Im Zeitraum Mai bis Juli 2013 wurden insgesamt 335 Haiku und 25 Tanka von 85 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Juli 2013. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.

Diese Werke wurden vor Beginn der Auswahl von Claudia Brefeld anonymisiert, die auch die gesamte Koordination hatte. Die Jury bestand aus Wolfgang Beutke, Gerd Börner und Claudia Melchior. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Werke (30 Haiku und 6 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Werke pro Autor/in aufgenommen.

„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein Werk auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.

Claudia Brefeld

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

Ausgesucht und kommentiert von Wolfgang Beutke:

Brachland

vergessen

die alten Spiele

 

Gerda Förster

Äußerst spartanisch, nur aus fünf Wörtern bestehend und somit auch nur sehr eingeschränkt variierbar, steht der Text blockhaft vor mir. Ein Haiku, in dem es gelungen ist, neben zwei Substantiven sogar noch ein starkes Verb und ein Adjektiv unterzubringen. Ein Hinweis auf die Jahreszeit durch ein Kigo ist nicht erkennbar.

„Brachland“, für mich das Schlüsselwort in diesem Haiku, das es in sich hat. Von ihm setzt sich mein Zug der Erinnerung sofort in Bewegung:

Ich bin wieder im Berlin der fünfziger Jahre. Verwaiste und verwilderte Grundstücke steigen zunächst nur schemenhaft, doch dann immer klarer in mein Bewusstsein. Stillgelegte Bahnhöfe und verlassene Fabrikanlagen oder Wohnhäuser, die im 2. Weltkrieg zerstört und nie wieder aufgebaut wurden, kommen mir in den Sinn. Die Düfte und Farben einer artenreichen Flora, die sich über die Jahre des Brachliegens ungestört entwickeln konnte, sind wieder gegenwärtig. Sogar Pflanzen aus fernen Ländern, deren Samen die Eisenbahnzüge als „ blinde Passagiere“ transportierten, sehe ich wieder in den alten Kopfbahnhöfen vor mir

Mir wird deutlich, welch großes Assoziationsfeld dieses Schlüsselwort anbietet und mit welcher Kraft verschüttete Bilder der Kindheit wieder zu Tage treten.

Mit dem anschließenden inneren Monolog des Autors

Vergessen

die alten Spiele

wird mein Fluss der Erinnerung nur kurz unterbrochen. Eine Art Wehmut kommt auf, vielleicht sogar die Erkenntnis, dass diese alten Spiele für immer verloren sind. Nahtlos fokussiere ich meine Erinnerung:

Diese geheimnisvollen, verwilderten Grundstücke zogen Kinder magisch zum Spielen an.

Oft entsprangen Spiele und Spielregeln ihrer Phantasie, oder bereits Bekanntes wurde modifiziert und dem Areal angepasst. Spielgeräte? Alles was die Ruinen hergaben! Pflaster- und Ziegelsteine, alte Gummireife; verrostete Eisenträger dienten als Schwebebalken, und brüchiges Mauerwerk als Kletterwand, ein schier unerschöpfliches Reservoir für Spiele und Mutproben

Das sind die ersten Gedanken, die diese Zeilen bei mir auslösen und für mich wertvoll machen. Obwohl der Text auf keine Jahreszeit hinweist, bin ich verblüfft, dass ich mich immer wieder im Sommer und Hochsommer als Kind durch diese Wildnis toben sehe.

Es kann gut sein, dass der Autor andere Bilder vor Augen hatte, als er seine Zeilen schrieb. Das tut dem Ganzen jedoch kein Abbruch, denn man muss bei der Verknappung eines Textes, so wie er hier vorliegt, davon ausgehen, dass zwangsläufig ein weitgesteckter Assoziationsspielraum entsteht, der eine Fülle von Interpretationen zulässt.

Ja, dieses Haiku gefällt mir, weil es kurz und konkret daher kommt, eine verhaltene, aber wirkungsvolle Lautung aufweist und mich zu einer Exkursion in die Kindheit einlädt, auf der längst vergessene Bilder und Spiele wieder fassbar werden. Und was ich ganz besonders schätze, hier ist kein umfangreiches Recherchieren im „World Wide Web“ erforderlich, um sich an dem Text erfreuen zu können.

Ausgesucht und kommentiert von Claudia Melchior:

leerer Kokon –

die Angst, das richtige Wort

zu verlieren

 

Silvia Kempen

Sage ich es oder sage ich es nicht?

Verliere ich ein Wort (hier ist die Singular-Form gewählt) darüber und wenn ja, ist es „das richtige“?

Große Unsicherheit, Zweifel und Angst werden hier aufgeworfen – auch beim Leser.

Verlustangst, die hier mit den Worten „leerer“, „Angst“, „verlieren“ sehr deutlich gemacht wird.

Auf einer Linie steht die Angst zusammen mit dem richtigen Wort (2. Zeile). Gleichwertig. Man spürt die innere Zerrissenheit.

Wenn man den Kokon als Schutzraum zum Erwachsenwerden betrachtet, als Zuhause, wo Vertrauen aufgebaut und immer der richtige Ton für die Entwicklung gefunden wurde, besteht nun die Angst, diese selbstverständliche Nähe und Verbindung aus der Vergangenheit zu verlieren.

Der Nachwuchs ist bereits aus dem schützenden Kokon ausgebrochen und befindet sich nun auf dem Weg der Entfaltung.

Ob die Richtung, die er nun selbständig einschlägt, einem gefällt, ist nicht unbedingt gewährleistet. Gibt man ihm dennoch ein Wort mit auf den Weg? Auch wenn man weiß: kein einziges hat nun noch die Macht, ihn aufzuhalten.

Ausgesucht und kommentiert von Gerd Börner:

Eulenrufe

der Grauton

der Weide

 

Gabriele Hartmann

Sofort kam mir Goethes Erlkönig in den Sinn: »( …) Es scheinen die alten Weiden so grau.« In der Ballade ist es die gespenstische Szenerie, in der der Sohn in Todesangst dem reitenden Vater zuruft dem Erlkönig und seinen Töchtern zu entkommen. Im vorliegenden Haiku ist es der Vogel der Dämmerung und der Nacht, der ruft – eine Eule, die wir auch gern in die Nähe von Friedhöfen und Ruinen assoziieren. Eulen werden in manchen Gegenden als Teufelsvögel gefürchtet, weil sie angeblich den Tod ankündigen …

„Lady Macbeth hört im Drama Macbeth die Eule, während ihr Mann den rechtmäßigen König ermordet:

– Still, horch! –

Die Eule war’s, die schrie, der traur’ge Wächter,

Die gräßlich gute Nacht wünscht.

Auch wer nicht an den Erlkönig oder Macbeth denken muss, spürt das Unausgesprochene: Etwas Unheimliches, Klagendes im Ruf der Eule. In der Dämmerung erscheint nicht nur die Weide grau … In drei äußerst prägnanten Zeilen und gelungener Synästhesie lässt uns die Autorin/der Autor die Stimmung von Angst und Grausen mit mehreren Sinnen erleben.

Die Auswahl

Machs Gartatürle zua

dr Mond und dr große Bär

send doch scho do

 

Johannes Ahne

morgennebel

im verschwundenen land

auf spurensuche

 

Sylvia Bacher

Im Duft der Hecke…

sein Atem

als ich achtzehn war

 

Christa Beau

strahlende botschaft

die silhouetten verblasst

in nagasaki

 

Dirk-Uwe Becker

Garten der Steine

Ein alter Mann harkt

das Universum

 

Reiner Bonack

sonnenuntergang

auf der überholspur

mails checken

 

Ralf Bröker

Kreuzworträtsel –

langsam füllen sich die Felder

mit Sonne

 

Tony Böhle

Bildhauers Werkstatt –

Helena zu Füßen liegt

viel Stein zerschlagen

 

Horst-Oliver Buchholz

Leise fällt die Nacht

eine Katze duckt sich

– sprungbereit

 

Horst-Oliver Buchholz

Nach langen Wegen

das vertrocknete Flussbett

ein Blütenmeer

 

Horst-Oliver Buchholz

blühende Linden –

doch der Wind

kommt vom Schlachthaus

 

Gerda Förster

Brachland

vergessen

die alten Spiele

 

Gerda Förster

Wanderrast.

Die Wärme der Sonne

im Apfel.

 

Volker Friebel

ovaler mond – nachtgras streichelt über meine knie

 

Ruth Guggenmos-Walter

Herbstnachmittag

Mutter hat sich schon

schlafen gelegt

 

Birgit Heid

Eulenrufe

der Grauton

der Weide

 

Gabriele Hartmann

Abendsonne

ein neuer Pfad

kreuzt den Hang

 

Gabriele Hartmann

Regenmelodie.

Ich begleite die Tropfen

auf meiner Trommel.

 

Eve Marie Helm

der neue Pfarrer

barfuß

schwingt er die Sense

 

Angelika Holweger

taumelnde Blätter

so viele Farben

für zwei Augen

 

Ilse Jacobson

leerer Kokon –

die Angst, das richtige Wort

zu verlieren

 

Silvia Kempen

Vernissage

vorsichtig taste ich mich

in die Öffentlichkeit

 

Britta Knuth

Allein im Gasthaus –

wieder geht der Nachbarstuhl

an eine Gruppe

 

Gérard Krebs

Niemandsland –

der fremde Duft

weißer Blüten

 

Eva Limbach

Augentrost

ein blauer Falter berührt

meinen Schatten

 

Ramona Linke

Buchenwald

Der Klang des Windes

Heute

 

Ramona Linke

Phantomschmerz

im Aschenbecher

ein Stummel

 

Lydia Royen Damhave

Den Igel besucht

vor Sonnenaufgang nackt

in mein Bett zurück

 

Kerstin Rüter

die Borke, die Hand;

einige Zweige des Baums

bleiben kahl

 

Helga Stania

Kriegsgebiet

über das Schlachtfeld gekrümmt

ein Regenbogen

 

Dietmar Tauchner

So reich an Licht

der Sommer

in meinem Garten

vor dem Abschied

die Türen öffnen

 

Christa Beau

“Möchtest du

mir nicht etwas sagen?”

fragst du –

aber da ist nichts, was ich

dir sagen möchte; nicht jetzt.

 

Tony Böhle

wenn regen fällt

in die zedern

und die hitze abstreift …

blecherne abendglocken erzählen

vom sprung in der zeit

 

Ruth Guggenmos-Walter

Trauerweide …

im Frühlingswind ihre Zweige

weizenblond

wie meine Zöpfe damals. Mutter,

du kämmtest mein Haar so sacht.

 

Angelika Holweger

klopfe ans Fenster

des leeren Bauernhauses –

ja, nun hast du Recht:

zusammen sind die Fragen

und ihre Antworten

 

Dragan J. Ristić

Eine Sternschnuppe

flog dahin –

auf die Stimme

der tiefen Nacht

habe ich gelauscht.

 

Kenji Takeda

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