Im Zeitraum November 2010 bis Januar 2011 wurden insgesamt 176 Haiku und 18 Tanka von 48 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Januar 2011. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.

Die Werke wurden vor Beginn der Auswahl anonymisiert. Die Jury bestand aus Gerd Börner, Georges Hartmann und Helga Stania. Die Koordination hatte Claudia Brefeld. Die Mitglieder dieser Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Werke (22 Haiku und 2 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet.

„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“  –  unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein Werk auszusuchen (noch anonymisiert) und hier vorzustellen und auch kurz zu kommentieren.

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

Ausgesucht und kommentiert von Gerd Börner:

Sonnenuntergang –
den Mond entdecke ich erst
beim Ruf der Dohle.

Ulrich Beyling

(nicht in die Auswahl gekommen)

Farbenprächtig verschwindet das Licht hinter dem Horizont. Das Spektakel dieses glühenden Sonnenuntergangs fasziniert den Beobachter derart, dass ein anderes Ereignis noch nicht wahrgenommen wird. Erst durch den Ruf der Dohle suchen wir mit dem Autor spontan den Himmel und die Baumwipfel ab – und staunend entdecken wir den stillen Aufgang des Mondes. Beim Krächzen des kleinen Rabenvogels wenden wir uns ab vom Lärm der Farben und genießen die aufkommende feine Stille des Abends. Trotz traditioneller Silbenstruktur gibt es keine überflüssigen Worte, kein Füllsel, die die Silbenzahl bedienen. Das Haiku ist in kraftvollen Bildern komponiert und begeistert durch seine Synästhesie, die wie nebenbei, mehrere Sinne anspricht.

Ausgesucht und kommentiert von Georges Hartmann:

Krippenspiel Maria rückt ihren Bauch zurecht

Roswitha Erler

Humor ist in der Haiku-Szene eine eher mit Vorsicht umgesetzte Angelegenheit. Possen reißen, Witze machen oder sich wie ein Comedian zu produzieren hat keinen sonderlich guten Ruf, weil es als flüchtige Kunst gilt, die  für den Augenblick zwar begeistert, aber nicht haften und somit eher substanzlos  bleibt.  Und dann auch noch einzeilig und bloß 12 Silben … Das Haiku

Krippenspiel Maria rückt ihren Bauch zurecht

beschreibt eine von Kindern  in der Kirche vor Publikum gespielte Szene. Die unbefleckte Empfängnis, von der sich mancher fragt, wie das wohl geht und dann diese unschuldige Geste eines sich den Bauch zurecht rückenden Mädchens. So erwachsen und schauspielerisch gekonnt denke ich zuerst, um dann  auch die andere Dimension zu erkennen. Nichts Göttliches wird mit dieser Geste unterstrichen, sondern die ganz normale Menschwerdung. Es zieht fürchterlich schmerzhaft im Bauch, die Wehen setzen ein und Maria ahnt, dass es bald los gehen wird. Ich spüre instinktiv, wie der Pfarrer ungläubig erstarrt, sich in den Kirchenbänken erste Unruhe breit macht und dann ein erstes mit der Hand vor den Mund gehaltenes, leises Lachen zu hören ist, das immer lauter wird, um dann wieder abrupt zu verstummen. Ich empfinde das Haiku auch als Frage an die Kirchenoberen, die außerirdisch anmutende Zeugung nachvollziehbar zu erklären, während das Kind die uns allen bekannte Antwort mit seiner Geste zurecht rückt. Ein Haiku, über das ich zunächst schallend gelacht habe, bevor ich stumm zu applaudieren begann. Es erfüllt zwei von mir überaus geschätzte Kriterien, selbst wenn es vom Autor oder der Autorin so nicht gemeint sein sollte:  Eine humorvoll umgesetzte Beobachtung und eine darin versteckt inszenierte, sehr nachdenklich stimmende Fragestellung mit der unterschwelligen Kritik, dass Glauben immer auch ein etwas nicht Wissen ist …

Ausgesucht und kommentiert von Helga Stania:

Ich höre zu.
Wir reden miteinander,
ich höre zu.

Hildegund Sell

Mir gefällt dieser knappe, emotionslose Ton, in dem das Haiku gehalten ist. Die Argumente sind vielleicht ungleich verteilt. Warum wählt ein Partner das Zuhören? Bleibt ihm keine andere Wahl?
Sind es zwei oder mehrere Gesprächspartner, von denen nur einer zuhört?
Hier wird nicht nur gehört sondern zugehört. Eine seltene Gabe, ein Geschenk für den oder die Gesprächspartner.

Die Auswahl

Sommermorgen – kein
Windhauch hindert die Feder,
herab zu schweben.

Ulrich Beyling

die Wassertropfen
hören
wie die Zeit vergeht

Michael Denhoff

Krippenspiel Maria rückt ihren Bauch zurecht

Roswitha Erler

Frühlingsanfang.
Zwischen bloßen Stämmen
der Himmel.

Volker Friebel

Das Gleis entlangsehen,
bis die Biegung es fortnimmt.
Wolken.

Volker Friebel

Das Blau des Himmels,
am Abend unergründlich
noch immer.

Volker Friebel

auf dem Weg
zum Horizont – die Feder
verloren

Gitta Hofrichter

Das Huhn ist verwirrt –
bei seinen Eiern liegen
drei Kastanien

Ria Isler

frostiger Wind
zwischen Weidepfählen
ein Fischreiher

Silvia Kempen

Fernzug-Durchfahrt
im Provinzbahnhof bleibt
ein Hauch von Welt

Gérard Krebs

Unverhofft
die Wärme
in deiner Stimme

Ramona Linke

Unterm Wolkenmond
den gewohnten Pfad hinab
… vergilbte Bilder

Ramona Linke

Hahnenfrühe
im Schilf
flüstert der Herbst

Ramona Linke

Den Rücken zur Nacht –
in mein Lauschen
klickt sich ein Feuerzeug

Ramona Linke

am fluss
sein bild vom himmel
wird nie fertig

René Possél

abendsonne
auf dem geeggten acker
lichtkrumen

René Possél

unterwegs
auf so vielen bahnhöfen
komme ich nicht an

René Possél

Kerzenschimmer
die schwarz lackierten Augen
des Pianisten

Gabriele Reinhard

Ich höre zu.
Wir reden miteinander,
ich höre zu.

Hildegund Sell

Kastanienbraun
fließt ihr Haar
über seine Schulter

Kurt F. Svatek

Als ob sie lauschte,
die Blüte, dem Flügelschlag
der Schmetterlinge …

Klaus-Dieter Wirth

Zu traurig ist ein
neuer Tag ohne Worte
am nassen Morgen
schreibe ich wenigstens ein
minderjähriges Gedicht.

Maren Schönfeld

Sonne verbirgt sich,
bringt den Nebel zum Leuchten,
lockt Blau vor den Schnee.
Der einfallende Abend
spielt seine eignen Farben.

Hildegund Sell

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