Die Haiku- und Tanka-Auswahl September 2018
Es wurden insgesamt 175 Haiku von 61 Autoren und 31 Tanka von 19 Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Juli 2018. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert.
Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.
Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, soziale Medien und Werkstätten etc.). Bitte keine Simultan-Einsendungen!
Bitte vorzugsweise die Haiku/Tanka in das Online-Formular auf der DHG- Webseite selbst eintragen:
deutschehaikugesellschaft.de/haiku-und-tanka-die-auswahl/
Ansonsten per Mail an: auswahlen@deutschehaikugesellschaft.de
Der nächste Einsendeschluss für die Haiku/Tanka-Auswahl ist der 15. Oktober 2018.
Jeder Teilnehmer kann bis zu fünf Texte – davon drei Haiku – einreichen.
Mit der Einsendung gibt der Autor das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung auf http:/www.zugetextet.com/.
Haiku-Auswahl der HTA
Die Jury bestand aus Sylvia Bacher, Rainer Randig und Angelica Seithe. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.
Alle ausgewählten 36 Haiku werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden bis zu max. zwei Haiku pro Autor aufgenommen.
„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken.
Eleonore Nickolay
Ein Haiku, das mich besonders anspricht
Kondensstreifen
wer wird meinen Nachruf
schreiben?
Gabriele Hartmann
Ein Senryû ist es, persönlich und ohne Jahreszeitenbezug, jedoch mit Spannung durch die deutliche Zäsur und mit offenem Ausgang.
Kondensstreifen entstehen wetterunabhängig in Kälte, insbesondere in großer Höhe und Luftfeuchtigkeit. Je höher diese ist, umso länger bleiben sie bestehen und für uns sichtbar. Die freie Sicht ist zwar nicht jahreszeiten- jedoch schönwetterabhängig.
Der Autor und Fragesteller (ich bin so emanzipiert, dass ich die männliche Form für beide Geschlechter nehme) hat ein Alter erreicht, wo Verluste zunehmen, auch eigene körperliche Beschwerden und damit verbundene depressive Stimmungslagen.
Da taucht die Frage auf, was wird bleiben von mir, wenn ich nicht mehr bin, von meinem Leben, meiner Arbeit, von mir als Mensch. Wie lange wird die Erinnerung andauern? Wem liege ich so am Herzen, dass er meinen Nachruf verfasst?
Mir gefällt die Assoziation mit dem klaren Himmel, wo hoch oben etwas über längere Zeit sichtbar bleibt, obwohl der Verursacher nicht mehr da ist. Ein beeindruckend langer Nachhall …
Ausgesucht und kommentiert von Sylvia Bacher
die spitze Nase
der Wolke am Himmel
zieht sich lang und länger
Ingrid Töbermann
Ja, diese Wolken! Scheinbar immateriell, kaum greifbar, dennoch spürbar, fließend, umhüllend können sie sogar die Sicht nehmen. Andererseits lassen sie sich von außen betrachten. Wahre Chamäleons der Form, zwei mit derselben Gestalt gibt es nicht. Veränderlich im Werden und Vergehen wird eigenständige Lebendigkeit vorgegaukelt. Dabei sind auch sie eingebunden in die Wirkkräfte der Welt. Faszinierend, wenn sie vereinzelt dahinziehen, frei schwebend und sich wandelnd. Verrückte Wolken! Unsereiner hier unten kann fast nur durch die Deutung von Formähnlichkeiten Bezüge zu ihnen herstellen.
So schau doch, dort oben ein Kopf mit Pinocchionase! Seltsam – das gilt doch nicht etwa mir, oder? Was habe ich bloß gedacht? Jetzt streckt sich die Nase noch weiter! Wahrhaftig, kein Blick ins Nichts – sondern auf ein Menetekel!
Kaum erleichternd, wenn die gestreckte Wolke sich langsam auflöst. Pinocchio bleibt mir! Mehr sag’ ich nicht. Nur so viel noch: Auch Einbildung hat ihre Ursachen …
Ausgesucht und kommentiert von Rainer Randig
Gewitterschwüle
unsere Worte entkleiden sich
Anke Holtz
Das Haiku konfrontiert zunächst mit einer Naturstimmung, die wir kennen. Meist ist sie problematisch, meist schwer zu ertragen. Sie macht gereizt oder träge. Etwas ist aufgeladen in der Atmosphäre, drängt nach Entladung. Zugleich ist es warm, das Bedürfnis, sich von überflüssiger Kleidung zu befreien, übermächtig.
Wir erfahren in der zweiten Zeile, dass der Autor nicht alleine ist. Er teilt die Schwüle mit mindestens einem Menschen. Das Entkleiden bekommt durch die mögliche Zweisamkeit eine besondere Bedeutung. Etwas Intimes klingt an.
Aber halt, es sind die Worte, die sich hier entkleiden: „unsere Worte“.
Mir gefällt die metaphorische Verdichtung. Und mir gefällt die Originalität dieser Wendung. Aber was heißt es, wenn Worte sich entkleiden? Was deutet sich in diesem Bild an?
Schwüle kann bekanntlich auch auf einen inneren Vorgang verweisen, auf eine innere Spannung zwischen (zwei) Menschen, auf Unbehagen oder Enge. Das ist die zweite Ebene des Haiku. Es geht um (sprachliche) Konventionen, Hemmungen, die, ausgelöst durch die Gewitterschwüle, fallen gelassen, abgeworfen werden wie Kleidungsstücke. Dabei bleibt offen, ob das Entkleiden der Worte einem aggressiv explosiven Impuls folgt, bei dem Gereiztheit und Ärger unmaskiert hervortreten – oder ob es dabei um zurückgehaltene Leidenschaft geht, wo Worte ihre Verkleidung abwerfen und sich die Liebe unverhüllt zu erkennen gibt. Das Haiku lässt es offen. Das macht den Zweizeiler geheimnisvoll.
Apropos Zweizeiler: Hätte das Haiku auch dreizeilig angelegt werden können? Mir kommt es vor, als würde sich bei der dreizeiligen Schreibweise etwas von der Wucht seiner Wirkung abschwächen.
Das Haiku hat mithin alles, was ein gutes Haiku haben sollte: Die Unmittelbarkeit des Erlebens im Augenblick, das Sinnliche und die Offenheit, mit der sich die Fantasie des Rezipienten frei entfalten kann. Darüber hinaus ist es in einer Jahreszeit verankert. Was es mir aber besonders angetan hat, das ist die Originalität dieses poetischen Einfalls, und es sind die beiden kunstvoll – und zugleich einfach – miteinander verwobenen Bedeutungsebenen. Wichtig auch, dass das Bild auf beiden Ebenen stimmt, auf der äußeren, in der Natur verhafteten, wo Kleider abgeworfen werden, weil es schwül und warm ist, und auf der inneren, kommunikativen Ebene, wo Worte aus der Deckung kommen, weil eine innere Spannung zu groß geworden ist. Durch die Kurzschaltung dieser beiden Ebenen erreicht das Haiku eine besondere Verdichtung. Es überrascht.
Mit wenigen Worten gelingt hier (noch vor dem Gewitter) ein echter Knaller!
Ausgesucht und kommentiert von Angelica Seithe
altes Feuer –
sie bläst in die
letzte Glut
Taiki Haijin
Zunächst ein Bild. Wir sehen eine Feuerstelle – Lagerfeuer oder Kamin. Das Feuer hat schon eine Weile gebrannt. Es ist „alt“. Wir sehen eine weibliche Person, die in die „letzte Glut“ dieses fast schon erloschenen Feuers bläst.
Fast zugleich mit dem Feuer steigt ein Verständnis für seine Symbolik in uns auf. Das „alte Feuer“, Sinnbild für eine vergangene Leidenschaft, eine alte Liebe vielleicht –, die aber noch nicht ganz erloschen ist. Es gibt noch einen Rest von Glut. Und die Frau versucht, indem sie hinein bläst, die alte Beziehung oder ihre Gefühle noch einmal zu entfachen.
Fragen tauchen auf, die uns bewegen: Wann und wodurch geht ein Feuer zur Neige, wodurch bekommt eine Partnerschaft weniger Nahrung? Wie können wir sie lebendig erhalten? Oder muss man das Ende einer Liebe als naturgegeben hinnehmen? Macht es Sinn, ins Feuer zu blasen?
Zugleich könnte sich das Haiku aber auch auf ein inneres Feuer der Protagonistin selbst beziehen, auf ihre Energie, ihre Liebesfähigkeit, ihre Fähigkeit, noch sinnlich leidenschaftlich zu empfinden – für einen Menschen oder eine geliebte Tätigkeit. Es ist ein „altes Feuer“, aber es hat noch diese „letzte Glut“, es hat noch Potenzial zu entflammen, lebendig zu werden und, wenn der Übergriff erlaubt ist, … ein wunderbar anregendes Haiku zu schreiben.
Ausgesucht und kommentiert von Angelica Seithe
Die Auswahl
Café Gourmand …
der Spatz verlässt den Tisch
ohne Krümel
Valeria Barouch
Lindenblütenduft
er lockt zu
ja für die Chemo
Martin Berner
der schmale Pfad im Moor
hier und da –
Silberschälchen
Gerd Börner
dieser Tag am Meer –
in meine Kladde schreibe ich
kein Wort
Gerd Börner
glühender Tag
nur die Schatten
wandern
Horst-Oliver Buchholz
Regentage.
Die Katze springt
nach der Stubenfliege.
Reinhard Dellbrügge
Gipfelkreuz
ich stehe
auf einer Wolke
Frank Dietrich
Frühlingswiese
in jedem Tautropfen
eine andere Welt
Frank Dietrich
Frühlingswiese
in jedem Tautropfen
eine andere Welt
Frank Dietrich
gewittriger abend
neben der quelle
ein salamander
Bernadette Duncan
Abendsonne
Unsere Schatten kommen
sich näher
Hans-Jürgen Göhrung
Abendsonne
Unsere Schatten kommen
sich näher
Hans-Jürgen Göhrung
Fremde Gerüche
das Meer flutet den Abend
mit einem Rauschen
Hans-Jürgen Göhrung
altes Feuer –
sie bläst in die
letzte Glut
Taiki Haijin
altes Feuer –
sie bläst in die
letzte Glut
Taiki Haijin
Unterm Lindenbaum
eine stumme Zeitzeugin –
die alte Holzbank
Erika Hannig
gefällte Weide –
einmal noch treiben
im rapsgelben Meer
Claus Hansson
die Birke wispert
über dem Wollgras
flirren Libellen
Claus Hansson
Kondensstreifen
wer wird meinen Nachruf
schreiben
Gabriele Hartmann
morgenstille
verebbt im lärm der großstadt
warten auf die flut
Kerstin Hirsch
Gewitterschwüle
unsere Worte entkleiden sich
Anke Holtz
mit einem Wunsch
die Münze taumelt
auf den Brunnenboden
Anke Holtz
Felsenbirne
die Vögel teilen ihre Früchte
mit mir
Angelika Holweger
Friedhofsbank
Geschichten Verstorbener
werden lebendig
Gérard Krebs
Unter den Wellen
das tiefe Seufzen
der Stille
Matteo Lieber
Gezeitenwechsel
die Stille
als er den Fisch ausnimmt
Eva Limbach
Hospizbesuch
und die Amsel singt und singt
Ramona Linke
es gäb’ viel zu erzählen
sitzende Angler
stumm wie die Fische
Wolfgang Rödig
dämmerstündchen
zu versinken ohne angst
vor dem erröten
Birgit Schaldach-Helmlechner
Leerer wird die Welt
und meine Schritte kürzer
wie lang noch der Weg …
Hildegund Sell
ein vogellied
wirft mir den morgen zu
waldschatten
Helga Stania
lerchenlieder meiner gedanken leichtigkeit
Helga Stania
Arm in Arm
Mäuseschritte zählen
mit Oma Erna
Angela Hilde Timm
Beim Anblick der
Leine in meiner Hand springt
er wie ein Flummi
Angela Hilde Timm
unten und oben
unser Kater und der Spatz
oben und unten
Erika Uhlmann
Nachtschmetterlinge
panisch in Vorhangfalten
die Uhr tickt
Traude Veran
Abschied
ihre Wimperntusche
geht auf Reisen
Friedrich Winzer
Leere …
mein Papierkorb
voller Haiku
Friedrich Winzer
sehende Hände
das anatomische Lächeln
der Masseurin
Klaus-Dieter Wirth
Tanka-Auswahl der HTA
Tony Böhle und Silvia Kempen wählten vier Tanka aus.
„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto werden Texte vorgestellt und kommentiert.
Ein Tanka, das mich besonders anspricht
dieses schweißgebadete
Hin-und-her-Wälzen
Nacht für Nacht
der Kampf der Schlangen
in meinem Kopf
Frank Dietrich
Jeder Dritte in Deutschland schläft schlecht, leidet an Schlafmangel oder einer Schlafstörung. Wer kennt es nicht, dieses ruhelose Hin-und-her-Wälzen, wenn Sorgen, Probleme, Angst oder unruhige Tagesabläufe den Schlaf rauben oder sich in Träumen Ausdruck verleihen.
Die Schlange ist eines der ältesten Ursymbole der Menschheit und hat vielschichtige Bedeutungen, die positiv oder negativ sein können. Dazu ein paar Beispiele: In der griechischen Mythologie wurden Schlangen als Wesen der Heilung angesehen. Die Häutung wird als Symbol für die Erneuerung des Lebens gesehen. Dem gegenüber steht die Schlange, wie wir sie aus der Schöpfungsgeschichte kennen: Sie verkörpert das Böse, Verrat und Falschheit.
In diesem Tanka wälzt sich das lyrische Ich schweißgebadet hin und her, was nicht gerade für positive Träume spricht. Und das auch noch „Nacht für Nacht“. Wiederkehrende Träume weisen oft auf alte Verhaltensmuster hin, die den jeweiligen Menschen nicht loslassen und die sehr häufig mit negativen Erfahrungen gekoppelt sind. Das geht meist so lange, bis das Erlebnis bewusst bearbeitet wird.
Der Hinweis auf dieses „Erlebnis“ ist „der Kampf der Schlangen“.
Ausgesucht und kommentiert von Silvia Kempen
Die Auswahl
Großmutters Foto
im Kerzenschein blinzeln
ihre Augen
wie damals zur Weihnachtszeit
als ich die Puppe bekam
Christa Beau
dieses schweißgebadete
Hin-und-her-Wälzen
Nacht für Nacht
der Kampf der Schlangen
in meinem Kopf
Frank Dietrich
nur mein Bestes
wollte Mutter und hinterließ
nebst gutem Rat mir
den Familienschmuck – beides
werd’ ich wohl umarbeiten
Gabriele Hartmann
das gute Vinyl
dreht die Zeit so schön zurück
knisternde Spannung
sogar an manchem Kratzer
hängt eine Erinnerung
Wolfgang Rödig