Im Zeitraum November bis Januar 2012 wurden insgesamt 242 Haiku und 10 Tanka von 62 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Januar 2012. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.
Diese Werke wurden vor Beginn der Auswahl von Claudia Brefeld anonymisiert, die auch die gesamte Koordination hatte. Die Jury bestand aus Gérard Krebs, Simone K. Busch und Ingrid Petrasch. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.
Alle ausgewählten Werke (40 Haiku und 1 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Werke pro Autor/in aufgenommen.
„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein Werk auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Claudia Brefeld
Ein Haiku, das mich besonders anspricht
Ausgesucht und kommentiert von Gérard Krebs:
Eistanz –
Die Möwe und
Der Fisch
Werner Theis
Allein schon durch seine Kürze zieht dieses Haiku die Aufmerksamkeit auf sich. Nicht dass ein Haiku immer unbedingt so kurz sein muss, aber im vorliegenden Text ist die Kürze angebracht. Alles Unnötige oder Überflüssige ist hier weggelassen. Weder gibt es hier ein schwerfälliges Wort noch eine komplizierte Syntax. Das verleiht dem Text Leichtigkeit.
Mit dem Eistanz ist die Jahreszeit genannt, die Szene spielt sich im Winter ab. Die Bewegungen von Möwe und Fisch – man stelle sich das Auf und Ab und die Lichtblitze vor – nehmen sich auf den ersten Blick aus wie ein Tanz auf dem Eis. Bei genauerer Betrachtung, beim zweiten Blick, ist das Bild nun ganz konkret (und weniger „schön“): eine Möwe hat sich einen Fisch geschnappt und „tanzt“ mit ihm auf dem Eis. Die beiden Bilder (Eistanz<->Möwe und Fisch) beinhalten einen Gegensatz und sind durch einen (als kireji dienenden) Gedankenstrich voneinander getrennt. Dadurch ergibt sich auch der für ein Haiku charakteristische Rhythmus.
Wir wohnen einer ganz gewöhnlichen Naturszene bei, der Autor/die Autorin hält sich ganz zurück, urteilt nicht. Wir sehen für einen ganz kurzen Moment einen Eistanz, dann eine Möwe einen Fisch verzehren. Es ist – für ein Haiku ja nicht unwichtig – dem Leser/der Leserin selbst überlassen, sich die Szene ganz auszumalen und eine Bedeutung darin zu finden. Ich verstehe es so: Fressen und gefressen werden, das ist in der Natur, wie schön sie uns auch erscheinen mag, ein ganz normaler Vorgang und – wir sind davon nicht ausgeschlossen, weder im konkreten noch im übertragenen Sinn. –
Ich hätte der etwas antiquierten Großschreibung am Zeilenanfang (Die/Der) bei einem doch recht modern anmutenden Text die Kleinschreibung vorgezogen, aber das ist eine Kleinigkeit und eine Geschmackssache. Jedenfalls werde ich bei meinem nächsten Spaziergang am Wasser sicherlich wieder gerne an dieses Haiku denken!
Ausgesucht und kommentiert von Simone K. Busch:
Neujahrsmorgen
am Stellwerk
rostet die Zeit
Ramona Linke
Der erste Morgen im neuen Jahr. Der erste Spaziergang vielleicht, nach dem ersten Kaffee oder Tee. Und dann ist da diese Anlage der Eisenbahn, ein Stellwerk. Allein das Wort löst bei mir viele Assoziationen aus. Ob es noch in Gebrauch ist? Ich sehe ein altes Gebäude an stillgelegten oder nur noch wenig genutzten Bahnschienen. Die Natur erobert es sich zurück. Hinter diesem Bild ahne ich auch verlassene und dem Verfall preisgegebene Stadtteile. Die Formulierung „rostet die Zeit“ ist ungewöhnlich und treffend zugleich. Die Eisenteile des Stellwerks sind mit einer Patina aus Rost überzogen. Die vergangene Zeit wird dadurch sinnlich erfahrbar. Gleichzeitig weist die Formulierung über die Gegenwart hinaus in die Zukunft. Spannend ist an diesem Haiku auch, was das Bild des Stellwerks in der Gegenüberstellung mit dem Neujahrsmorgen bewirkt. Für mich scheint sich der erste Morgen im neuen Jahr hier endlos auszudehnen, der Alltag ist fern und der Mensch hat noch „alle Zeit der Welt“.
Ausgesucht und kommentiert von Ingrid Petrasch:
Waldfriedhof.
Ein Schmetterling wirbelt im Klang
des Totenglöckchens.
Volker Friebel
Dass mit dieser Rubrik den vom Hin und Her der Meinungen noch bewegten Juroren ein Wechsel vom „Meckereck“ heraus in eine Art Chill-Out-Room geboten wird, finde ich schön. Ich entscheide mich für ein Haiku, das alles hat, was ein Haiku haben muss.
Kürze, sofortige Eingängigkeit: Kein überflüssiges oder falsch platziertes Wort hemmt das Verstehen. Schneidewort: hier ist es ein kurzes Innehalten: Woher der Klang? Dann weiß man’s. Und stutzt. Ein Totenglöckchen? – Am Anfang steht, wo wir sind! Ein Schmetterling hat es uns vergessen lassen.
Gegenwart und „geläufige“ Lebensumwelt: „Waldfriedhof“: Das ist ein Ort, den wir alle kennen, und nicht unbedingt nur in betrüblichem Zusammenhang, und der selbst bei den nüchternsten Berlinern recht beliebt ist. Ruhe, Blumen sogar im Winter, Vogelgezwitscher, unbesetzte Bänke, und „Literatur“ hat man auch: Kürzestverse!
Sinnlichkeit und Synthese: „Ein Schmetterling wirbelt im Klang“: Bewegung und Geräusch – gleichzeitig, leicht und leise und irgendwo zwischen Himmel (ich stell ihn mir blau vor) und Erde (ich stell sie mir weiß vor). Farbe und Klang wirbeln ineinander. Bewegt der Schmetterling den Klang? Bewegt der Klang den Schmetterling?
Sinn und Doppelsinn: erscheinen nach dem Schnitt, am Ende der zweiten Zeile: „des Totenglöckchens“: Was den Schmetterling hier flattern lässt, was ihm Luft und Klang unter die zarten Flügel gibt, das scheint tatsächlich das Friedhofsglöckchen zu sein, eine Todesbotin, eine der zierlicheren und weniger dramatischen. – Ist der Schmetterling irgendwo ein Symbol für die Seele? Wenn ja, dann gibt es kaum ein schöneres Bild als dieses.¹
Last but not least erinnert mich dieses Haiku an eines der schönsten von Bashô (1688), hier in der Übersetzung von Kenneth Yasuda:
Beyond cherry brumes / Is the bell at Asakusa / Or Ueno that booms?
Hana no kumo kane wa Ueno ka Asakusa ka
Ich sehe hier, gerade in der englischen Fassung, das lautlose Fallen der Kirschblüten und höre das in der gleichen Luft schwebende „Boom“ der Glocken in der Stadt Tokio, und welch seltsame Beziehung sie eingehen, so, als gäben die Töne den Blättern Aufwind – und als hätten tausende am Baum und in der Luft wirbelnde Blüten den Glockenton aufgesogen.
Die Stimmung des Haiku von Basho ist für mich in diesem Haiku hier wiedergekehrt: Klang, Farbe, Bewegung und Symbol (ein Todes- und ein Lebenssymbol!)¹ begegnen sich – nicht für jeden sichtbar, aber sicherlich für den, der darin ein Haiku-Moment aufblitzen sieht.
¹ Anm.: In der griechischen Mythologie waren Schmetterlinge (griechischer Name Psyché) Archetypen der Seele und zugleich Sinnbilder für ihre Unsterblichkeit. – Auf christlichen und jüdischen Friedhöfen findet man den Schmetterling als Symbol der Wiedergeburt (z.B. auf dem Grabstein des Dichters E. Th. A. Hoffmann (1776 – 1822) am Halleschen Tor in Berlin-Mitte). Das Sinnbild verweist hierbei auf die Seele, die sich mit dem Tod aus der unscheinbaren, sterblichen Hülle des Menschen befreit. – Einer der bekanntesten Familienclans im Japan des 12. Jh., die Taira, trug den „Ritterfalter“ im Wappen. (Aus: Wikipedia)
Die Auswahl
Klare Winternacht.
Durch die Gassen strömt
der Duft von Zimt.
Klemens Antusch
Apriltag –
in der Pfütze kräuselt
sich die Sonne
Christa Beau
Kirschblüten fallen…
wir haben einander
berührt
Christa Beau
Zigarettenqualm
Auch seine Rosen klettern
auf meinen Balkon …
Winfried Benkel
und ich dachte
– Name geschwärzt –
wäre ein Freund
Gerd Börner
auf der Treppe
wispern zwei …
Wichteltauscher
Ralf Bröker
kurz vor der Abfahrt
und der Torwart
steht abseits
Ralf Bröker
nachdem du gingst
goldene schnipsel
von deinem stern
Bernadette Duncan
silvester
der töpfer prüft
die letzte schale
Bernadette Duncan
Am Neujahrsmorgen –
lautlos berührt der Schnee
den Spiegel des Sees.
Charlotte Eckert
schnell den Schritt zur Seite
Franzosenkäfer
bei der Paarung
Roswitha Erler
Aus dem Spiegelglas
betrachten Kinderaugen
das alte Gesicht
Christian Faust
Waldfriedhof.
Ein Schmetterling wirbelt im Klang
des Totenglöckchens.
Volker Friebel
lichtloser Morgen
ein Rotkehlchen fängt
meinen Blick
Gerda Förster
Karnevalsmorgen…
die venezianische
Maske unterm Bett
Hans-Jürgen Göhrung
in der tüte
erdige herzkartoffeln
zwei
Ruth Guggenmos-Walter
früher Frost
auf glitzernden weiden
spinnennester
Margareta Hihn
Albwinter
neben der Fuchsspur
meine Tritte
Angelika Holweger
Hochbrücke –
am Geländer ein Bündel
rote Rosen
Angelika Holweger
durch den Hühnergott
Schaumkronen
auf fernen Wellen
Silvia Kempen
Wintersonne
am Spülsaum ein Bernstein
fand mich heute
Silvia Kempen
In der Nacht
im Gefängnis der Mond
hinter Gittern
Petra Klingl
le cri de Merlin
hors de la forêt sombre –
il n’est plus perçu
der Ruf des Merlin
aus den nachtdunklen Wäldern
verhallt ungehört
Wolfgang Liebelt
Heiliger Abend.
Der Engel aus Ton
hat kein Gesicht.
Ramona Linke
Neujahrsmorgen
am Stellwerk
rostet die Zeit
Ramona Linke
vom Foto
lächelt der Fremde
der du heute bist
Ina Müller-Velten
Morgendämmerung.
Ein schwarzer Kater tastet
sich über das Eis.
Gontran Peer
Glitzernder Bach
der silberne Faden verwebt
sich im Tal
Frauke Reinhardt
im fremden Bach
die Stimmen
von daheim
Gabriele Reinhard
Museum in Berlin –
Touristen aus Griechenland
bewundern die Antike
Dragan J. Ristić
Winterwald
das taube Kind betrachtet
Luftblasen unterm Eis
Lydia Royen-Damhave
Apfelsaftschorle
unsere Strohhalme
berühren sich
Lydia Royen-Damhave
auf den Wangen
die ersten Fältchen
wenn du lächelst
Boris Semrow
Die Krähe unterschätzt
auch die Katz hat
Federn gelassen
Monika Smollich
tief in der Schlucht
Zwiesprache halten
mit einem Vogel
Helga Stania
am Ende
meiner Anstrengungen
Wildblumen
Dietmar Tauchner
Eistanz –
Die Möwe und
Der Fisch
Werner Theis
Eine Eule sitzt
auf einem Ast der Zeder –
neben ihr der Mond.
Eckehart Wiedemann
Elch im See
von Maul und Mähne
tropft satt das Licht
Klaus-Dieter Wirth
gestrandet
am Fuße des Leuchtturms
der Mond
Klaus-Dieter Wirth
Wolken jagen
über Gischtgarben
die Klarheit
uns zu verlieren
im Fluss der Zeit
Helga Stania