Im Zeitraum November 2014 bis Januar 2015 wurden insgesamt 334 Haiku und 12 Tanka von 80 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Januar 2015. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.
Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert. Die Jury bestand aus Elisabeth Kleineheismann, Eva Limbach und Boris Semrow. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein. Alle ausgewählten Texte (36 Haiku und 1 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Werke pro Autor/in aufgenommen.
„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein oder bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Der nächste Einsendeschluss für die Haiku/Tanka-Auswahl
ist der 15. April 2015.
Es können nur bisher unveröffentlichte Werke eingereicht werden. Keine Simultaneinsendungen. Die Einsendungen bitte im Mail-Body, keine angehängten Dateien.
Bitte senden an: auswahlen@deutschehaikugesellschaft.de
Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken. Das macht Spaß und man lernt viel dazu.
Petra Klingl
Ein Haiku, das mich besonders anspricht
wieder gefunden
unter braunen Blättern
Karo-König
Angelica Seithe
Ach, da liegt er ja, der Karo-König!
Den ganzen Winter über wurde er vermisst im Kartenspiel. Keiner in der Familie hatte ihn gesehen, in keinem Zimmer des Hauses wurde er gefunden. Aber wenn ein Kartenspiel nicht vollständig ist, kann man nicht damit spielen, nicht wirklich. Und im Winter sind die Abende so lang, da wird oft und gerne gespielt, Mau-Mau, einundfünfzig tot, Skat und was alles noch so möglich ist, sogar Zaubertricks werden mitunter in der Familie vorgeführt.
Nun ist das neue Jahr schon in die Tage gekommen, alte Blätter liegen noch im Garten, manche sind im Winter zu kleinen Häufchen geschoben worden. Es wird langsam Zeit, in den Garten zu gehen und sich zu betätigen. Das Wetter ist mild, der Rechen steht bereit, los geht es. Die braunen Blätter müssen weg, ehe die ersten Krokusse sprießen.
Ach, da liegt er ja, der Karo-König!
Den ganzen Winter…s. o.
Zurück zum Haiku: „wieder gefunden“, die Einleitung schon spannend, „unter braunen Blättern“ zeigt den Bezug zur Jahreszeit und dann in der dritten Zeile die Überraschung, der „Karo-König“. Damit öffnet sich Neues. Vermutlich der Frühling. Herz-Bube oder Herz-König wäre auch schön gewesen, oder sogar Herz-Dame (?).
Für mich ein sehr gut gelungenes Haiku, das mir viel Freude bereitet.
Ganz zum Schluss steigt die Frage auf: Wie sieht der König denn aus, nachdem er so lange unter den braunen Blättern gelegen hat. Ich bin gespannt auf ein nächstes Haiku.
Ausgesucht und kommentiert von Elisabeth Kleineheismann
Teezeremonie
ihre Hände –
Porzellan
Eleonore Nickolay
Vier Worte, zwölf Silben, über drei Verse verteilt: erst fünf, dann vier, dann drei. Zentriert untereinander geschrieben, verjüngen sich die Verse nach unten und ergeben das Bild eines Gefäßes, einer Schale, wie sie wohl auch gereicht werden würde in einer
Teezeremonie
ihre Hände –
Porzellan
Mit der Teezeremonie beginnt das Haiku und lässt dabei einen sorgsam gestalteten Ablauf wach werden: der Garten, die Begrüßung, Reinigung, das Teehaus. Das Haiku endet mit Porzellan, aus dem das in der Zeremonie verwendete Geschirr gefertigt sein mag. Dazwischen: ihre Hände.
Ihre Hände verweisen auf ein weibliches Gegenüber, eine weibliche Figur, die jene Klammer zwischen Teezeremonie und Porzellan zum Leben erweckt. Gleichwohl verzichtet das Haiku auf handelnde und beschreibende Elemente. Es enthält weder Verb noch Adjektiv und lässt gerade dadurch so einen hohen Assoziationsspielraum zu.
Ihre Hände – berühren sie vorsichtig das zerbrechliche Porzellan? Und sind ihre Hände ebenso zart und kostbar wie der Stoff, den sie berühren? Der Gedankenstrich – in diesem Fall eine Variabel, ein Leerzeichen, das der Lesende selbst ausfüllen darf.
Ausgesucht und kommentiert von Boris Semrow
vertrautes Land
ich stelle mich
gegen den Wind
Klemens Antusch
Schon beim ersten Lesen hat mich dieses Haiku gefesselt. Hier wird mit acht Wörtern eine Situation geschildert, die wohl bei jedem Leser andere Assoziationen entstehen lässt. Mich hat das vertraute Land direkt in meine Kindheit geführt. Die zweite Zeile baut Spannung auf und dann kommt mit dem Wind die Veränderung ins Spiel. Ob gut oder schlecht bleibt offen. Wir lesen nur, dass sich der Schreiber ihr entgegen stellt.
Viele Fragen, viele Gedanken bleiben…
Dieses Haiku wird mich sicher noch eine Weile beschäftigen.
Ausgesucht und kommentiert von Eva Limbach
Die Auswahl
Silvesternacht,
der Stern von Betlehem
duckt sich weg.
Johannes Ahne
schneekalte nacht
zwischen uns
ein fast vergessener klang
Klemens Antusch
vertrautes Land
ich stelle mich
gegen den Wind
Klemens Antusch
Balkonschmuck
in einer Weihnachtskugel
Mondlichtsplitter
Christa Beau
Gänsehaut…
ich fühle jeden Ton
des Pianisten
Christa Beau
Öffne das Fenster
im Bach rauscht
der Schnee von gestern
Reiner Bonack
Eisschmelze
wir beide mit den Stiefeln
im Mondhimmel
Claudia Brefeld
januarnebel auf deiner stirn mein kuss
Ralf Bröker
Neuschnee
die eine Fußspur nur
bergan
Horst-Oliver Buchholz
Die Ruhe des Steins
der ins Wasser sinkend
seine Kreise zieht
Horst-Oliver Buchholz
Morgenmeditation
im Yogahaus
toben die Spatzen
Simone K.Busch
Rabenvögel –
die langen Schatten
des Winter
Gerda Förster
Metamorphosen
im Mondlicht
mein Garten …
Gerda Förster
Neujahrsmorgen
das Eis ist getaut
zwischen uns
Heike Gericke
Testamentseröffnung…
von den Tannen
fällt Schnee
Heike Gericke
Erster Schnee
der neue Klang
der Stille
Hans-Jürgen Göhrung
Abstand
zwischen uns
wachsen Schatten
Hans-Jürgen Göhrung
Spätes Sonnenlicht
Der Umriss der Ruine
wird immer größer
Hans-Jürgen Göhrung
Mittelmeerbrandung
In der Milchstraße versinkt
eine Sternschnuppe
Claudius Gottstein
Runder Tisch
Zwei Gespräche
kreuzen sich
Claudius Gottstein
ein Schattenriss –
an der Wand
ich
Ruth Guggenmos-Walter
Im Spiegel
jetzt nach Mutters Tod –
ihr Ebenbild
Erika Hannig
Nachthimmel –
auf der Schafherde
Mondspuren
Erika Hannig
Ungesagtes
die fehlende Farbe
in ihren Augen
Gabriele Hartmann
In Streifen zieht Nebel
über den Fluss
nur der Fährmann und ich.
Ramona Linke
Morgenmond –
das verwitterte Gesicht
des Friedhofsengels
Ramona Linke
Schnee –
der Wald erfindet sich
neu
Eleonore Nickolay
Nebelschwaden
Mutter verweigert
das Essen
Eleonore Nickolay
Teezeremonie
ihre Hände –
Porzellan
Eleonore Nickolay
Frostiger Montag.
Das Lächeln des Verlierers
auf dem Wahlplakat.
Wolfgang Rödig
wieder gefunden
unter braunen Blättern
Karo-König
Angelica Seithe
Moskito-Angriff
im Ikkyuji-Tempel –
ich in Kampfhaltung.
Kenji Takeda
Sturm und Regen
was ich tun wollte heute
vergessen
Brigitte ten Brink
die alten Karten
neu gemischt-
mein Enkelkind
Brigitte ten Brink
Die Fremde lächelt
mir im Vorbeigehen zu
Neujahrsprognose.
Angela Hilde Timm
zwischen Fassadengraffiti
das leere Fenster
gefüllt mit AC/DC
Elisabeth Weber-Strobel
Ins Gespräch vertieft,
und wie die Landschaft mitspricht
mit vielen Stimmen,
noch lang in die linde Nacht
wunderbar flüsternd der Wind
Beate Conrad