Im Zeitraum Mai bis Juli 2011 wurden insgesamt 251 Haiku und 22 Tanka von 68 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Juli 2011. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.
Diese Werke wurden vor Beginn der Auswahl von Claudia Brefeld anonymisiert, die auch die gesamte Koordination hatte. Die Jury bestand aus Roswitha Erler, Helmut Hannig und Elisabeth Kleineheismann. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.
Alle ausgewählten Werke (50 Haiku und 4 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Werke pro Autor/in aufgenommen.
„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein Werk auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Claudia Brefeld
Ein Haiku, das mich besonders anspricht
Ausgesucht und kommentiert von Roswitha Erler:
Tango
für drei Minuten
untreu
Das Haiku besticht durch seine Kürze und seine Assoziationen, die es hervorruft. Tanzmuffeln wird es vielleicht nichts sagen. Aber jedem, der Tango liebt und selbst tanzt, werden sich die Dimensionen eröffnen, die diese wenigen Worte aufzeigen. Denn Tango ist ein Tanz voller Sinnlichkeit.
Er ist in Argentinien aus einer Art Volkstanz entstanden, lebt als solcher weiter, wird ständig verändert und bleibt dadurch lebendig. Der Rhythmus ist ein langsamer 2/4 oder 4/4 Takt. Musik und Bewegungsgefühl der Partner bestimmen Schrittfolgen und Figuren.
Ich höre noch meine Tanzlehrerin mit ihrem Kommando „Wie-ge-schritt“ und wie wir 15- oder 16- Jährigen uns dann in die Arme nahmen, sehr auf Abstand bedacht. Das konnte nie ein Tango werden, sondern nur eine hölzerne Abfolge von Schritten und Drehungen.
Beim Tango sollten die Bewegungen des Partners mehr erahnt, erspürt werden. Das gelingt nur, wenn sich beide völlig aufeinander einlassen, sich gewissermaßen hingeben.
Ich las heute zum ersten Mal etwas von Tangorezeptoren (im Fremdwörterbuch). Das sind berührungsempfindliche, auf mechanische Reize reagierende Sinnesorgane. Aha!! Sogar nach dem Tango benannt!
Es bleibt die Frage: Wo beginnt Untreue? Also doch beim Tango!? Wahrscheinlich kann man gar nicht daran vorbei – für drei Minuten.
G. Bernhard Shaw drückte das übrigens so aus: Der Tango ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens.
Das obige Haiku sagt es kürzer und vor allem – diskreter.
Ausgesucht und kommentiert von Helmut Hannig:
Morgenkühle –
der Bogenschütze spannt
die Stille
Die Situation die hier beschrieben wird ist geradezu atemberaubend.
Die Morgenkühle umgibt die Natur, Umrisse in ihr wachsen schemenhaft aus dem Nebel, Tauperlen zittern auf Spitzen und Kanten von Gräsern, alles ist durchdrungen umgeben von Stille.
Man wagt gar nicht zu atmen, die eigenen Gedanken können sogar störend sein. Die einzige Bewegung die man selbst wahrnimmt ist Atemholen, vielleicht huscht ein Vogel durch dieses Bild. Jene Morgenkühle, verbunden mit der aufsteigenden Lichtfülle erzeugt einen Spannungsbogen in den aufziehenden Tag.
Es ist die Erwartungshaltung – ein minimomentum auf das Kommende. Der Bogenschütze
-anonymos, spannt die Stille raumgreifend auf seine Sehne um sie gewähren zu lassen, sozusagen einzufrieren. Sie möge nie vergehen, sie möge dauern.
Eben dieser Bogenschütze der seinen Lichtpfeil in einem verhaltenen Adagio an die Sehne legt, berührt in diesem Moment den Bogenlauf des Horizonts Tag werden zu lassen. Unvermittelt findet aus der Stille heraus sie selbst ihr Ende, es sind Momente des Erfülltseins, wie aus einem imaginären Fluss zu steigen um dem Tag entgegen zu gehen. Und in jedem Morgen liegt die Spannkraft für Neues noch zu Entdeckende.
Ausgesucht und kommentiert von Elisabeth Kleineheismann:
Regentropfen…
eintauchen in ein
Mandala
Ich finde dieses Haiku sehr fein beobachtet.
Seit einiger Zeit male ich Mandalas, meistens am Wochenende, wenn ich Zeit habe.
Mandala kommt aus dem Sanskrit und bedeutet „Kreis“.
Am letzten Sonntag sitze ich bei Regenwetter in meinem Atelier und bin versunken in meine Malerei, tauche ein in mein Mandala.
Mir kommt das Haiku in den Sinn und alles ist anders.
Ich lese, und sehe einen stillen See, oder auch eine Pfütze. Der erste Regentropfen fällt… Das ist der Moment, ein Mandala entsteht.
Es geht weiter, Tropfen für Tropfen fällt, ein zweites, ein drittes Mandala entsteht, die Wasseroberfläche füllt sich, es kreist.
Bewegend.
Die Auswahl
Sein Gartenhut…
die Mühe vieler Jahre
im Duft des Strohs
Abendschatten –
erst bei den Bäumen
kann ich weinen
Tango
für drei Minuten
untreu
Abrisshaus
die Wände poltern
Widerworte
Familienfrühstück
und am Fenster die Spinne
spinnt weiter ihr Netz
in die Heimat …
übers Bahngleis taumelt
ein Schmetterling
April.
Die Natur ändert die
Kleiderordnung.
der Wind
schreibt zischende Verse
aufs Meer
wie leicht
sie über die Schwelle zu tragen
im Traum
Blütenkaskaden –
im Wehen des Windes
ein neuer Klang
Schimmernde Seide
von ihren Schultern gleitet
die Nacht
Wolken
hingetuscht ins Blau
das Lied der Lerche
Sommerregen.
Zwischen Tropfen der Taumelflug
einer Biene.
Nobelviertel.
Die Tiefgarage öffnet sich
für ein Fahrrad.
Himmel und Meer
nicht enden will
der Kuss
die alte Linde
das Wispern in den Zweigen
beim ersten Kuss
vom Busen
der Gipsaphrodite
löst sich ein Falter
Königliche Hochzeit
im Damensalon klappern
Schere und Mundwerk
Sonnenwende –
er trägt die Möbel
ins Nachbarhaus
Auf der Kaimauer
blauäugige Männer
spinnen Seemannsgarn
Sonntag
die Glocken läuten
das Wir ein
Sturm zieht auf
zwei Rosenblätter fallen
in Buddhas Schoß
Wegweiser
auf gefälltem Baum
Naturfreundehaus
Ein forderndes Piepsen
unter dem Vordach
der Leichenhalle
Warteraum –
an Kunstrosen gelehnt
zwei Krückstöcke
Wegwarten
auf Erden ein Stück Himmel
finden
Gewitter
im Rot der Alpenrosen
Hagelkörner
Entengeflatter
in meiner Jackentasche
die Dackelleine
Abschiedsschmerz
der Schrei einer Möwe
dringt durch die Nacht
Schafskälte …
ein geschorener Pudel
zittert.
Morgenkühle …
Der Bogenschütze spannt
die Stille
Die Amsel singt
über den Dächern der Stadt
Abendgebet
abenddämmerung
lange zögert der tag
nacht zu werden
sandstrand
so viel stundengläser
zeit
sommerregen
das bild im teich
zerspringt
tanzender Staub
im Schrank Mutters Brautschuhe
und ihre Zöpfe
wieder zuhause
die langen Triebe
der Zwiebeln
auch ich twittere
täglich – mit der Amsel
vor meinem Balkon
Nachmittagshitze
in den Baumkronen
Gewitterwolken
Ans Bett gefesselt
Durch den Schlauch in meinem Arm
Tropft und tropft die Zeit
Barfuß durch den Bach
Fische bestaunen
das Tatoo auf meinem Fuß
Regentropfen …
eintauchen in ein
Mandala
Schritte leis im Kies …
Ich wische Blütenstaub
vom ihrem Namen
Im Eisenbahntunnel
das lächelnde Spiegelbild
der Nachbarin
Im Sternentaumel
auf der Holunderblüte
schwankt jetzt die Hummel
Mein Fenster dunkelt
Was kann die Grille wissen?
Wieder hör ich zu
Der Schrei der Möwe
verebbt im Lärm der Brandung –
schweigend steht ein Paar.
ohrenbetäubend
das Staunen
des Clowns
Windstille im Park –
ein Blinder liest
Stimmen in Braille
Zwischen den Trümmern
hält ein Kind seine Puppe.
Sie hat überlebt.
In der U-Bahn
betreten schweigend
zu Boden schauen
ein Obdachloser
führt Selbstgespräche
Kinderzimmer
seit Hochzeit und Auszug
nichts verändert
im Brautkleid die Puppe
mit dem Gesicht zur Wand
Blaue Hortensie
mit Gilb durchwirkt wie
poröses Papier –
auf verblassende Blüten
schreibt der Tag Initiale
Zu klein zum Baden
scheint der Krähe
die Vogeltränke
Doch in Seenot kämpft
der Käfer um sein Leben