Es wurden insgesamt 204 Haiku und 54 Tanka von 80 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht.
Einsendeschluss war der 15. Juli 2016. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert. Die Jury bestand aus Angelika Holweger, Gabriele Hartmann und Gerda Förster. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.
Alle ausgewählten Texte – 26 Haiku und 6 Tanka – wurden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden bis zu max. zwei Haiku und zwei Tanka pro Autor/-in aufgenommen.
„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Der nächste Einsendeschluss für die Haiku- und Tanka-Auswahl ist der 15. Oktober 2016.
Jede/r Teilnehmer/in kann bis zu fünf Werke – davon aber nur noch drei Haiku – einreichen. Mit der Einsendung geben der Autor/-innen das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung auf der Website http://www.zugetextet.com
Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.
Für alle Einsendungen gilt: Sie dürfen noch nirgends veröffentlicht worden sein, nicht in den Printmedien und auch nicht in digitalen Medien!
Es gibt ab jetzt die Möglichkeit, die Haiku/Tanka selbst einzutragen:
DHG-Webseite/Aktivitäten/Haiku-Tanka-Auswahl/ Onlineformular
Oder bitte senden an: auswahlen@deutschehaikugesellschaft.de
Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmer/-innen zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG- Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken.
Petra Klingl
Ein Haiku, das mich besonders anspricht
abendausritt
die hand des kindes
hält er festHelga Stania
Die Hand des Kindes hält er fest. Gibt Halt und Mut, Schutz und Sicherheit, Gemeinschaft und Glückseligkeit. Er. Der Vater? In diesem Haiku ist etwas Großes. Verantwortung, Vertrauen, Trost, Liebe.
Abend. Das Tagewerk ist vollbracht. Dies ist die Stunde, auf die man gewartet hat. Jetzt ist die Zeit gekommen, sich der Familie zu widmen, sich zu verschenken, Erleben zu teilen, ein Hobby zu pflegen, Leidenschaft zu leben, Sehnsucht zu stillen.
Ausritt. Ist da überhaupt ein Pferd? Oder sitzt das Kind auf seinen Schultern?
Hatte ich als Kind Vertrauen, wenn ich auf Vaters Schultern saß?
Hielt er dann meine Hand?
Unruhe beschleicht mich – lieber ritt ich ein Pony.
Saß ich auf dessen Rücken, brauchte niemand meine Hand zu halten.
Und doch – Zeit mit Vater verbringen, auf seinem Knie zu reiten.
Vater …
Ist da nicht doch ein Pferd?
Sitzen die beiden möglicherweise hintereinander?
Verlässt Mutter gerade hoch zu Ross den Reitplatz? Und Vater und Kind blicken ihr nach?
Da, ein Gangartwechsel! Dieser leichte Galopp nach der ersten Zeile … so hören Sie doch!
Dieses modern gestaltete und in klarer, unprätentiöser Sprache gehaltene Haiku hat für mich alles, was ein „gelungenes“ Haiku ausmacht: Kürze, Prägnanz, Rhythmus, zwei Ebenen, deren Bilder weit genug voneinander entfernt sind, um Spannung zu erzeugen, und doch dicht genug, um diese zu bewahren (wie Hände, die einander halten), in diesen Bildern enthaltene Polarität (1. Ausritt = Bewegung / festhalten = statisch und 2. Abend = Alter / Kind = Jugend), Tiefe, Klang, Nachhall … Nicht konkret genug? Das stört mich gerade mal nicht!
Kommentiert von Gabriele Hartmann
Windräder
der Atem
eines MammutsDietmar Tauchner
Ein Haiku, das auf den ersten Blick rätselhaft und unzugänglich erscheint, sich aber hartnäckig in meinem Kopf eingenistet hat und mich weiterhin beschäftigt.
Meiner Erfahrung nach ein gutes Zeichen!
Das Haiku ist kurz, hat eine Nebeneinanderstellung zweier Bilder und bringt etwas Neues auf inhaltlicher Ebene. Den Windrädern wird “der Atem eines Mammuts“ gegenübergestellt, eine überraschende Kombina-tion, die jedoch das Haiku für mich ins Geheimnisvolle öffnet.
Die riesigen Mammuts sind natürlich längst ausgestorben. Vor rund viertausend Jahren haben sie ihren letzten Atemzug getan.
Das Geräusch, das die modernen Windräder erzeugen, könnte dem keuchenden Atem eines solch gewaltigen Tieres nahekommen. Aber das ist keine Gewissheit, sondern nur eine Vermutung, die meine Gedanken beflügelt und zu neuen Assoziationen führt.
Ich denke an den Atem, ohne den wir nicht leben könnten, der uns mit allem Lebendigen verbindet, an den Wind, der schon zu Urzeiten wehte und auch den Mammuts das Fell zerzauste, der den Menschen ermöglichte, die Weltmeere zu befahren und neue Kontinente zu entdecken, der ihnen half und noch immer hilft, das Getreide zu mahlen, (auch in unserem Viertel ist noch eine alte Windmühle in Betrieb), der als wütender Sturm zerstört, was Menschen sich aufgebaut haben, und sich auch sanft wie ein Atemhauch geben kann.
Don Quijote kommt mir in den Sinn, sein Kampf gegen die Windmühlen, die er für gefährliche Riesen hielt. Die Mammuts, die noch im Jungpleistozän lebten, gehörten zu den Jagdtieren der damaligen Menschen und versorgten sie mit Nahrung, also Energie.
Sahen sie nicht ähnlich furchterregend aus?
Weitere Gedankensprünge und Assoziationen überlasse ich an dieser Stelle gerne den Lesern.
Für mich wird der Anblick der riesigen, nicht unbedingt schönen und geliebten Windräder, die uns mit stets erneuerbarer Energie versorgen, von nun an mit diesen Gedanken verbunden bleiben.
Das ist das Verdienst dieses Haiku, das mit nur fünf Wörtern eine Brücke schlägt von unserer Zeit bis zur Urzeit des Menschen und dessen Lebensbedingungen auf diese Weise thematisiert.
Kommentiert von Gerda Förster
Nachmittagstee
sie rühren viel Kandis
in die BitterkeitAngelika Knetsch
Nachmittagstee – eine beschauliche Stimmung, fast wie in einem Stillleben, erfüllt das Bild. Aber nur im ersten Moment. Denn die 3. Zeile bestimmt hier den Charakter des Haiku. Bitterkeit!
Mein inneres Bild zeigt ein älteres Paar am Tisch, das vor sich hin schweigt.
Es liegt etwas Unausgesprochenes, schon lange Belastendes im Raum. Vielleicht auch eine Schreckensnachricht, die sie soeben erfahren haben. Das Personalpronomen „sie“ im Plural sagt nichts Genaues über die Anwesenden aus. Also nur eine Vermutung.
Und da ist der Kandiszucker, der schon fast im Übermaß in den Tee gerührt wird. Etwas Süßes, das die Stimmung kurzzeitig heben kann, und das Umrühren, eine Tätigkeit, die möglicherweise eine unangenehme Stille strukturieren soll.
Ein nachdenklich machendes Haiku, das mich berührt.
Kommentiert von Angelika Holweger
Kirchenkonzert –
ein Sonnenstrahl kreuzt deinen
GeigenstrichAngelika Seithe
Über dieses Haiku habe ich viel nachgedacht. Ein Sonnenstrahl kreuzt deinen
Geigenstrich. Ein Klangerlebnis, überlagert von einem symbolträchtigen visuellen Moment. Schwierigkeiten hatte ich allerdings zuerst mit dem besitzanzeigenden Fürwort (Possessivpronomen) „deinen“. Aber vielleicht ist ja gerade hier das persönliche Verhältnis zwischen Zuhörer(in) und Geiger(in) wichtig? Sonst wäre dieser Augenblick womöglich gar nicht wahrgenommen worden.
Faszinierend für mich hier, dass die Sonne (im Sonnengesang von F. v. Assisi „Bruder Sonne“ genannt) sich am Konzert ungefragt und aktiv beteiligt.
Ein Haiku mit der Aussage einer ganzen Predigt!
Kommentiert von Angelika Holweger
Die Auswahl
15 Punkte konnten erreicht werden.
ihr Tagebuch in deutscher Schrift
die Kinder
kommen nicht vorMartin Berner
12 Punkte
Fahrt zum Begräbnis
Sie haben
ihren Zielort erreichtMartin Berner
10 Punkte
Hitzewelle –
ein Laster berieselt den Weg
mit StrohValeria Barouch
7 Punkte
frisch verliebt
auf der Palette
ein neues RotFrank Dietrich
13 Punkte
Der große Vogel
löst sich auf in zwei kleine.
Morgendämmerung.Volker Friebel
12 Punkte
Einstellungsgespräch –
unser Handschlag
zerteilt die ZeitTaiki Haijin
8 Punkte
EM-Spiel
die Nuancen seines SchnarchensBirgit Heid
10 Punkte
Dürrezeit
auf dem Asphalt blühen
KreideblumenAnke Holtz
14 Punkte
alles was war
unter den Trümmern
sein BildIlse Jacobson
12 Punkte
Polterabend
unter den Scherben
Mutters OstfriesenroseSilvia Kempen
12 Punkte
Nachmittagstee
sie rühren viel Kandis
in die BitterkeitAngelika Knetsch
11 Punkte
Dämmerung –
die Nachtkerzen empfangen
erste GästeRenate Kueppers
12 Punkte
Spätsommer –
ich stehle den Strohblumen
eine Handvoll SamenEva Limbach
9 Punkte
sinkende Sonne
er spricht von verschiedenen
WellenlängenDiana Michel-Erne
12 Punkte
vibrierendes Seil
in der Gondel zur Bergstation
plötzlich SchweigenRuth Karoline Mieger
9 Punkte
Metamorphosen
immer länger der Riss
im Kleid der TänzerinRuth Karoline Mieger
9 Punkte
Honigmond
wir teilen
die erste MeloneEleonore Nickolay
13 Punkte
Einweisung
im Koffer der Sand
vom letzten SommerEleonore Nickolay
10 Punkte
am Sterbebett –
Vater fragt nach der Dauer
meiner DienstreiseAngelica Seithe
8 Punkte
Radtour
am Abend
gefühlte AnatomieBoris Semrow
11 Punkte
Wolkenwand
im Sturzflug
die SchwalbeBoris Semrow
7 Punkte
moorteiche
finde den grund nicht
in deinen augenHelga Stania
12 Punkte
wüstenwind
zurückgelassen im staub
eine wiegeHelga Stania
9 Punkte
Windräder
der Atem
eines MammutsDietmar Tauchner
10 Punkte
Platzkonzert
eine Amsel
gibt den Ton anBrigitte ten Brink
7 Punkte
Auge in Auge
eine Sonnensekunde
mit der EidechseFriedrich Winzer
13 Punkte
was sie bedrücken mag,
das weiß ich nicht, doch habe
ich ihn wohl bemerkt,
den zweiten Würfel Zucker
im Kaffee meiner FrauTony Böhle
14 Punkte
einen Wasserhahn
zu reparieren und
wie man sich rasiert –
nur zwei der Dinge,
die Vater mich nicht lehrteTony Böhle
13 Punkte
ich erinnere mich
an den ersten Kuss
auf ihre Wimpern
oder fielen Schneeflocken
auf die warme Erde?Gerd Börner
9 Punkte
„Kirschblüten“
so abgedroschen
aus meiner Feder
so frisch und unverbraucht
aus deinem MundFrank Dietrich
9 Punkte
gefunden –
im staubigen fleckerlteppich
streifen für streifen
verwoben
mein sommerkinderkleid …Ruth Guggenmoos-Walter
11 Punkte
Kaum wiederzuerkennen
das Haus meiner Kindheit
im Fliederduft
trage ich die Erinnerungen
zum Dorf hinausRamona Linke
11 Punkte