Haiku-und Tanka-Auswahl März 2025

/
13 mins read

Es wurden insgesamt 287 Haiku von 101 Autoren/Autorinnen und 65 Tanka von 28 Autoren/Autorinnen für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Januar 2025. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert.

Die Wertung der aktuellen Auswahl der HTA wurde koordiniert von Peter Rudolf.

Der Einsendeschluss für die nächste Haiku-/Tanka-Auswahl

ist der 15. April 2025.

 

Bitte alle Haiku/Tanka unbedingt gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite HALLO HAIKU selbst eintragen: https://haiku.de/haiku-und-tanka-auswahl-einreichen/

Ansonsten per Mail an: auswahlen@sommergras.de

Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, inklusive die Foren auf HALLO HAIKU, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte keine Simultan-Einsendungen.

Bitte denselben Text nicht wiederholt einreichen.

Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der DHG-Haiku-Agenda.

 

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Birgit Schaldach-Helmlechner, Dagmar Westphal und Torsten Hesse. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Texte – 35 Haiku von 30 Autoren – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden max. zwei Haiku pro Autor/Autorin aufgenommen.

„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

nebelland
alle wege führen
in mich

Frank Dietrich

Nebel – der mal mehr, mal weniger zähe Dunst hat jahreszeitlichen Bezug zu den Herbst- und Wintermonaten. Es haften ihm sowohl faszinierende Kräfte als auch gruselige Attribute an. Metaphorisch wird er oft verwendet, um Unklarheit, Unsicherheit oder auch Einsamkeit zu beschreiben.

Dieses Haiku hat elf Silben, und die dreisilbige Eröffnungszeile Nebelland veranschaulicht eine nicht näher bezeichnete, verschleierte Landschaft. Es könnte sich um ein abgegrenztes Grundstück, eine dörfliche Gegend und, bei der Vielfältigkeit an Deutungsmöglichkeiten, sogar um ein noch deutlich größeres Gebiet handeln. In der zweiten Zeile sind Wege Bestandteil des äußeren Naturbildes, und der adjektivisch verwendete Begleiter alle weist auf eine unbestimmte Anzahl hin. Aus dem Verb führen ist hier noch keine Richtung herauszulesen, jedoch bahnt sich Bewegung an. Die Wege sind aktive Gestalter und verknüpfen in der dritten Zeile die äußere mit der inneren Welt. Ob überhaupt – und wenn welche Wege introspektiv nun begangen werden, oder wie tief diese in mich führen, erfahre ich nicht. Ich stelle mir zudem die Frage: Liegt die innere Landschaft im hellen Licht, oder zeigt sich darin ebenso die sichteinschränkende Charakteristik, sodass die Undurchdringlichkeit sich widerspiegelt und das Weitergehen ohne klare Orientierungspunkte zur angstbesetzten Herumstocherei werden kann?

Eine Nebelhülle kann aber genauso Schutz sein, ein zur Vorsicht mahnender Fingerzeig, nicht einfach vorzupreschen, ohne mögliche Konsequenzen zu bedenken, denn was das dichte Grau verbirgt, ist allenfalls zu erahnen. Manchmal ist es deshalb ratsam, sich in Geduld zu üben und ein bisschen zu warten, bis die Sonne die Luft erwärmt und der Nebel sich auflöst.

Ausgesucht und kommentiert von Birgit Schaldach-Helmlechner

 

erste tage
im neuen Jahr – wie müde
ich geworden bin

Gabriele Hartmann

Der Beginn des neuen Jahres ist ein Kigo im klassischen Haiku und, anders als sonst, sind in Neujahrs-Haiku Reflexionen und Selbstauskünfte des Autors nicht unüblich. Doch warum ist der Autor/die Autorin müde? Zu intensiv Silvester gefeiert? Das wäre trivial. Doch andere Gründe sind denkbar. Wenn sich im Leben nichts zum Besseren wendet, wenn die Probleme des neuen Jahres die des alten sein werden? Wenn das neue Jahr nur eine neue Runde im Hamsterrad ist?

Wird chronische Müdigkeit zu einem heimlichen Problem in unserer Gesellschaft? Nicht nur als Langzeitfolge von COVID-19, sondern auch als körperliche Reaktion auf die seelische Überforderung durch Arbeitsverdichtung, Informationsüberflutung, eine überkomplexe Umwelt, und Probleme wie den Klimawandel, denen der und die Einzelne hilflos gegenübersteht?

Psychische Erkrankungen sind die dritthäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit in Deutschland. Spontan denkt man an Burn-Out und an Depressionen, sogar schon bei jungen Leuten. Das Haiku thematisiert, so scheint es mir, ein wichtiges, wenig beachtetes Thema.

Dabei hat es nahezu die Form eines klassischen Haiku – wenn man das von einem nicht-japanischen Haiku überhaupt sagen kann. Die Zäsur in der Mitte der zweiten Zeile – als dōgire („Schnitt durch den Leib“) bezeichnet – ist in japanischen Haiku eher selten. Im vorliegenden Fall bewirkt sie, dass das Wort „müde“ größtes Gewicht bekommt.

Ausgesucht und kommentiert von Torsten Hesse

 

Winzige Wellen
In den Wogen des Windes
Ein formloser Tanz

Tom Kulhanek

Stille Tage – nicht enden wollende Trübnis, eine alles erstickende Wolkendecke, die mich lähmt. Plötzlich ein Hauch von irgendwoher, ein leiser Luftzug berührt einen Grashalm, bewegt Blätter – ein sich zaghaft näherndes Wispern und Flüstern, ein erwartungsvolles Brausen schwebt über der Erde, entfernt sich, kommt näher, ergreift mich, berauscht – ich eine winzige Welle in den Wogen des Windes lausche und tanze mit allem, was lebt, den ewigen Tanz.

Ein Haiku mit klassischer Silbenzahl, lautmalerisch wie der Wind. Es spricht all meine Sinne an und lässt eine Zäsur an unterschiedlichen Stellen offen.

Ausgesucht und kommentiert von Dagmar Westphal

 

Langes Telefonat
Der Nachbar räumt
meinen Schnee

Bernd Reklies

Ein Haiku mit Kigo: Schnee. Das ist keine Zutat, informiert nicht nur über die Jahreszeit, erzeugt auch nicht nur eine Stimmung, sondern benennt das Problem: Der Schnee muss geräumt werden, so verlangt es die Vorschrift, doch der Autor/die Autorin kann es nicht tun, ist vielleicht krank oder behindert. Erst nach einem langen Telefongespräch hat der Nachbar sich bereiterklärt, die Arbeit zu übernehmen.

Das Haiku verrät uns nicht, was am Telefon gesprochen wurde. Ging es nur darum, dass der Nachbar eigentlich keine Zeit hatte? Oder war das nachbarschaftliche Verhältnis getrübt? Hatte es in der Vergangenheit Streit gegeben? Musste erst um Verzeihung gebeten werden? Wir erfahren nicht, was es den Autor/die Autorin gekostet hat, den Nachbarn zur Hilfeleistung zu bewegen, doch wir spüren die Erleichterung darüber, dass es gelungen ist.

Das Haiku spricht ein Problem an, das in unserer Gesellschaft zunimmt: Einsamkeit. Im konkreten Fall geht es nicht um Einsamkeitsgefühle, sondern um das objektive Auf-sich-allein-gestellt-Sein kranker und alter Menschen in einer Kultur, in der traditionelle Familienstrukturen verschwinden, ohne dass Ersatz in Sicht ist.

Und ich finde es erstaunlich, wie das Haiku mit wenigen nüchternen Worten ein spannungsreiches inneres Geschehen ahnen lässt: von der Not, das Problem nicht selbst lösen zu können über die Auseinandersetzung mit dem Nachbarn bis zur Erleichterung nach der Hilfszusage – all das durch die Nennung zweier rein äußerlicher Tatbestände: dass ein langes Telefonat stattgefunden hat, und dass der Nachbar den Schnee räumt.

Ausgesucht und kommentiert von Torsten Hesse

 

An der Straße
die schwarze Katze –
schon seit Wochen

Jan Weck

Es führt kein Weg daran vorbei, auch heute werde ich sie wieder sehen. Doch vielleicht sollte ich einen Umweg machen – nein, ich will wissen, ob sie noch da ist: die schwarze Katze. Was ist ihr geschehen? Hat sie sich verlaufen? Oder wurde sie vielleicht ausgesetzt? Vermisst sie denn keiner? Fragt niemand, ob sie es geschafft hat – und vielleicht noch lebt? Und wenn nicht, warum nur kümmert sich keine Menschenseele um sie und überlässt sie ihrem schicksalhaften Tod … wenn sie heute noch da sein sollte, werde ich anhalten und aussteigen – versprochen.

Ausgesucht und kommentiert von Dagmar Westphal

 

Die Auswahl

Taschenuhren
Opa war
so weit weg

Martin Berner

deine Augen …
mein Herz atmet
Kirschblüten

Claudia Brefeld

Häuserruinen
nur eine Taube
und ihr Schatten

Claudia Brefeld

Unterführung
die Schritte mitgenommen
vom Echo

Heiner Brückner

Nebeltage –
der Lerche Gesang
öffnet den Himmel

Horst-Oliver Buchholz

Spätwinter –
auf dem Kassenband
frühe Narzissen.

Reinhard Dellbrügge

nebelland
alle wege führen
in mich

Frank Dietrich

Erwachendes Gras.
Jeder hängende Tropfen
spiegelt die Welt.

Volker Friebel

bachkiesel –
im eiskalten wasser
ein wirbellicht …

Ruth Guggenmos-Walter

erste Tage
im neuen Jahr – wie müde
ich geworden bin

Gabriele Hartmann

Heiligabend
ich suche noch immer
nach einer Wohnung

Birgit Heid

Weihnachtsbriefe
meine Abende
mit alten Freunden

Birgit Heid

Frühnebel –
Krähen kreuzen
meine Gedanken

Hubert Heizmann

Tautropfen –
die zögerliche Rückkehr
des frühen Lichts

Klaus Kornexl

enten auf dem eis
ach! wie schwer werden mir
die stiefel

Georg Leng

so viele Sterne
weit hinter dem Nebel …
Allerseelennacht

Eva Limbach

Lavendel schneiden
ein Schmetterling nimmt Platz
auf meiner Schulter

Ramona Linke

Wintermond
der Duft von Orangen
an seinen Händen

Ramona Linke

gesammelte Steine
ihr Zauber
am Strand geblieben

Ingrid Meinerts

allein im Heim
sie lauscht den Vogelstimmen
auf der CD

Ruth Karoline Mieger

erster Schnee
zum letzten Mal
in ihrem Garten

Eleonore Nickolay

Langes Telefonat
Der Nachbar räumt
meinen Schnee

Bernd Reklies

Festtagsessen
auf meiner Zunge
ein Zahn

Renate Maria Riehemann

der Gang zur Arbeit
durchs frisch geölte Tor
irgendetwas fehlt

Wolfgang Rödig

Wolkenbänder
zerfasert vom Wind –
Morgengedanken

Tim Scharnweber

erste Tanzstunde
seine Füße führen
ein Eigenleben

Evelin Schmidt

Adventsausstellung –
zwischen Kunst und Keramik
zwei Katzen

Kristoffer Schneider

Im Zug:
Plötzlich ganz laut
die Stille

Kristoffer Schneider

Mondsichel
Großvater träumend
im Schaukelstuhl

Angelica Seithe

eine note von himbeere …
ihre art
zu lachen

Helga Stania

an der Straße
die schwarze Katze
schon seit Wochen

Jan Weck

die gestrickten Socken
der Freundin
bleiben

Helga Weiss

im Rollkoffer
über das Kopfsteinpflaster
ihr ganzes Hab und Gut

Helga Weiss

Frühling
das befreite Poltern
der Pferdehufe

Friedrich Winzer

weites Grünland
nichts als ein Silberreiher
inmitten der Stille

Klaus-Dieter Wirth

 

Die Jury stellt sich vor

Dagmar Westphal:

Vor über 30 Jahren bot ich meine ersten lyrischen Versuche auf dem Weihnachtsmarkt einer Kirchengemeinde an. Eine Frau fand Gefallen daran und lud mich ein in den Celler Autorenkreis. Dort hörte ich vom kürzesten Gedicht der Weltliteratur und war begeistert.

Mit einem Dreizeiler – der jedoch wenig Ähnlichkeit mit einem Haiku hatte, wie ich von der mittlerweile verstorbenen Vorsitzenden Margret Buerschaper damals erfahren musste – bewarb ich mich um die Mitgliedschaft in der Deutschen Haiku-Gesellschaft.

Wie viele Haiku seitdem aus meiner Feder geflossen sind, weiß ich nicht. Am liebsten sind mir diejenigen mit klassischer Silbenzahl. Sie mischen sich unter alles andere Verdichtete, das ich im Laufe der Jahre neben Märchen und einem Roman in einigen Lyrikausgaben veröffentlicht habe, und sie finden sich auch auf Fotokarten und Kalendern als Geschenk für mir lieb gewordene Menschen.

Faszinierend, auf Haiku-Veranstaltungen hinter Papier und Druckerschwärze lebendigen menschlichen Wesen zu begegnen, in die sich frau manchmal auch verliebt:

warum schreibe ich –
um mir und den anderen
nahe zu sein

Torsten Hesse:

In einem Buchladen, Anfang der 90er Jahre, fiel mein Blick auf ein kleines Taschenbuch, denn auf seinem Umschlag war „Die große Woge“ von Hokusai zu sehen. Das Bild kannte ich, und so war ich neugierig auf den Inhalt des Buches – sicher irgendetwas Japanisches. Es war eine Auswahl klassischer Haiku, ins Deutsche übertragen von Dietrich Krusche. Das Büchlein hat mich dann mehr als 30 Jahre lang begleitet; immer wieder habe ich es gelesen, oft in einem Zug vom Anfang bis zum Ende.

Nie kam mir der Gedanke, selbst Haiku zu schreiben – ich fühlte mich nicht zum Dichter berufen. Aber weil ich gern Gedichte rezitiere, habe ich mehrmals Haiku aus dem Büchlein vorgetragen, unterbrochen von musikalischen Improvisationen auf diversen Flöten. Auf der letzten Veranstaltung dieser Art sagte mir eine Besucherin, sie schreibe selbst Haiku, und zeigte sich verwundert und etwas enttäuscht, dass die von mir vorgetragenen nicht dem 5/7/5-Silbenschema entsprachen.

Ich wusste, dass klassische japanische Haiku nach diesem Schema gebildet waren, fand es aber ganz natürlich, bei der Übertragung ins Deutsche den Fokus auf den Inhalt zu richten statt zu versuchen, diese uns fremde Form zu imitieren. Doch, angeregt von besagter Besucherin, dachte ich mir: Wenn man Haiku nicht aus dem Japanischen übersetzt, sondern auf Deutsch schreibt, kann man es mit den 5/7/5 Silben vielleicht probieren. So bin ich vor zwei Jahren zum Haiku-Schreiben gekommen.

Inzwischen bin ich DHG-Mitglied, und einige meiner Dreizeiler haben es in die Auswahlen im SOMMERGRAS und bei Haiku heute geschafft (eins wurde sogar ins Japanische übersetzt und auf der HIA-Website veröffentlicht). Im letzten Jahr habe ich für die DHG alte Ausgaben der Vierteljahresschrift digitalisiert und dadurch ganz nebenbei einen Einblick in die Geschichte des Vereins bekommen. Und nun war ich zum ersten Mal Juror.

Immer noch fühle ich mich nicht zum Dichter berufen. Das Haiku-Schreiben ist für mich ein reizvolles Spiel. Es besteht darin, die Haiku-Form immer wieder auf neue Weise mit Inhalt zu füllen und sie dadurch neu zu verwirklichen. Beim Wandern in der Natur kommen mir Ideen für Haiku-Inhalte, und dann entsteht eine Wechselwirkung zwischen dem Inhalt und der Haiku-Form, die den Inhalt auch radikal verändern kann. Diesen Prozess finde ich spannend.

Die Frühlingssonne
durch’s winterkahle Geäst
malt lichte Schatten.

Birgit Schaldach-Helmlechner:

Begeisterung für Bücher und für das Schreiben ziehen sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Lyrik steht dabei seit meiner Jugend an erster Stelle. In den 1980ern kam ich durch den persönlichen Kontakt zu Ludwig Steinfeld erstmals in Berührung mit den Dreizeiler-Gedichten, spürte jedoch keinen Impuls, mich näher damit zu beschäftigen. So führte sein Buch „Der Weg zum Haiku“ lange ein Mauerblümchendasein in meinem Bücherregal.

Erst in einem Hypnocoaching-Workshop, ziemlich genau 20 Jahre später, wir machten Wahrnehmungsübungen in der freien Natur, hatte ich urplötzlich den Eindruck, dass – inmitten von fröhlichen Trillern – ein zweisilbiger, sonorer Vogelruf kurz herausstach. Ich glaubte zwar nicht, das Wort „Haiku“ als solches vernommen zu haben, doch das Gehörte wurde quasi Weckruf für das Zurückerinnern.

„Anregung zum Selbermachen“, mit diesen Worten hatte mir der Autor damals sein Buch in die Hand gedrückt. – Von da an beschritt ich meinen persönlichen Haiku-Weg. Im Hier und Jetzt sein, achtsam innehalten, wahrnehmen, den Augenblick erzählen lassen (möglichst) ohne zu bewerten … Ich freue mich über die Bandbreite an Möglichkeiten, die ein kurzer Moment in mir zu entfalten vermag.

dir zeig’ ich meine
sentimentale seite –
wolfsmond

 

Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchten Eleonore Nickolay und Peter Rudof an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken. Die nächste Auswahl (HTA-149) wird koordiniert werden von Peter Rudolf. Kontakt: peter.rudolf@dhg-vorstand.de

 

Sonderbeitrag von René Possél

René Possél hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das ihn besonders anspricht.

Weihnachtsbriefe
meine Abende
mit alten Freunden

Birgit Heid

Weihnachten ist vorbei. Was bleibt, ist hier die Weihnachtspost von alten Freunden. Nach dem Fest füllt die Lektüre der Freundes-Briefe noch manche Abende des Haiku-Schreibers („alte Freunde“!). Das ist alles. Im Haiku schwingen Wehmut und Dankbarkeit mit.

Das Wort „Weihnachtsbriefe“ in der ersten Zeile weckt vermutlich die schönsten Assoziationen: Da hat ein Mensch Briefe bekommen zum Christfest. Sie sind von „alten Freunden“, die an ihn denken.

Wie mag der Schreiber Weihnachten verbracht haben? Mit lieben Menschen oder allein? Die Grüße der Freunde zum Fest der Liebe werden im späteren Lesen der Briefe jedenfalls noch ausgekostet.

In der Situation erscheint einiges so altmodisch wie menschlich:

  • dass alte Freunde über das Schreiben von Briefen bis ins Alter miteinander in Verbindung bleiben;
  • dass man sich überhaupt (längere) Briefe schreibt zu Weihnachten und nicht nur Karten oder Mails;
  • dass die Briefe vom Empfänger mit Zeit und Ruhe gelesen und auf diese Weise wertgeschätzt werden.

Wer sich Zeit nimmt, die Briefe alter Freunde zu Weihnachten an den Abenden danach noch zu lesen – der ist vermutlich älter und eher allein. Die briefliche Gesellschaft der Freunde gehört womöglich zu dem, was ihm an menschlicher Zuwendung bleibt …

Man kann bei dem Haiku auf die zwei Seiten der Situation schauen: Auf die Einsamkeit des Brief-Lesers oder eben darauf, dass die alten Freunde immer noch an ihn denken – Traurigkeit oder Dankbarkeit. Das Haiku ist nicht sentimental, sondern einfach und undramatisch, aber auch berührend. Es spricht daraus eine nüchterne Dankbarkeit. Das ist keine schlechte Haltung zum Rückblick auf das alte und zum Ausblick auf das neue Jahr für Haiku-Schreiber- und -Leser/-innen.

 

Tanka-Auswahl der HTA

Die Auswahl wurde von Claudia Brefeld, Horst-Oliver Buchholz und Sylvia Hartmann vorgenommen. Sie wählten 14 Tanka von 11 Autoren/Autorinnen aus.

„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – hier wird ein Tanka besprochen.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

Rentenbeginn
morgens im Bett
den Nachbarn lauschen
die mühsam
Autoscheiben freikratzen

Marie-Luise Schulze Frenking

Wie gut einem ein Gedicht gefällt, hängt immer mit von der Situation ab, in der man sich befindet. Ich genieße gerade die ersten Monate meines Ruhestands, nach Jahren, in denen ich, wie das im Beruf üblich ist, viele Termine pünktlich einhalten musste. Bei uns im Bergischen Land, wo es gerne schon mal kälter ist als anderswo, herrschen im Winter erschwerte Bedingungen: Eis und Schnee behindern die Fortbewegung, sei es mit dem Auto, den öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß. Man muss deutlich früher in den Tag starten, um das Auto startklar zu machen, und kann sich aus Sicherheitsgründen nur langsam fortbewegen. Bei Kälte und Dunkelheit macht das alles keinen Spaß. Doch diese Mühen liegen nun hinter mir. Wenn die Nachbarn morgens früh die Scheiben am Auto freikratzen, kann ich mich noch einmal gemütlich im Bett herumdrehen und weiterschlafen. Das Glück des Lebens, im Ruhestand oder auch sonst, kommt oft in Kleinigkeiten zum Ausdruck. Dieses Tanka fängt einen solchen Glücksmoment ein. Darum ist es für mich gelungen.

Ausgesucht und kommentiert von Sylvia Hartmann

 

 Die Auswahl

dicke schneeflocken
steigen nach oben
im wirbelwind …
als möchten sie zurück
zu den wolken …

Ruth Guggenmos-Walter

buddhagleich jedoch
der Schneemann schafft es nicht
ins neue Jahr
sonnenbeschienen im Gras
die zernagte Karotte

Jochen Hahn-Klimroth

und dann greife ich
doch nochmal in den Kleidersack
und fische sie raus
meine Erinnerungen
an unseren letzten Tanz

Gabriele Hartmann

ich kaufe mir
ein neues Adressbuch
mit der leisen Ahnung
dass ich mich von manchen Menschen
endgültig trennen muss

Birgit Heid

nach der Autofahrt nach Hause
habe ich Mühe
mich wieder einzufinden
welche Orte
tief in mir schlummern

Birgit Heid

über Nacht
haben sich einige der Blätter
in Gold verwandelt
Linde, wirst du mich lehren
wie man loslässt?

Deborah Karl-Brandt

das dünne eis bricht
unter seinem gewicht
der schwan fliegt davon
ein meer aus scherben
zurücklassend

Ludmilla Pettke

ihm vergeht der Appetit
schon wieder ihre Predigt
nach dem Tischgebet
das Kind hält die Gabel
in der falschen Hand

Wolfgang Rödig

Friedhofswege
von Raureif überzogen
Gräser und Namen
an deinem frischen Grab
steht ein anderer Mann

Frank Sauer

nach der Nacht
im Zelt
der Luxus
eines Bechers
mit heißem Instantkaffee

Marie-Luise Schulze Frenking

Rentenbeginn
morgens im Bett
den Nachbarn lauschen
die mühsam
Autoscheiben freikratzen

Marie-Luise Schulze Frenking

auf dem pony
das kleine mädchen
eine helle perle
in der kette
meiner zeit

Helga Stania

Entrümpelung
Großmutter zu Ehren
lasse ich
den Wasserkessel
noch einmal pfeifen

Friedrich Winzer

sie steht noch
die Bank vom ersten Kuss
nach sechzig Jahren
setzen wir uns lächelnd
und lassen uns verzaubern

Friedrich Winzer

Latest from Allgemein

Sommergras 148

mit vielen interessanten Beiträgen rund um Haiku & Co ist erschienen. Einen kleinen Vorgeschmack auf den

<Chat Cafe> zoom

Dear Haiku Friends, Here is an interesting program on Zoom: The English-Speaking Union of Japan <Chat

Anthologie-Projekt 2025

Anthologie-Projekt 2025  „Wünsche“ Für das neue internationale Anthologie-Projekt 2025 sucht Ingo Cesaro Haiku und Senryu zum

Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Ut elit tellus, luctus nec ullamcorper mattis, pulvinar dapibus leo.