runder Geburtstag
Die Kinderwägen
der Anderen

Deborah Karl-Brandt

steg übers moor
die tragkraft
der stille

Michaela Kiock

Motorradcorso
der Rollstuhlfahrer schaltet
einen Gang höher

Petra Klingl

Kinderlachen –
am alten Grenzstein
frische Wolfslosung

Klaus Kornexl

Flugmodus
auf meinem Sperrbildschirm
das Meer

Eva Limbach

die alten Schlachtfelder …
auf dem Nachhauseweg liegt
noch etwas Schnee

Eva Limbach

Wiedersehen
meine Freude
überrascht mich

Ingrid Meinerts

Sperrstunde
du empfängst mich
mit offenen Armen

Eleonore Nickolay

Geheimnisvoll
die Frau am Morgen neben mir
seit vierzig Jahren

Frank Sauer

Reitstunde
das Mädchen auf dem Pferd
tippt eine Nachricht

Evelin Schmidt

Verlust der Freunde –
die alte Dame füttert
ein Rotkehlchen

Angelica Seithe

ans haus gefesselt
liebkost er
seine brieftaube

Helga Stania

wüstenwind
eine flöte singt
von liebe

Helga Stania

Walnüsse knacken
vom Baum der gestern
gefällt wurde

Angela Hilde Timm

mein Weg zum Kanal
auf dem Bürgersteig watschelt
ein Stockentenpaar

Ingrid Töpfermann

das Hochhaus am Fluss
ich schicke meine Träume
ins Wellenspiel

Erika Uhlmann

zurück zuhause
eine tote Fliege schwimmt
im kalten Kaffee

Jan Christian Weck

 

Tanka-Auswahl der HTA

Silvia Kempen wählte 8 Tanka von 5 Autoren aus. Es werden maximal zwei Tanka pro Autor aufgenommen.

„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto werden Texte vorgestellt und kommentiert.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

in der kirche
hinter dem pfeiler
die maske abgelegt –
ein cappuccino to go
in stiller andacht

Ruth Guggenmos-Walter

Die Kirche, ein Ort, an dem heutzutage nicht mehr so viel los ist, was nicht nur an der Corona-Pandemie liegt. Ein stiller Ort. Und hinter dem Pfeiler wird man nicht so schnell ge¬sehen, auch wenn doch mal jemand kommt. Dort wagt es die Person, die Maske abzulegen, um einen Cappuccino-to-Go zu trinken. Nein, ihn zu genießen, „in stiller Andacht“. Dafür gibt es außerhalb der eigenen vier Wände momentan kaum geeignete Plätze.
Eine schlichte Szene, die deutlich macht, mit welchen Einschränkungen wir in dieser Zeit leben und doch damit zurechtkommen. Zumindest wenn man, wie in diesem Tanka, das Beste aus der Sache macht.
Ich denke, wenn dieses Tanka in Jahren gelesen wird, in denen es keine Pan¬demie gibt, würde man es wahrscheinlich in der Karnevalszeit verorten.

Ausgesucht und kommentiert von Silvia Kempen

Information zur Tanka-Jury:
Peter Rudolf ist leider aus der Tanka-Jury ausgeschieden, weil er in Zukunft Eleonore Nickolay bei der Haiku-Tanka-Auswahl ablösen wird. Aus diesem Grund habe ich dieses Mal die Tanka-Auswahl alleine durchgeführt und hoffe, dass sich bis zur nächsten Auswahl jemand findet, die/der das mit mir gemeinsam durchführt.

Anmerkung zur Anonymität:
Die eingesendeten Tanka wurden von Eleonore Nickolay anonymisiert und mir dann zugesendet. Dieses Mal war ein Tanka dabei, das im Text den Namen des Autors aufzeigte, sodass hier die Anonymität nicht gewährleistet war. Durch die Nummernvergabe war ersichtlich, welche Tanka vom gleichen Autor stammen. Also konnten alle drei Tanka dieses Autors nicht berücksichtig werden. Ich bitte, in Zukunft zu vermeiden, dass aus dem Text Rückschlüsse auf den Autor ersichtlich sind.

 

 Die Auswahl

mit der Hand
im warmen Fell des Hundes
eingeschlafen
erklimme ich den Apfelbaum
in kurzen Lederhosen

Christof Blumentrath

was für Wege
die Liebe manchmal nimmt
sagst du
und schenkst mir deinen
steinernen Buddha

Christof Blumentrath

Drei Tage
hab‘ ich nichts von dir gehört
und allmählich
geht es mir wie den Bananen,
die sich auf dem Tisch braun färben.

Tony Böhle

Dir einen Kaffee
aufzubrühen, erscheint mir ein Ding
auf Leben und Tod –
Dabei sollte es doch
unkompliziert bleiben mit uns.

Tony Böhle

in der kirche
hinter dem pfeiler
die maske abgelegt –
ein cappuccino to go
in stiller andacht …

Ruth Guggenmos-Walter

barfuß am Strand …
so anders als damals
unsere Spuren
tiefer, länger und weiter
voneinander entfernt

Gabriele Hartmann

mit dir am Steuer
die Serpentinen hinab
an all den Kreuzen
vorbei – finde auch ich
zu Gott

Gabriele Hartmann

siehst du den Stern
am Himmel über Bethlehem
genau wie damals
als wir noch wussten an was
wir uns festhalten konnten

Eva Limbach

 

Sonderbeitrag von René Possél

René Possél hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das ihn besonders anspricht.

Wiedersehen
meine Freude
überrascht mich

Ingrid Meinerts

Wieder fasziniert mich ein Haiku, das selbst innerhalb des Haiku-Standards sehr kurz ist. Wieder kommt es ein wenig an jene „six-words-stories“ heran. Und wieder bestätigt es mir, dass man Gedichte, vor allem Haiku, bei denen es auf jedes Wort, jede Zeile ankommt, zu Gehör geben müsste, damit man nur weiß, was man hört …

Denn erst im Hören wird die Pointe der letzten Zeile als solche verstanden. Zur Interpretation: Das erste (und einzige) Wort der ersten Zeile ist so bedeutungsvoll, dass es von sich aus die verschiedensten Assoziationen weckt:

Ein Wiedersehen (in der Regel mit Menschen) ist eine Situation voller Emotionen und Erinnerungen … Wie lange hat man sich nicht gesehen? War es nur eine kurze Zeit, oder ist viel Zeit vergangen? Wenn ja, warum hat man sich lange nicht gesehen? Wie wird das Wiedersehen nach dieser Zeit von den Sich-Wiedersehenden erfahren?

Auf die letzte Frage antwortet die zweite Zeile mit der Erwähnung eines Gefühls, das jeder sofort versteht und nachvollziehen kann: „meine Freu­de“. Das Wort vereindeutigt die Skala von Gefühlen, die bei einem Wiedersehen möglich ist, angefangen von eben dieser Freude über gemischte Gefühle bis hin zu Unsicherheit oder gar Abneigung gegenüber dem, den man (eventuell nach langer Zeit) sieht.

Bis hierhin aber bewegt sich das Haiku in einem konventionellen Rahmen. Man könnte sogar weiter gehen und fragen: Was kann schon nach der Erwähnung von Freude bei einem Wiedersehen noch Besonderes, Unerwartetes kommen?

Die dritte Zeile ist ungewöhnlich: „(meine Freude) überrascht mich“ ist selbst eine Überraschung für den Leser/Hörer. Die zweite Zeile hat schon das Ich des Autors/der Autorin hineingebracht. Nun wird die Subjektivität in der dritten Zeile durch die Introspektion noch weitergeführt: „meine Freude überrascht mich“ ist das Bekenntnis einer plötzlichen Entdeckung in mir im Augenblick der Begegnung. Die Entdeckung, könnte man sagen, lässt tief in das Innere des Autors/der Autorin blicken. Da es hier um ein universelles Phänomen geht, ist das „Ich“ des Haiku nicht störend, sondern stellvertretend. Zugleich weist es zurück auf das Anfangswort vom Wiedersehen.

Im Klartext gesprochen: Da begegnet einer/eine nach kürzerer oder längerer Zeit jemandem – und wird von der eigenen Freude über die Begegnung selbst überrascht.

Heißt das nun, man hätte diese Freude nicht erwartet, weil die letzte Begegnung nicht so war, dass man sich auf die nächste gefreut hätte? Oder auch: Hat man nach der letzten Begegnung nichts an Gefühlen oder Erwartungen mitgenommen – und ist nun positiv überrascht? Oder schließlich: Ist das Wiedersehen selbst von der anderen Seite her so verlaufen, dass die Freude in der, die sich selbst beobachtet, zur eigenen Über­raschung entstanden ist? Viele Fragen und Möglichkeiten löst die letzte Zeile aus – und damit gewissermaßen viele Geschichten – „long stories“.

Dass man, ausgehend von Situationen, sich selber noch neu entdecken und überraschen kann, mag die Erkenntnis des Haiku sein. Eine Erkenntnis, die nicht viele Worte braucht – nur die Zeit und den Nachhall im eigenen Inneren, um den Gang der Erkenntnis nachvollziehen zu können. Fünf Worte, die der Autor/die Autorin gut überlegt und gesetzt hat. Kurz: ein gelungenes, denk-würdiges Haiku!

 

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