Es wurden insgesamt 211 Haiku von 74 Autoren und 50 Tanka von 21 Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. April 2024. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert.

Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, inklusive die Foren auf HALLO HAIKU, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte keine Simultan-Einsendungen!

Bitte alle Haiku/Tanka unbedingt gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite HALLO HAIKU selbst eintragen: https://haiku.de/haiku-und-tanka-auswahl-einreichen/

Ansonsten per Mail an: auswahlen@sommergras.de

Der nächste Einsendeschluss für die Haiku-/Tanka-Auswahl ist der 15. Juli 2024.

Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.

Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der DHG-Haiku-Agenda, auf http://www.zugetextet.com sowie für eine mögliche Vorstellung auf der Website der Haiku International Association.

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Stefanie Bucifal, Sylvia Hartmann und Evelin Schmidt. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Texte – 37 Haiku von 28 Autoren – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden max. zwei Haiku pro Autor aufgenommen.

 

„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.

Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken. Die nächste Auswahl (HTA-146) wird Eleonore Nickolay koordinieren. Kontakt: eleonore.nickolay@dhg-vorstand.de

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

Morgenbus –
ein Schüler schwärmt von Mathe
wie ein Feinschmecker

Valeria Barouch

Dieser Dreizeiler erinnert mich in seinem Aufbau an einen sorgfältig konstruierten Witz mit Einleitung, Spannungsaufbau und Pointe.

Die erste Zeile legt Zeit und Ort fest: Wir sind im Bus, und es ist früher Morgen.

In der zweiten Zeile begegnen wir dem Protagonisten: ein Schüler. So weit, so ungewöhnlich. Denn dieser Schüler „schwärmt“ von Mathe. Bereits hier deutet sich die Wendung in der Handlung an. Die Leser­erwartung wird auf den Kopf gestellt.

Die dritte Zeile setzt der Pointe die Krone auf: Der Schüler schwärmt nicht nur, sondern das gar „wie ein Feinschmecker“. Die humoristische Wendung dieser Szene legt nahe, diesen Dreizeiler als Senryu zu definieren.

Doch auch der Juxtaposition als einem der wichtigsten Merkmale des Haiku wird Genüge getan: Formal betrachtet setzt der Gedankenstrich – in Ermangelung eines Schneideworts – am Ende der ersten Zeile eine Zäsur und unterteilt das Senryu in zwei Teile bzw. zwei Bilder. Den Morgenbus in der ersten Zeile und den schwärmenden Schüler in der zweiten und dritten Zeile.

Die weitaus interessantere inhaltliche Juxtaposition, welche dieses Senryu so gelungen macht, finden wir jedoch im scheinbaren Widerspruch innerhalb des zweiten Bildes. Die Formalwissenschaft der Mathematik mit ihren abstrakten Strukturen und logischen Definitionen wird dem sinnlichen Erleben der Kulinarik gegenübergestellt, und beide ver­schmelzen zu einem Genuss, der überrascht und den meisten von uns fremd sein dürfte.

Ausgesucht und kommentiert von Stefanie Bucifal

 

abnehmender Mond
wie wenig wir
übers Sterben wissen

Eva Limbach

Dieses vielschichtige Haiku konfrontiert den Leser zunächst mit seiner eigenen Sterblichkeit. Der abnehmende Mond steht als Sinnbild für die schwindende Lebenszeit, für die Endlichkeit der Zeit, die uns auf Erden gegeben ist. Das Bild des abnehmenden Mondes wird mit einer vordergründig nüchternen Feststellung verknüpft: „wie wenig wir übers Sterben wissen“. Die Alliteration unterstreicht diese Aussage nach­drücklich und macht sie zur Gewissheit. Ja, wir wissen wenig über das Sterben, und das wenige, das wir wissen, bezieht sich auf rein körperliche, biochemische Prozesse. Die Metaphysik des Sterbens aber ist uns unbekannt.

Die Sichel des abnehmenden Mondes ist jedoch nur eine seiner vielen Erscheinungsformen. Der Mond zeigt sich uns in Zyklen. Auf den abnehmenden Mond folgt die Dunkelheit des Neumonds, der zunimmt bis zum Vollmond, der dann erneut zum abnehmenden Mond wird. Ein ewiger Kreislauf von Tod und Wiedergeburt.

Und so gelingt es diesem Haiku, uns mittels einer einfachen Feststellung zu den existenziellen Fragen des Menschseins hinzuleiten. Woher kommen wir und wohin gehen wir? Der Blick in den Nachthimmel führt uns in das Reich der Philosophie, der Religion und der Spiritualität.

Ein anderer Interpretationsansatz liegt in der dunklen Seite des Mondes. Als Geschöpfe des Planeten Erde sehen wir nur die uns zuge­wandte Seite des Mondes. Die andere, die dunkle Seite des Mondes, bleibt uns stets verborgen.

In einem von Mark Twains berühmten Aphorismen steht die dunkle Seite des Mondes für die Unergründlichkeit der menschlichen Seele: „Everyone is a moon, and has a dark side which he never shows to anybody.“ („Jeder Mensch ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er nie­mandem zeigt.“) Schenken wir dieser Einsicht Glauben, dann liegen die Antworten auf all unsere Fragen in uns selbst.

Ausgesucht und kommentiert von Stefanie Bucifal

 

Frühlingsgezwitscher
wir kennen uns doch alle
eher flüchtig

Sebastian Salie

Das Kompositum der ersten Zeile trägt uns mitten hinein in dieses Haiku. Es ist Frühling, und wir hören Gezwitscher. Spatzen, Amseln, vielleicht Blaumeisen …

Stopp! Hören wir wirklich Vogelgezwitscher? Geht es hier um Flora und Fauna?

Die zweite und die dritte Zeile verschieben unvermittelt den Fokus vom vermeintlichen Naturbild und den damit verbundenen akustischen Assoziationen hin zur Lebenswelt des Menschen.

Dieser abrupte Perspektivwechsel eröffnet neue Zusammenhänge und Interpretationsspielräume: Es geht um „uns“ und unsere „flüchtigen“ Beziehungen zueinander. Durch eine Alliteration in der ersten und dritten Zei­le werden „Frühlingsgezwitscher“ und „flüchtig“ geschickt miteinander verknüpft. Und so oszilliert die Bedeutung von Früh­lingsgezwitscher zwischen tatsächlichem Vogelgesang und dem oberflächlichen Geplauder und belanglosen Smalltalk unserer Spezies.

Nicht zuletzt schlägt das Haiku einen Bogen zu den Kom­munikationsmitteln unserer Zeit: Das Gezwitscher lässt an das Soziale Netzwerk „X“, ehemals „Twitter“ denken. Die Nutzer dieser Plattform können kurze Nach­richten, sogenannte Tweets (zu Deutsch: Gezwitscher) veröffentlichen.

Ob dies tatsächlich dem geistigen Austausch zwischen Individuen zuträglich ist oder lediglich zur digitalen Kakophonie beiträgt, muss der Le­ser beantworten.

Ausgesucht und kommentiert von Stefanie Bucifal

 

Friedhof …
das Kommen und Gehen

Friedrich Winzer

Meistens tue ich mich mit ein- oder zweizeiligen Haiku schwer. Bei diesem bleiben meine Gedanken schon beim ersten Wort hängen. Friedhof – ein Ort, zu dem viele nicht gerne gehen, weil er sie an Menschen erinnert, die sie verloren haben. Die davon abgeleitete „Friedhofsruhe“ verbinden wir mit lähmender, menschenfeindlicher Stille. Auch ich habe im Laufe der Jahre auf so manchem Friedhof von mir liebgewordenen Menschen Abschied nehmen müssen. Ich habe aber auch aus beruflichen Gründen unterschiedliche Friedhöfe betreten, denn ich bin Pfarrerin und habe viele Menschen beim Abschied von Verwandten und Freunden begleitet.

Dabei habe ich erlebt, dass auf Friedhöfen durchaus nicht immer Friedhofsruhe herrscht. In der Großstadt, wo die Beerdigungen eng getaktet sind, gibt es auf dem Parkplatz oft ein lebhaftes Kommen und Gehen von Besuchenden zweier aufeinanderfolgender Beerdigungen. Aber auch außerhalb der Bestattungszeiten sind Friedhöfe in Städten durchaus nicht unbelebt: Zwischen lebensfeindlichen Durchgangsstraßen sind sie eine Oase des Grüns und der kleinen Lebewesen. Anwohner aus der Nähe nutzen sie zum Spaziergang und zur Begegnung mit der Natur, aber auch mit anderen Menschen. Ich habe sogar schon ein Paar getraut, das sich bei solchen Friedhofsbesuchen kennengelernt hatte. Insofern sind Friedhöfe also nicht nur Orte, wo wir daran erinnert werden, dass wir eines Tages alle von dieser Erde gehen müssen, sondern manchmal auch Begegnungsstätten, wo Neues zustande kommt. Auf jeden Fall schadet es nicht, ab und zu daran erinnert zu werden, dass unser ganzes Leben ein- bzw. zweizeilig ist, nämlich aus einem Kommen und einem Gehen besteht. Das bringt die zweizeilige Form dieses Haiku anschaulich zum Ausdruck.

Ausgewählt und kommentiert von Sylvia Hartmann

 

Sommerhitze
am Brunnen längt sich
ein Wassertropfen

Friedrich Winzer

Dieses Haiku hat mich sofort in die Hitzesommer der Jahre 2018 und 2019 geführt. Sommerhitze, es gab sie in diesen Jahren wochenlang, ohne jeden Tropfen Regen. Eine bedrohliche Situation für Mensch und Natur.

Wir waren damals auf Wandertour im Bayerischen Wald. An einer Quelle vor einem Bauernhof füllten wir unsere Wasserflaschen. Lang­wierig war das, denn nur tröpfchenweise lief das Wasser in einen Steintrog. Die Brunnen der abgelegenen Höfe waren fast leer, die Wasserentnahme musste drastisch eingeschränkt werden. Die Kühe wurden bereits im Sommer von den Almen geholt, weil es dort kein Wasser mehr gab und die Wiesen verdorrt waren.

Immer gab es das Gefühl, dass genug Wasser da ist, bei Hochwasser auch zu viel. Aber jetzt war es eine Zeit des existenziellen Mangels mit verheerenden Folgen. In den Wäldern, Alleen und Parks sind Baum­bestände abgestorben, Böden sind versteppt. Das Gesicht unserer Landschaften hatte sich verändert.

Genau in diese Situation führt das Haiku mit wenigen, unaufgeregten Worten und gerade deshalb so drastisch. Ein Wassertropfen längt sich. Ein Tropfen, der plötzlich zur Kostbarkeit wird – Wasser. Es könnte ein Haiku sein, das völlig neutral eine Situation in der Sommerhitze beschreibt. Ein Tropfen, der vor dem nächsten genug Zeit hat sich zu längen. Und doch lösen die vierzehn Silben eine Flut von Gedanken aus, die direkt zum dauerpräsenten Thema der Klimakrise führen und unserem Umgang damit. Ein Haiku mit einem ausgesprochenen Nachhall.

Ausgesucht und kommentiert von Evelin Schmidt

 

Die Auswahl

Morgenbus –
ein Schüler schwärmt von Mathe
wie ein Feinschmecker

Valeria Barouch

Buchfink
zersingt
ihren Griesgram

Martin Berner

Samstag
Rasenmäherreigen
Crescendo

Martin Berner

gegenüber
stürmisch fuchteln die Zweige
vor ihrem Fenster

Marcus Blunck

er schießt
gewaltlos durch das Pflaster
der Löwenzahn

Michael Deisenrieder

Früher Frühlingsmorgen –
zwischen Traumfragmenten
Vogelstimmen.

Reinhard Dellbrügge

Zugfahrt –
der Anachronismus
eines Zeitungslesers.

Reinhard Dellbrügge

Gedichtfragment
ich träume es
zu Ende

Frank Dietrich

Herbstwanderung
Steine auf dem Weg
zu den Worten

Hubert Felber

nach dem fasten
das alte brot
fast wie kuchen

Gregor Graf

Allein in die Pause
zu den Kirschblüten
hinter der Deutschen Bank

Claus-Detlef Großmann

neue Arbeitsstelle
an der Kaffeemaschine
alte Floskeln

Alexander Groth

diesseits – jenseits
des Stacheldrahts tanzen
Zitronenfalter

Angelika Holweger

Oktobersonne –
eine Staubwolke durchbricht
den Sicherheitszaun.

Moritz Wulf Lange

abnehmender Mond
wie wenig wir
übers Sterben wissen

Eva Limbach

verblüht …
fast wären wir
Freunde geworden

Eva Limbach

Abendstimmung
vergoldete Möwen
im letzten Licht

Ingrid Meinerts

aufgeschlagenes Buch
eine Fliege folgt
den Spuren des Dichters

Ingrid Meinerts

erwachender Garten
wieder hat der Frühling
Farben ausgetauscht

Ruth Karoline Mieger

erste Tulpen
Frühling
im Supermarkt

Eleonore Nickolay

einen Regenbogen
malt der Wind
in die Fontäne

Rita Rosen

einen Teppich
webt der Frühling
reine Naturfarben

Rita Rosen

welch freundliches Gelb
wendet der Löwenzahn auf
mich umzustimmen

Peter Rudolf

Frühlingsgezwitscher
wir kennen uns doch alle
eher flüchtig

Sebastian Salie

Gartenarbeit
mit dem Komposthaufen
zusammenwachsen

Sebastian Salie

hinterm Bahnhof
entschwindet im Zugfenster
meine Kindheit

Frank Sauer

ihr Foto
an der Wand im Flur
steht noch ein Koffer

Frank Sauer

leichter bodenfrost –
noch einmal
bei null anfangen

Birgit Schaldach-Helmlechner

Frostiger Morgen
Aus Scherenschnittbäumen
der Ruf der Krähen

Susanne Schöck

mit den Augen
den Schrei der Gänse einfangen –
Frühlingsluft

Angelica Seithe

Zum Jahresbeginn
Tulpenzwiebeln setzen vor
dem ersten Frust

Angela Hilde Timm

Kundengespräch
eine Spinne auf dem Tisch
die niemand sieht

Jan Weck

langsam verschwinden
die Fußspuren der Menschen
die wir waren

Jan Weck

Friedhof …
das Kommen und Gehen

Friedrich Winzer

Sommerhitze
am Brunnen längt sich
ein Wassertropfen

Friedrich Winzer

in perfekter Harmonie
ein jahrhundertealter Fels
und seine Einsamkeit

Klaus-Dieter Wirth

Nach langem Regen:
Der See sucht die Nähe
zu meinen Schuhen

Udo Zielke

 

Tanka-Auswahl der HTA

Die Tanka-Jury besteht nun bis auf weiteres aus der SOMMERGRAS-Redaktion mit Horst-Oliver Buchholz, Eleonore Nickolay und Thomas Opfermann, unterstützt von Claudia Brefeld.

Sie wählte 8 Tanka von 6 Autoren aus. Es werden max. zwei Tanka pro Autor aufgenommen.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

am Morgen
die Fenster öffnen
und mich selbst
dem Gesang
der Vögel

Marie-Luise Schulze Frenking

Als Deutschlehrerin in der Erwachsenenbildung in Frankreich gab ich vor vielen Jahren – Haiku und Tanka waren mir zu der Zeit noch unbekannt – eine Hausarbeit auf mit der Aufgabe: Beschreiben Sie detailliert Ihren Weg zur Arbeit, was Sie sehen, was Sie hören usw., und ich muss wohl als Beispiel auch den morgendlichen Vogelgesang erwähnt haben. Die Woche darauf berichtete einer der Herren erstaunt, dass er dank dieser Aufgabe zum ersten Mal bemerkt habe, dass Vogelgesang seinen morgendlichen Weg zur Arbeit begleitete! Ich war mindestens genauso erstaunt wie mein Schüler: Wie konnte man so in seiner eigenen Welt versunken sein, dass man seine unmittelbare Umgebung kaum wahrnahm?

An diese Begebenheit musste ich gleich denken, als ich dieses Tanka las. Natürlich berührt es mich, weil ich immer schon gerne Vögel beobachte und ihren Gesang teilweise auch kenne. So tue ich genau das, was das Tanka beschreibt und lausche bei offenem Fenster den Meisen, dem Buchfink, der Amsel, dem Rotkehlchen. In diesem Jahr musste ich betrübt feststellen, dass es keinen Grünfinken mehr in meinem Garten gibt. Und die Stare kommen auch nicht mehr auf meinem Rasen, weil in der Nachbarschaft ein Baum gefällt wurde, der ihnen als Nachtlager diente. Sich dem Gesang der Vögel zu öffnen, bedeutet auch, sich der Welt, der Umwelt, der Natur zu öffnen und zu erkennen, wie es (leider) um sie steht.

Ausgesucht und kommentiert von Eleonore Nickolay

 

 Die Auswahl

manchmal sieht sie ihn
an seinem ehering drehen
und stellt sich fragen

dreht sich denn alles im kreis
oder bewegen wir uns

Heinz Brückner

gefunden
beim Blick
durchs Teleskop
dieser Stern
den ich nicht suchte

Frank Dietrich

es gibt einen Fisch
der in der Dunkelheit des blauen Wassers lebt
und nichts weiß
von der Sonne, der Luft, der Erde
und mir

Shirinkhanim Eyvazova alias Alov Inanna

Klassentreffen
damals die beste Freundin
wir kreisen uns ein
und spüren sie wieder
unsere Nähe

Helga Schulz Blank

am Morgen
die Fenster öffnen
und mich selbst
dem Gesang
der Vögel

Marie-Luise Schulze Frenking

hoffnungsvoll
googelt er
sich selbst
immer
wieder

Marie-Luise Schulze Frenking

magisch
das Kochbuch
meiner Oma
handgeschrieben
in Sütterlin

Friedrich Winzer

Rockkonzert
ein Taubstummer
legt seine Hand
auf den Bühnenboden
und schwingt mit

Friedrich Winzer

 

Sonderbeitrag von Brigitte ten Brink

Brigitte ten Brink hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das sie besonders anspricht.

verblüht …
fast wären wir
Freunde geworden

Eva Limbach

Elf Silben braucht dieses Haiku, um von einer verpassten Chance zu erzählen. Was ist geschehen, dass diese Gelegenheit „verblüht“ ist, nicht genutzt wurde oder nicht genutzt werden konnte?

Die Wortwahl „verblüht“ gefällt mir in diesem Zusammenhang außerordentlich gut. Es schwingt ein Bedauern mit, ein Bedauern darüber, etwas Schönes nicht erkannt, eine Möglichkeit nicht wahrgenommen, zu lange gezögert zu haben, als sich die Gelegenheit bot.

Dieses Haiku hat alles, was ein Haiku braucht, was ein gelungenes Haiku ausmacht. Da wäre als erstes, wie eingangs schon erwähnt, die Kürze (shibumi) zu nennen. Nach zwei Silben in der ersten Zeile gibt es eine Zäsur. Etwas ist „verblüht“. Danach sind drei Pünktchen gesetzt, die alles offenlassen, und zu der Frage führen, was geschieht nun? Wie geht es weiter im Text? Blumen verblühen – doch diese Zuordnung wäre zu banal. Und so ist es. Hier kommt etwas Neues, eine Überraschung (atarashimi) ins Spiel. Verblühen wird hier für das Vergehen, das Verstreichenlassen eines Zeitpunkts benutzt. Wie eine Blume verblüht, ist die Chance für eine Beziehung vergangen, unwiderruflich. Der Leser ist erstaunt, berührt und fragt sich, wie konnte das passieren? Woran lag es? Mangelte es an Zeit? War die Skepsis, sich auf etwas einzulassen, zu groß? Waren die Umstände widrig? Das alles bleibt offen und somit das Geheimnis (yugen) des Haiku.

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