Im Zeitraum November bis Januar 2012/2013 wurden insgesamt 250 Haiku (davon mussten 3 aus der Wertung heraus genommen werden, da diese an anderer Stelle bereits veröffentlicht waren) und 14 Tanka von 61 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Januar 2013. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.

Diese Werke wurden vor Beginn der Auswahl von Silvia Kempen anonymisiert, die auch die gesamte Koordination hatte. Die Jury bestand aus Bernadette Duncan, Gerda Förster und Horst-Oliver Buchholz. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Werke (32 Haiku und 0 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Werke pro Autor/in aufgenommen.

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

Ausgesucht und kommentiert von Bernadette Duncan:

verschwiegen

in Sütterlin:

ihre Gefühle

 

Helga Stania

Verschwiegen wartet dieses Haiku darauf, dass der Leser etwas verweilt. Dann beginnt sich ein Bild zu erschließen: Es ist Winter. Beim Kramen fällt einem ein Brief in die Hände, geschrieben von einer Frau in der alten Handschrift, wie sie Anfang des Jahrhunderts gelehrt wurde. Vielleicht eine Mutter, Großmutter oder alte Tante, um deren schweres Schicksal wir vom Hörensagen wissen. Dennoch: Die gestochen schönen Buchstaben verraten nichts. Vergeblich suchen wir, mühsam lesend, in den beschriebenen Äußerlichkeiten nach Anhaltspunkten ihres Befindens, das nicht nur in den Windungen ihres Herzens sondern auch in den Ecken und Rundungen der Buchstaben verborgen bleibt.

Die Ausgewogenheit der Schrift ist im Lesen dieses Dreizeilers erlebbar, z. B. hält „Sütterlin“ dem Allerweltswort „Gefühle“ das Gleichgewicht. Klanglich ist das Haiku ein wahres Kleinod. Die Wiederholungen von v (f), i, g, l und ü runden es zu einem Ganzen ohne es abzuschließen. Der Rhythmus leitet den Leser – mit kurzer Zäsur nach der zweiten Zeile – sicher durch das Gedicht, um ihn am Schluss behutsam zu entlassen … vielleicht auf einen Spaziergang durch die verschneite Landschaft, in Gedanken an längst verstorbene und nie recht gekannte Menschen.

Ausgesucht und kommentiert von Horst-Oliver Buchholz:

Antiquitäten-Geschäft.

Wir betrachten

die Eisblumen.

 

Volker Friebel

Antiquitäten-Geschäft. Dort werden sie ausgestellt und angeboten, die guten alten Dinge, solche die es wert sind, erhalten und bewahrt zu werden. Zumeist sind sie auch materiell wertvoll; die teuren alten Möbel, das edle Silber, vieles mehr. Jedes Stück weiß eine Erinnerung, eine Geschichte, eine Heimat. Die Szene in diesem Haiku ist gut gesetzt. Dann die Wendung: nicht das Alte und Stete findet Beachtung. Es sind die Eisblumen, die flüchtigen. Die Antiquitäten verweisen in die Vergangenheit, die Eisblumen stehen für das Gegenwärtige – ein schöner Gegensatz, der sich hier auftut. Ein weiterer Gegensatz: die Antiquitäten sollen verkauft werden, es geht ums Feilbieten, ums Geschäftliche; es ließe sich auch zugespitzt sagen: um den schnöden Mammon. Wie anders dagegen die Eisblumen. Vermutlich blühen sie am Fenster (öffnendes Element), vielleicht am Schaufenster? Sie sind nicht verkäuflich, man kann ihrer nicht einmal habhaft werden. Sie blühen und vergehen in der Sonne. Dies Schöne in Vergänglichkeit findet die Aufmerksamkeit, nicht das vordergründig Wertvolle, die Antiquitäten. Auf den Punkt am Ende der Verse hätte man wohl verzichten können, um den offenen Charakter des Haiku nicht zu gefährden. Dennoch: ein Haiku, das ich gerne ins Schaufenster stelle – zum Verweilen und Betrachten.

Ausgesucht und kommentiert von Horst-Oliver Buchholz:

Dürrezeit

einer fremden Frau

grüne Augen

 

Dietmar Tauchner

Dürrezeit – der Begriff lässt viele Lesarten zu. Ist es einfach heiß draußen, der Rasen braun geworden unter Sommerhitze, die Ernte gefährdet, der Eintrag bedroht? Oder ist es Verdorrtes in einem selbst, Einsamkeit? Sicher ist: in karger Zeit schärfen sich die Sinne. Diese hellwachen Sinne blicken hier in „grüne Augen“, und sie blicken in fremde Augen. Grüne Augen sind außergewöhnlich, es wird also Besonderes gesehen, es ist nicht der gewohnte Anblick. Und Grün ist die Hoffnung. Diese Hoffnung aber vermittelt sich hier nicht durch Vertrautes, durch Bewährtes, auf das Hoffnung sich sonst oft gründet. Sie kommt (vermutlich unerwartet) wie beiläufig daher in „einer fremden Frau“. Das ist in diesen kargen Worten besonders. Es sind dürre Verse, die bei wiederholtem Lesen reiche Ernte versprechen.

Ausgesucht und kommentiert von Gerda Förster:

der kleine Tag …

eine Fliege setzt sich

auf ein Mobile

 

Gerd Börner

Um die Wahrheit zu sagen: es war keine Liebe auf den ersten Blick. Andere Haiku hatten es leichter, meine Zustimmung zu bekommen. Aber „der kleine Tag“ blieb hartnäckig in meinem Gedächtnis und ließ mich nicht mehr los, bis ich seinem Charme erlag.

Ein einfaches, konkretes und offenes Haiku, ohne ein Wort zuviel, mit einer Fliege als handelnde Person.

Fliegen sind nicht so ungewöhnlich in der Haikuwelt. Häufig befindet sich das arme Tier dann in einem Glas Wein oder Wasser und kämpft um sein Leben.

Diese hier setzt sich auf ein Mobile und bringt damit auch die Gedanken des Lesers in Bewegung. Denn da ist „der kleine Tag“, eine Wortschöpfung, die es mir angetan hat und die für mich der Schlüssel zu diesem Haiku ist.

Der „große Tag“ ist uns allen geläufig, jeder von uns könnte sicherlich einen aus seinem Leben nennen. Aber was ist mit dem „kleinen Tag“ gemeint?

Ist es nur der Tag einer (Eintags)fliege, der bisher ereignislos verlief und nun mit einer Fahrt auf dem Mobile seinem Höhepunkt zustrebt? Das wäre schön für die Fliege, aber vielleicht zu wenig für ein Haiku.

Wahrscheinlicher ist, dass es auch einen Beobachter gibt, dessen Tag gemeint ist.

Ein Tag, an dem nicht viel geschieht, an dem jemand Zeit und Muße hat, seinen Gedanken nachzugehen und die einfachen Dinge in seiner Umgebung wahrzunehmen.

Vielleicht beobachtet er die Fliege, sieht, wie das kleine Tier das Mobile in Bewegung versetzt und dadurch eine Veränderung im Raum bewirkt. Das könnte auch seinen Gedanken eine andere Richtung geben, vielleicht einen Anstoß zu neuen Ideen und Sichtweisen.

Möglich wäre auch , dass jemand, z.B. durch Krankheit und Alter, ans Bett gefesselt ist und als einzigen Blickfang dieses Mobile hat. Es sind verschiedene Szenarien und Sichtweisen auf das Haiku denkbar.

Aber das alles erklärt noch nicht, warum es sich mir so nachdrücklich eingeprägt hat.

Ist es seine Leichtigkeit oder sein versteckter Humor, seine Bescheidenheit und Ungekünsteltheit?

Ja, das alles spielt gewiss eine Rolle, aber da ist noch mehr.

Es ist vor allem sein Nachklang, das nicht Benennbare und der Raum, der sich für mich zwischen den Zeilen auftut.

Ein Raum, in dem ich still werde, in dem meine Gedanken Flügel bekommen und zusammen mit der Fliege Kapriolen schlagen oder zur Ruhe kommen können, einen kleinen Tag lang, und darüber hinaus.

Die Auswahl

Fasnachtskehraus,
beim Häsradua – Jessas –
hangats Herz em Gwand!

Fasnachts-Kehraus,
beim Narrenkleid-Ablegen – Jesus –
hängt das Herz im Gewand!

Johannes Ahne

Neujahrsmorgen,
die Champagnerflasche
ungeöffnet.

Johannes Ahne

silberscheibe mond
in samt’ger nachtschatulle
mein hochzeitsgeschenk

Dirk-Uwe Becker

der kleine Tag …
eine Fliege setzt sich
auf ein Mobile

Gerd Börner

Januarmorgen
die Knochen am Ufer
neu geordnet

Simone K. Busch

Kondolenzschreiben
zwischen zwei Wolkenkratzern
klemmt der Mond

Simone K. Busch

Antiquitäten-Geschäft.
Wir betrachten
die Eisblumen.

Volker Friebel

Auf dem Waldweg stehen bleiben,
im Lichtfleck.
Schmelzwasser rauscht.

Volker Friebel

Kuchen nimmt sich
die alte Frau, schaut beim Kauen
hinaus in den Schnee.

Volker Friebel

Winterbesuch …
vorsichtig reguliert er
die Kaminzuluft

Hans-Jürgen Göhrung

Runde um Runde
über den Gefängnishof
fliegen Bussarde

Hans-Jürgen Göhrung

in der Nachbarschaft …
unter seiner Last der Baum
einfach eingeknickt

Hans-Jürgen Göhrung

will gar nicht hören
was der rotspecht ins holz hackt
nehme meinen hut

bernhard haupeltshofer

Blattgrün ruhen Kois
am Grunde des Gartenteichs.
Tee in der Schale.

Sebastian Hengst

Geleinte Hemden.
Der Wind lehrt einer Boygroup
Choreographie.

Sebastian Hengst

Entrümpelung –
im Spielzeugbauernhof
lauert noch immer der Fuchs

Angelika Holweger

wieder daheim –
im Traum redet er
eine fremde Sprache

Angelika Holweger

Vernissage
das zarte Rot
ihrer Wangen

Ramona Linke

Clowntheater –
ich bin Zuschauer
der lachenden Kinder

Christian Michel

Die kleine Amsel –
die ganze Straße auf und ab
füllt sie mit Gesang

Ingrid Petrasch

Klatschmohn
wir üben freihändig
zu fahren

Gabriele Reinhard

die Zöpfe der Weiden
ein Nachen verlässt
den Liegeplatz

Gabriele Reinhard

Allein am Eßtisch.
Der Mann mit der Zigarre
läßt es sich schmecken.

Wolfgang Rödig

Ende des Stegs
ein Schwan gleitet
in die Dämmerung

Lydia Royen Damhave

verschwiegen
in Sütterlin:
ihre Gefühle

Helga Stania

Im Botanischen Garten
den Bach entlang
wilder Rhabarber

Heike Stehr

Dürrezeit
einer fremden Frau
grüne Augen

Dietmar Tauchner

Auf der Terrasse
schauen wir uns schweigend an –
der Waschbär und ich.

Eckehart Wiedemann

Traubenernte
ungelesen die Stille
im lohgelben Laub

Klaus-Dieter Wirth

Irrlichternd
das Blau des Rettungswagens
im herbstlichen Grau

Peter Wißmann

Morgenschnee
Der Stacheldrahtzaun
trägt Häubchen

Peter Wißmann

Regenpause
in einer Sonnenlache
baden Katzen

Barbara Zeizinger

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