Haiku-und Tanka-Auswahl Juni 2025

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Es wurden insgesamt 269 Haiku von 95 Autoren/Autorinnen und 56 Tanka von 25 Autoren/Autorinnen für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. April 2025. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl anonymisiert.

Die Wertung der aktuellen Auswahl der HTA wurde koordiniert von Peter Rudolf.

Der Einsendeschluss für die nächste Haiku-/Tanka-Auswahl

ist der 15. Juli 2025.

 

Bitte alle Haiku/Tanka unbedingt gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite HALLO HAIKU selbst eintragen: https://haiku.de/haiku-und-tanka-auswahl-einreichen/

Ansonsten per Mail an: auswahlen@sommergras.de

Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, inklusive die Foren auf HALLO HAIKU, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte keine Simultan-Einsendungen.

Bitte denselben Text nicht wiederholt einreichen.

Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der DHG-Haiku-Agenda.

 

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Ruth Karoline Mieger, Sonja Raab und Sebastian Salie. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Texte – 42 Haiku von 34 Autoren – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden max. zwei Haiku pro Autor aufgenommen.

„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

der Teich
in deinen Augen
das weite Meer

Hubert Heizmann

Die naheliegendste Deutung dieses Haiku ist mir erst aufgefallen, als ich es bereits bewertet hatte. Der Überraschungsmoment kam also mit einer gewaltigen Verspätung bei mir an. Während ich es zuerst in einem romantischen Sinne verstand – der Blick, der vom Teich zu den Augen des Gegenübers führt, in denen dann das weite Meer entdeckt wird –, trat der Begriff „Heimat“ erst im letzten Moment in mein Gedankenfeld. Dieser Teich ist in den Augen des Gegenübers alles. Kindheit, Glück, Heimat, zu Hause. Andere suchen ihr Glück in der Ferne, aber hier ist der Teich das weite Meer. Wie auch immer man diese wenigen Silben versteht, von Trauer über Sehnsucht, Liebe bis hin zu Heimatverbundenheit ist hier alles vertreten. Eine Welt tut sich auf an diesem Teich. Dieser Reichtum an Deutungsmöglichkeiten fasziniert mich. Und doch ist es konkret, wenn man einmal den Blickwinkel gefunden hat. Ich werde noch eine Weile um diesen Teich spazieren.

Ausgesucht und kommentiert von Sonja Raab

 

ein Wort
fällt zum ersten Mal
von dir zu mir

Sandra Hilbert

Ein Haiku, das mich beim ersten Lesen bereits in seinen Bann zog. Die Autorin/der Autor benennt das eine Wort nicht. Gerade dadurch löst es eine Fülle von Gedanken aus. Ist dieses eine Wort positiv oder negativ besetzt?

Worte können begrüßen, streicheln, ermutigen, trösten. Sie können aber auch abwerten, beleidigen, beschämen und verletzen. „Von dir zu mir“ lässt auf eine Beziehung schließen. Welcher Art ist diese Beziehung? Handelt es sich um eine neue, sich entwickelnde Liebesbeziehung? Um eine alte Freundschaft? Eine langjährige Ehe? Einen vertrauten kollegialen Kontakt?

Vermutlich führt das eine Wort, das zum ersten Mal fällt, eine Wende in der Beziehung herbei. Offen bleibt, ob eine Bindung vertieft, gefestigt oder zerschnitten wird.

Diese vielfältigen Assoziationen münden in eine Erinnerung. An ein Gespräch, das vielleicht nachhaltig das Leben verändert hat. Ein glücklicher oder schmerzhafter Moment?

Mit einfachen Worten weist dieses beeindruckende Haiku auf die Bedeutung der Sprache beim Zusammenleben hin. Darauf wie machtvoll ein Wort sein kann. Ein Haiku zum Nachspüren und -denken.

Ausgesucht und kommentiert von Ruth Caroline Mieger

 

die bäume so grün
mein akku
so rot

Kamil Plich

Das Grün der Bäume berührt, das Erwachen der Natur nach dem Winter belebt unsere Lebensgeister, wir möchten die Freude darüber vielleicht mit aller Welt teilen, in den sozialen Medien Bilder davon posten, um andere an der Freude teilhaben zu lassen. Kaum noch Akku am Handy – vielleicht ein Zeichen dafür, doch im Hier und Jetzt zu verweilen, das Grün ganz bewusst wahrzunehmen, anstatt den Moment im Internet zu teilen und ihm den Zauber zu nehmen. Wie sehr lenken uns die digitalen Welten ab, von der Realität? Rauben wir dem Wunder etwas, wenn wir es nicht in unser Herz, sondern in die digitale Welt ziehen? Eines meiner Lieblings-Haiku in diesem Wettbewerb.

Ausgesucht und kommentiert von Sonja Raab

 

Mäandernder Fluss
Doch in der Spiegelung bleibt
Der Himmel ganz still

Elke Redeleit

Ein in Mäandern verlaufender Fluss durchquert die Landschaft in einer Abfolge von Flussschlingen. Dabei verändert er mit der Zeit seine Umgebung, indem er durch Erosion an der Außenseite seiner Kurven und Sedimentation an ihrer Innenseite immer weiter ausgreift. Schließlich kommt es an den Schlingenenden zu Durchbrüchen. Dann bilden sich zunächst Altarme, und schlussendlich verlanden Mäander. In der ersten Zeile dieses Haiku fließt also nicht nur etwas vorbei – es gibt eine weitere, das Land betreffende Bewegung in der Szenerie.

Die ist jedoch für uns, die am Ufer stehenden Betrachtenden, wegen ihrer Langsamkeit nicht so offensichtlich erkennbar wie das Vorüberziehen des Wassers, das, wie wir ab Zeile zwei erfahren, gleichzeitig den Himmel spiegelt, der in seiner Erscheinung „ganz still“ bleibt und somit zunächst einen weiteren Kontrast darstellt. Doch selbst wenn wir von wolkenlosen Wetterverhältnissen oder momentaner Windstille ausgehen, rei­chten wenige Stunden des Verweilens aus, um festzustellen, dass dieser „in der Spiegelung“ erblickte himmlische Stillstand eine Illusion ist. Allein schon der tageszeitliche Wechsel der Lichtverhältnisse machte uns klar, dass auch über uns in einem fort Veränderung herrscht, wie auch am Ufer und letztlich unter unseren Füßen oder in uns selbst.

Die dem Haiku innewohnende universelle Dynamik wird durch das durchgehende daktylische Metrum unterstützt, das für einen lebendigen Lesefluss sorgt, wobei das Fehlen des Auftakts in Zeile zwei die beiden Bilder sauber voneinander trennt und dem „Doch“ eine gewisse Betonung verleiht. Ebenso angenehm ist die gegensätzliche Gestaltung der Zeilen eins und drei: Einmal wird die wahrgenommene Eigenschaft dem Objekt vorangestellt und einmal folgt sie ihm. Dies unterstützt den Gegensatz zwischen Fluss und Himmel, Bewegung und Ruhe. Die beide verbindende Spiegelung steht geschickt in der Mitte.

Diesen Eindruck von Stillstand – so sehr er uns zum Innehalten bewegen mag – schaffen wir uns also kraft unserer Wahrnehmung selbst. Gott sei Dank, ließe sich sagen, schließlich ist das ewige Hin und Her auf Dauer anstrengend und wir brauchen gelegentlich Pausen, damit es danach weitergeht.

Ausgesucht und kommentiert von Sebastian Salie

 

frag mich nicht – ruhig fließt das Wasser weiter

Angela Schmitt

Vielleicht steht eine Entscheidung an, zu der man sich nicht durchringen kann, vielleicht möchte eine komplizierte Angelegenheit noch einmal durchdacht werden. Oft hilft es, sich in die Natur zu setzen, dem Fluss oder einem Bach zu lauschen. Die Natur gibt Antworten. So, wie dieser Einzeiler dahinfließt, nimmt auch das Wasser die Gedanken mit. Manchmal wild sprudelnd und reißend, hier ganz ruhig. „frag mich nicht“ – vielleicht möchte man sich dem Thema nicht stellen. Möge es einfach vorbeiziehen. Das Wasser fließt auch morgen noch. Oder ist es ein Wasserhahn und die Frage wird in einer Küche gestellt? Jemand verharrt vor dem laufenden Wasser und schiebt damit die Antwort hinaus? Auf jeden Fall nimmt das Wasser die Gedanken mit. Wasser beruhigt, Wasser klärt, Wasser bereinigt. Ein Moment, der erst dann verfliegt, wenn der Wasserhahn abgedreht wird, oder man sich vom Bachlauf abwendet und wieder zurückkehrt in die andere Wirklichkeit.

Ausgesucht und kommentiert von Sonja Raab

 

Die Auswahl

Die Wiesenweihe
streicht über das Schilf streicht
der Wind

Regine Beckmann

Rosenkranz –
der dornige Weg
ihrer Finger …

Daniel Behrens

Haltestelle –
zerrissen auf der Bank
Glückslose

Marcus Blunck

Memoiren
ich werde das
was ich schreibe

Frank Dietrich

den abgelaufenen Kaffee
mit Quellwasser aufbrühn
Bergmorgen

Bernadette Duncan

von Taufe bis Beileid …
der Kartenständer hört nicht auf
sich zu drehn

Bernadette Duncan

abschied
ich erkenne dein gesicht
in den wolken

Hans Egerer

zwischen
den kondensstreifen
die ersten wildgänse

Hans Egerer

Barock-Kirche.
Aus dem zugemauerten Himmel
lugt ein Engel.

Volker Friebel

heimgekehrt
all die zerschossenen
träume

Alexander Groth

alte Hände
mit dem Piano
per du

Claus Hansson

nach dem Unfall
die Knochen neu geordnet
und das Leben

Sylvia Hartmann

Vorfrühling
Tulpen säumen den Weg zur
Supermarktkasse

Sylvia Hartmann

den kinderwagen
über den friedhof schieben –
mit der gießkanne

Bernhard Haupeltshofer

Temperatursturz
dein Duft
ein anderer

Birgit Heid

der Teich
in deinen Augen
das weite Meer

Hubert Heizmann

Heimweg –
meinem langen Schatten
auf den Fersen

Hubert Heizmann

ein Wort
fällt zum ersten Mal
von dir zu mir

Sandra Hilbert

nach dem Begräbnis –
Großmutters Lieblingskuchen
schmeckt heute anders

Kerstin Hirsch

Aschermittwoch
Und wieder trägt sie
ihre Maske

Deborah Karl-Brandt

Ende des Sommers –
in der schwarzen Filmdose
Asche von Papa.

Moritz Wulf Lange

Zoobesuch –
ein Junge beobachtet
Ameisen.

Moritz Wulf Lange

Der Bienenschwärmer
sucht den Nektar des Frühlings
am Holz im Kamin 

Inga Lapsch

duft des waldes
für immer gespeichert
im hintergrundbild

Georg Leng

Apfelblüte
wieder weiße
Schuhe tragen

Eleonore Nickolay

Pendlerzug
die vertrauten Gesichter
der Fremden

Eleonore Nickolay

Fuß-OP
meine Geduld
geht an Krücken

Heike Pfingsten-Kleefeld

die bäume so grün
mein akku
so rot

Kamil Plich

Mäandernder Fluss
Doch in der Spiegelung bleibt
Der Himmel ganz still

Elke Redeleit

Alter Bienenkorb
fährt auf der Holzkarre
den Blüten hinterher

Bernd Reklies

der Nachbar trägt
das Leben von gestern
in zwei Plastiktaschen

Renate Maria Riehemann

nach der OP
im Gesicht des Arztes
meine Zukunft

Renate Maria Riehemann

geschützte Arten
die Freude des Mädchens
am selbstgepflückten Strauß

Wolfgang Rödig

strandgutsuche
am spülsaum zwischen
wachen und traum

Tim Scharnweber

Ich lasse los.
Der Pfeil findet
meine Mitte.

Pia Schilberg

frag mich nicht – ruhig fließt das Wasser weiter

Angela Schmitt

Frühlingsanfang
in meinem Anorak
drei Kastanien

Marie-Luise Schulze Frenking

Frühlingsmorgen –
warten auf ein Wort
das seine Flügel spannt

Angelica Seithe

Fastenzeit
Geschmacksnerven
gehen auf die Jagd

Sulamith Sommerfeld

jurapfade –
die vielfalt der sprachen
im baumhabitat

Helga Stania

ufer unserer zivilisation …
wir erhöhen
die deiche

Helga Stania

jenseits der Hecke
Nachbarn, die wir nie kannten
verkaufen ihr Haus

Jan Weck

 

Die Jury stellt sich vor

Sebastian Salie:

Geboren wurde ich 1974 in Lüneburg, und aufgewachsen bin ich in der dazugehörigen Heide, wo ich nun, nach Jahren an der Küste und in den Bergen, wieder lebe – zusammen mit meiner lieben Gattin, drei fantastischen Töchtern sowie Hühnern, Hund und Katzen.

Seit Kindertagen liegen meine Interessen eher in kulturellen und sprachlichen Bereichen als in solchen, wo Berechnungen im Mittelpunkt stehen. So nimmt es nicht wunder, dass ich zu einem Lehrer für Deutsch, Geschichte und Politik-Wirtschaft geworden bin und die Sprache sowohl als Werk- als auch als Spielzeug zu schätzen gelernt habe.

Neben beruflich bedingter Schreiberei texte ich deshalb hier und da mal ein bisschen journalistisch und literarisch auf kleiner Flamme herum. In diesem Zusammenhang stieß ich unweigerlich auf das Haiku, das mich in seinen Bann zog und, nun ja: Seit 2018 bin ich in der DHG. Veröffentlichungen in diesem Bereich fanden bisher in Publikationen dieser Gesellschaft, in Anthologien und im Internet statt.

Findling
auf dem Weg durch die Heide
fest Händchenhalten

Sonja Raab:

Ich bin 1975 im niederösterreichischen Ybbstal geboren und aufgewachsen, seit 2007 verheiratet und durfte drei Kinder in die Welt bringen. Beruflich bin ich mit einem kleinen Kunsthandwerksgewerbe selbstständig, ich stelle in meiner Werkstatt traditionelle Klosterarbeiten und hochwertige, filigrane Drahtkunst her. Mit 18 Jahren hatte ich um die 60 Brieffreundschaften in der ganzen Welt, und meine Schreibsucht war bereits voll ausgeprägt. Seit 1997 beschäftige ich mich mit Haiku und habe verschiedenste Haiku-Foren „abgegrast“, bei „Haiga im Focus“ von Claudia Brefeld nehme ich heute noch regelmäßig teil. Als Kolumnistin und Autorin durfte ich 16 Jahre lang für verschiedene Zeitschriften schreiben, habe Texte in Kalendern und Zeitungen veröffentlicht und auch mehrere Bücher geschrieben. Bis vor etwa drei Jahren war ich Teil der Administration der Facebook-Gruppen „haiku-like“ und „Haiku-Bühne“, war immer wieder Jurymitglied für die Haiku- und Tanka-Auswahlen der Deutschen Haiku-Gesellschaft und sammle meine Silben mittlerweile fast nur noch in einem kleinen, handgeschriebenen Büchlein.

die melodie
auf meinem lungenflügel
du weinst

Ruth Karoline Mieger:

Ein kühler Frühlingstag 2009. Die Kursleiterin schickte uns in den Garten mit der Aufgabe, Eindrücke zu sammeln, um danach ein Haiku zu schreiben. Diese erste Begegnung mit dem Haiku blieb blass. Jahre später las ich in einem Buch von Lutz von Werder über das Haiku. Seither beschäftige ich mich mit dem Haiku. Übertragungen/Übersetzungen japanischer Haiku sowie Haiku deutschsprachiger Dichter*innen wurden zu meiner täglichen Lektüre.

Ich begann zu schreiben. Doch meine Kurzgedichte entwickelten sich erst allmählich zum Haiku.

Mein Haiku-Weg führte mich in die Wiesbadener Haiku-Gruppe; von dort 2013 in die Deutsche Haiku-Gesellschaft. Weil ich den Austausch mit Gleichgesinnten schätze, organisiere ich seit 2016 Haiku-Workshops in Wiesbaden.

Bei Spaziergängen in der Natur, auf dem Markt, beim Arzt, ja fast überall im täglichen Leben gibt es Eindrücke, die in das Haiku einfließen können. Haiku, die Raum für Interpretationen lassen, Haiku mit Humor oder Überraschungseffekt sprechen mich an. Manchmal spüre ich einen feinen Faden der Verbundenheit mit Haiku-Dichter*innen. Wenn mich Haiku mit einfachen Worten in tiefere Schichten führen.

auf der Friedhofsmauer
erste Pusteblumen
schweben himmelwärts

 

Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte die Redaktion an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken. Die nächste Auswahl (HTA-150) wird koordiniert werden von Eleonore Nickolay

 

Sonderbeitrag von Brigitte ten Brink

Brigitte ten Brink hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das sie besonders anspricht.

schweigen
die worte verloren
auf dem weg

Tim Scharnweber

Beim Lesen dieses Haiku trat mir ganz spontan das Bild eines Ehepaares vor Augen, welches viele, viele Jahre gemeinsam verbracht hat. Jeder kennt das Leben des anderen so gut wie sein eigenes, ein langer Weg wurde gemeinsam zurückgelegt. Dabei haben sich die Worte, die früher noch füreinander gefunden und auch empfunden wurden, im Laufe dieser Zeit peu à peu verabschiedet. Alles war so selbstverständlich geworden, dass nichts mehr gesagt werden musste. Ein schleichender Prozess bis hin zum Schweigen, weil es im Laufe der Zeit immer weniger eigenes und damit unterschiedlich Erlebtes zu berichten gab.

Mein nächster Gedanke aber war: So ausschließlich sollte dieses Haiku nicht gelesen werden. Es kann im Prinzip auf jede Beziehung zutreffen, in der sich die Partner auseinandergelebt und sich deshalb nichts mehr zu sagen haben und dies nicht nur bezogen auf Lebenspartnerschaften, sondern auch auf Freundschaften und nicht unbedingt nur auf langjährige. Auch in jungen und jüngeren Jahren kann es geschehen, dass man sich, nach einiger gemeinsam verbrachter Zeit, nicht mehr wirklich etwas zu sagen hat.

Es ist ein allgemeines Phänomen, welches dieses Haiku beschreibt. Es mag zwar in einer bestimmten Situation entstanden sein, erzählt aber über etwas, das sich immer wieder in den verschiedensten Beziehungen ereignen kann.

Was mich jedoch im Grunde an diesem Haiku so berührt, ist das Bedauern über den Verlust, welches in den wenigen Worten bzw. Silben, die es benötigt, mitschwingt. Die Worte sind auf dem Weg verlorengegangen, einfach so, fast beiläufig, ohne dass es bemerkt, ohne dass es rechtzeitig und auch bewusst wahrgenommen wurde. Es ist einfach geschehen. Welche Konsequenzen könnten nun aus dieser Erkenntnis gezogen werden? Sie können die Trennung bedeuten oder aber im Verharren, im sich Arrangieren münden.

Um zu dem am Anfang erwähnten Ehepaar zurückzukehren, denke ich, es wird sich in dem Schweigen einrichten. Man kann sich auch ohne Worte verstehen und, wenn auch mit einer gewissen Wehmut, an Zeiten erinnern, in denen es anders war, und von diesem Wissen zehren.

 

Tanka-Auswahl der HTA

Die Auswahl wurde von Claudia Brefeld, Horst-Oliver Buchholz und Sylvia Hartmann vorgenommen. Sie wählten 5 Tanka von 4 Autoren und Autorinnen aus. Es werden max. zwei Tanka pro Autor aufgenommen.

„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – hier wird ein Tanka besprochen.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

gefällt
der alte Kirschbaum –
versonnen
tastet Großvater
über Jahresringe

Friedrich Winzer

In Kindheit und Jugend schien mir jedes Jahr eine Ewigkeit zu dauern. Inzwischen fliegen die Jahre nur so dahin. Das erschreckt mich. Was ist geblieben von der erlebten Zeit? Bei einem Baum schlägt sich jedes Jahr in Gestalt eines Jahresringes nieder. Und bei uns Menschen? Bin ich durch Erlebtes reifer, gefestigter, weiser geworden? Hin und wieder vielleicht, aber oft genug tappe ich auch wieder in die Fallen von Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit. Zweierlei – das Staunen über die Schnelllebigkeit der Zeit, aber auch über die Festigkeit des Baumes, kommt für mich in dem versonnenen Abtasten des Baumes durch den Großvater im Tanka zum Ausdruck – ebenso wie die Erinnerung an die Begrenztheit unseres Lebens. Denn an einen Baum, der im Lauf der Jahre morsch geworden ist, wird die Axt angelegt, wie es bei diesem alten Kirschbaum geschehen ist. Vielleicht hat der Blick auf den Baum den Großvater über viele Jahre hin begleitet. Jetzt ist der Baum gefällt worden – und dem Großvater auf dem Weg alles Irdischen vorangegangen. Auch wenn die Grenzen unseres menschlichen Lebens immer weiter hinausgeschoben werden – irgendwann kommt das Ende. Ein leises und damit dem Thema „Vergänglichkeit“ angemessenes Tanka!

Ausgesucht und kommentiert von Sylvia Hartmann

 

 Die Auswahl

in der Müll-Ausstellung
eine geklebte Teeschale
aus Japan
ich denke an meine
unverbrüchliche Liebe

Birgit Heid

auf dem Bahnsteig
unseres Dorfes
geht die Sonne auf
im Gesicht des Fremden
den ich grüße

Marie-Luise Schulze Frenking

frühlings-
-rundgesang …
ich blicke
zum himmel im osten
der krieg

Helga Stania

gefällt
der alte Kirschbaum –
versonnen
tastet Großvater
über Jahresringe

Friedrich Winzer

Sommerhitze …
aus offenen Fenstern
Gezeter
und das Klagen
einer Klarinette

Friedrich Winzer

 

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