Für diese Auswahl wurden insgesamt 181 Haiku von 65 Autoren und 55 Tanka von 23 Autoren eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Juli 2021. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert.

Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, inklusive die Foren auf HALLO HAIKU, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte keine Simultan-Einsendungen!

Bitte alle Haiku/Tanka gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite HALLO HAIKU selbst eintragen:

Märzauswahl: Einsendeschluss 15. Januar 2022

Ansonsten per Mail mit Stichwort Haiku/Tanka-Auswahl 15. 10. 2021 im Betreff bitte an:

auswahlen@deutschehaikugesellschaft.de

Der nächste Einsendeschluss für die Haiku-/Tanka-Auswahl ist der 15. Oktober 2021.

Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.

Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der Agenda der DHG und auf http://www.zugetextet.com/sowie für eine mögliche Vorstellung auf der Website der Haiku International Association.

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Gregor Graf, Taiki Haijin und Dagmar Westphal. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Texte – 37 Haiku von 33 Autoren – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden maximal zwei Haiku pro Autor aufgenommen.

„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.

Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken.

Peter Rudolf

 

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

in alten Heften blätternd
sie sagt
es sei der Abendwind

Eva Limbach

Für mich ein wunderbares Senryu voller Poesie, ohne Makel!

Selber alt, sehe ich mich auf dem Dachboden in alten Heften blättern. Schulhefte, ein Zeugnis, Fleiß genügend, das Script Chemie mit vielen Unterstreichungen, ein Haushaltbuch vier Brötchen 60 Rappen, ein Fotoalbum, Tante Fanny als Mädchen, mein Vater als Student mit Zigarette im Mundwinkel, die Mutter in Paris und ich, ein Knirps mit vielen Locken. Alles riecht muffig. Die Zeit blieb stehen. Irgendwann wird sich niemand mehr erinnern.

Meine Frau ruft: Du warst aber lange oben! – Es war der Abendwind.

Ausgesucht und kommentiert von Gregor Graf

 

immer wieder dreht
der Kleine die Sanduhr um,
bewundert die Zeit

Klaus-Dieter Wirth

Ein geglücktes Senryu, das mich unmittelbar anspricht. Da ist einmal das Kind, das mit der Eieruhr seiner Mutter selbstvergessen spielt, beobachtet, wie der feine Sand durch die Enge im Glas rieselt, hin und her, das Fließen der Zeit sieht. Die Zeit – wann hat sie angefangen, wann wird sie zu Ende sein? – Was Zeit ist, hat die Menschen seit jeher beschäftigt. Philosophen, Naturwissenschaftler, Künstler aller Sparten. Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Augustinus schrieb: „Wenn mich niemand danach fragt, so weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ Newton meinte: „Zeit ist, und sie tickt gleichmäßig von Moment zu Moment.“ Um nur zwei weitere großartige Denker zu erwähnen, die sich mit dem Rätsel Zeit beschäftigten: Marcel Proust, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und Martin Heidegger mit „Sein und Zeit“. Auch Einstein hat grundlegend zum Verständnis der Zeit als physikalische Größe beigetragen.

Und welche Rolle spielt die Zeit in meinem persönlichen Leben, in unserer Gesellschaft? – Zeit ist ein kostbares Gut. Ich kann Zeit haben und Zeit verschenken. Und im Sport, wo manchmal der Bruchteil einer Sekunde über den Sieg entscheidet? Wer kennt nicht das Bild vom Sensenmann mit dem Stundenglas in der Hand, das an unsere Vergänglichkeit erinnert? Und was habe ich in der Schule den Mädchen ins Poesiealbum geschrieben und eine große Sonne dazu gemalt?

Mach es wie die Sonnenuhr
zähl die heitern Stunden nur!

Eigentlich gar nicht so schlecht, der Ratschlag, oder?

Ausgesucht und kommentiert von Gregor Graf

 

Jubelschrei!
Die Berge jubeln
zurück!

Frank Dietrich

Vielleicht ist es ja meinem nahenden Urlaub geschuldet; der Sehnsucht danach, endlich wieder eine Reise zu unternehmen – aber dieses laute, fröhliche Haiku spricht mich an. Ich höre jemanden im Hochgefühl euphorisch jubeln … und das sogar mit Ausrufungszeichen. Ich nehme an, es ist ein entzückter Wanderer. Vielleicht aber auch ein Tourist, der an seinem ersten Urlaubstag in den Bergen oder auf einem grad erstiegenen Gipfel sein Glück hinausschreit. Und es jubelt ihm von den Bergen begeistert zurück.

Das kann ein Echo sein, ein anderer Wanderer, Kinder vielleicht. Genau kann man das nicht wissen. Vielleicht hört der Schreihals auch gar keine Antwort, sondern fühlt nur inbrünstig, wie ihn die Berge erwartungsfroh einladen, sie zu erklimmen. Möglicherweise feiern sie ihn auch mit Ovationen für den Triumph des erfolgreichen Aufstiegs. Schon in der Bibel steht: „Ihr werdet voller Freude in die Freiheit hinausziehen und wohlbehütet euren Weg gehen. Berge und Hügel brechen in Jubel aus, und die Bäume am Weg klatschen in die Hände“ (Jesaja 55,12).

Neben dem unmittelbaren Bild der lärmenden Freude über den Naturgenuss kommt mir außerdem noch das Sprichwort in den Sinn, wonach es aus dem Wald genauso hinausschallt, wie man hineinruft. Jemand, der so wie hier mit überschwänglicher Begeisterung auftritt, wird häufig auch griesgrämigste Gemüter leidenschaftlich mitreißen.

Und wer jetzt meint, ein Haiku müsste wehmütiger klingen und die Vergänglichkeit betonen, dem sei erwidert, dass leider auch der schönste Urlaub einmal zu Ende geht. Insofern klingt in diesem Jubelschrei auch die Flüchtigkeit allen Vergnügens mit. Gleichwohl werde ich mich nun selbst mit der Familie ausgelassen auf den Weg in die Chiemgauer Alpen machen – um dort tatsächlich ein wenig das Jubeln zu üben.

Ausgesucht und kommentiert von Taiki Haijin

 

Alter Teich im Park.
Das Geräusch beim Auftreffen
der Coladose.

Moritz Wulf Lange

Was ist das? Eine verballhornte Kopie von Matsuo Bashōs Frosch-Haiku? Ziemlich frech, sowas.

Der alte Teich
Ein Frosch springt hinein –
das Geräusch des Wassers

So hatte Bashō mit seinen Freunden gedichtet. Ein intensives Bild der Natur. Ein Bild der Stille und der Einheit der Dinge. Ganz anders aber dieses Haiku. Ein städtischer Park, eine Kunstlandschaft – gegebenenfalls schon etwas verkommen. Jemand, der eine Getränkedose in den Teich wirft, und vielleicht schwimmt da auch schon mehr Müll herum. Offenbar ein Umweltschwein, das die bürgerliche Idylle stört. Und der Werfer trinkt Cola. Das passt! Immerhin sind nach einer US-Studie Jugendliche, die große Mengen zuckerhaltige Brause trinken, häufiger in gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt. Den Konsumenten ist also einiges zuzutrauen. Andererseits trinken einer anderen Studie gemäß Kinder und Jugendliche immer weniger Cola und andere Zuckerbomben. Damit muss jedenfalls offen bleiben, welcher Altersklasse der Sünder angehört.

Und wer – außer dem Leser des Haiku – hört nun das Geräusch, das die Dose bei ihrem Auftreffen auf der Wasseroberfläche macht? Der Werfer, der sich hieran erfreut? Seine Freunde, die das cool finden? Ein Beobachter, der sich über den Frevel ärgert? Ein Parkbesucher, der das ganz normal findet? Auch dies bleibt unklar. Sicher ist aber, dass man dieser Tage eher jemanden erwischt, der seinen Müll in die Gegend wirft, als dass man einen Frosch beim Bade beobachten kann. Von daher bietet dieses Haiku ein durchaus aktuelleres Bild als das Frosch-Haiku.

Wie auch der Teich bei Bashō ein Spiegel der Außenwelt ist, so verhält es sich mit diesem Parkgewässer. Was wir da zu sehen bekommen, mag uns freilich nicht gefallen. Und anders als Bashōs Frosch gehört die Coladose sicher nicht in den Teich. Doch gerade während Corona zeigt sich: Mehr Freizeit draußen bedeutet automatisch mehr Müll im öffentlichen Raum. Mit dem Geräusch des Aufpralls erkennen wir sowohl die Unsitten der Parkbesucher als auch gleichzeitig im Teich die Natur selbst. Womöglich tun wir dies, ohne den Werfer selbst gesehen zu haben. Jeder könnte es gewesen sein.

Forscher der Humboldt-Uni plädieren insofern dafür, zur Müllvermeidung auf sogenanntes „Nudging“ zu setzen. Hierbei werden Menschen durch einen kleinen „Anstupser“ ohne Zwang dazu gelenkt, sich vernünftig zu verhalten. Auch dieses Haiku kann gut als „Nudge“ durchgehen. Weiterer Verdienst dieses Haiku ist zweifelsohne, dass es die Realität zum Gegenstand der Betrachtung macht. Viel zu viele Haiku enthalten romantisierende, gar kitschige Vorstellungen von Vorgängen, die so kaum erlebbar sind. Dass der Verfasser mit dieser Sitte bricht, macht mir sein Haiku sympathisch; hat er nicht auch mit der Coladose „die Wahrheit“ gesagt!

Ausgesucht und kommentiert von Taiki Haijin

 

sie kehren zurück
und fangen den Birnbaum ein –
lärmende Spatzen

Christof Blumentrath

Mittagspause auf der Liege im Schatten des Birnbaums. Die Luft flimmert, die Spatzen über mir im Gezweig sind sehr gesprächig, ihr Tschilpen ist kein Lärm für mich, eher meditative Musik, die mich wunderbar entspannt und so schläfrig macht, dass ich fest eindöse. Irgendwann wache ich auf, weil es so still ist. Wo sind sie geblieben, meine fröhlich quasselnden Überflieger, wer hat sie vertrieben? Nachbars Kater, der durchs Dickicht schleicht oder der kreisende Schatten hoch über uns? Lange muss ich nicht warten, auch wenn die Ursache ihrer Flucht rätselhaft bleibt. Aus dem Nirgendwo schwirren sie plötzlich heran und fangen den Birnbaum ein, die ersten mutigen auf den oberen Rängen, der Rest des Schwarms verteilt sich auf den unteren Etagen, und sie haben mir viel Neues zu erzählen – so viel, dass meine Augen wieder zufallen.

 Ausgesucht und kommentiert von Dagmar Westphal

 

Chorprobe
Wind in den Vorhängen
geöffneter Fenster

Michael Deisenrieder

Nach einem Jahr Pause das erste Treffen zur Chorprobe. Meine Vorfreude ist grenzenlos, kann es kaum erwarten, die anderen wiederzusehen und zu hören. Ich betrete den großen Saal. Es ist kalt, alle Fenster stehen weit offen. Ich fröstele, meine Jacke bleibt auf meinen Schultern. Ich schaue nach links: ein leerer Stuhl zwischen mir und meiner Nachbarin, auch der Stuhl rechts von mir bleibt leer. Meine Stimme klingt seltsam fremd in meinen Ohren, irrt einsam durch den Raum. Meine Hochstimmung sinkt, nimmt Abstand von der anfangs so freudigen Erwartung auf einen gemeinsamen fröhlichen Abend. Die Vorhänge in den offenen Fenstern wehen, meine Hände werden klamm, die Notenblätter zittern mit dem Stoff der Vorhänge. Niemand schließt das Fenster, die Aerosole fliegen ins Freie.

Ausgesucht und kommentiert von Dagmar Westphal

 

Der Kater kommt heim
auf seinem Fell
die warme Sonne

Jan Weck

Die Stunden schleichen durch die Nacht. Gewöhnlich kommt mein Kater nach seiner Pirsch irgendwann spätabends durch die Katzenklappe. Ich kann nicht schlafen, öffne die Tür, suche die Dunkelheit ab. Fern am Horizont kündigt sich schon die Morgendämmerung an. Von der Straße her Motorengeräusche, Bremsen quietschen. Ich rufe: „CATO! CATO!“, klappere mit der Leckerli-Dose. Nichts – nur ein Nebelstreif und wieder gespenstische Stille.

Ich schleppe mich ins Haus, mache mir einen Kaffee, nicke im Sessel ein, wache auf, nicke ein … plötzlich das bekannte Geräusch, ich zucke zusammen: klick-klack … macht die Katzenklappe, sofort bin ich hellwach.

Und dann das vertraute Schubbern an meinem Bein, meine Hand wird magisch angezogen vom sonnenwarmen Fell meines Katers. In welcher kuscheligen Mulde hat er geschlafen, bis ihn die Strahlen der Morgensonne weckten und heim zu mir schickten?

Kein Ende des Kraulens, der Herzschlag meines Lieblings lässt meine Fingerspitzen vibrieren. Sonne durchflutet das Haus.

Ausgesucht und kommentiert von Dagmar Westphal

 

 

Die Auswahl

Hitzewelle –
die endlose Stille
im Bachbett

Valeria Barouch

Zum Dorf und zurück …
ich grüße die gleiche Schnecke
zwanzig Zentimeter früher

Valeria Barouch

Blütenmeer im Park
langsamer
kann ich nicht gehen

Christa Beau

Schaufenster
inmitten der Puppen
ich

Christa Beau

Fronleichnamsprozession
Vergissmeinnicht knien
am Wegesrand

Daniel Behrens

fallende Blüten
vor lauter Bienenansturm
kein Tinnitus mehr

Eva Beylich

sie kehren zurück
und fangen den Birnbaum ein –
lärmende Spatzen

Christof Blumentrath

heißer Sommertag
ich höre das Konzert der Zikaden
über Amazon Alexa

Maya Daneva

Chorprobe
Wind in den Vorhängen
geöffneter Fenster

Michael Deisenrieder

Alte Fotos –
das Verblassen
der festgehaltenen Zeit

Reinhard Dellbrügge

im Wörterbuch
nach der Tochterzelle
der Tod

Frank Dietrich

Jubelschrei!
Die Berge jubeln
zurück!

Frank Dietrich

Blutmond
ich laufe barfuß
durch Kirschblütenschnee

Hildegard Dohrendorf

nebeltag
mische mich nicht ein
in die gespräche der steine

Bernadette Duncan

lauschen
wie du DU sagst
heckenrosenduft

Petra Fischer

ein mooskissen –
das holzbrett
der alten schaukel blüht …

Ruth Guggenmos-Walter

Kastanienallee
unsere Schritte
zwischen Licht und Schatten

Ilse Jacobson

Erntedank
Zwei Spaten lehnen
an der Gartenmauer

Deborah Karl-Brandt

Kükenschreie
die Entenmama
taucht ab

Petra Klingl

Alter Teich im Park.
Das Geräusch beim Auftreffen
der Coladose.

Moritz Wulf Lange

leere Schwalbennester
das Schweigen
neu erfinden

Eva Limbach

eine neue Schicht
Herbstlaub
immer noch trägt sie schwarz

Ruth Karoline Mieger

Gurrende Tauben
der Bäcker in der Gasse
Morgens um halb neun

Maximilian Pohl

Domgewölbe –
angefüllt mit Gebeten
aus Jahrhunderten

Sabina Ptascheck

Blauer Märzabend.
Glasperlen, Silberfäden
im nackten Acker.

Johann Reichsthaler

Der Sommer vergeht –
in dem nichtkommenden Brief
ist alles gesagt

Dragan J. Ristić

Mitternachtsnebel –
die rotgrünen Augen
der Verkehrsampel

Dragan J. Ristić

Nach Hause kommen
der Gesang der Amsel und
deine Umarmung

Peter Rohrbeck

Terrassenparty
Cocktails in bunten Gläsern
schnell schmilzt das Eis

Rita Rosen

Abenddämmerung
über feuchtem Grün
glühen Würmchen

Evelin Schmidt

Gewitterregen –
Blütenblätter, durchsichtig
auf dem Asphalt

Marie-Luise Schulze Frenking

regennacht
ich höre die farbe
des bachs

Helga Stania

mein Weg zum Kanal
auf dem Bürgersteig watschelt
ein Stockentenpaar

Ingrid Töbermann

der Kater kommt heim
auf seinem Fell
die warme Sonne

Jan Weck

Sommerabend
das trockene Klicken
der Boulekugeln

Friedrich Winzer

Die Morgenkühle
schleicht sich zum Fenster herein –
willkommener Gast

Birgit Wendling

immer wieder dreht
der Kleine die Sanduhr um,
bewundert die Zeit

Klaus-Dieter Wirth

 

Tanka-Auswahl der HTA

 

Silvia Kempen

Kurzvorstellung von Martin Thomas

Glücklicherweise hat sich Martin Thomas bereit erklärt, an der Auswahl der Tanka mitzuwirken. Ich danke ihm, auch im Namen der DHG und der SOMMERGRAS-Redaktion, dafür ganz herzlich.

Martin ist im Jahr 1989 in Bautzen geboren. Er studierte in den Jahren 2008 bis 2017 Japanologie und Germanistik in Leipzig, Nagoya und Kyoto und ist seit 2017 Mitarbeiter der Japanologie der Universität zu Köln.

Den ersten Kontakt zur japanischen Kurzlyrik hatte er im Rahmen seines Studiums, den ersten Kontakt zur DHG im April 2009 über Georges Hartmann, der ihn mit einer Reihe alter SOMMERGRAS-Ausgaben versorgte. Martin nahm 2015 in Wiesbaden und 2019 in Traben-Trarbach an den Haiku-Treffen sowie den Mitgliederversammlungen teil. Dort lernte ich ihn kennen.

Er sagt von sich: „Selbst schreibe ich eher wenige Haiku und Tanka, sondern forsche lieber. Mein Interesse gilt insbesondere den politischen Dimensionen und den gesellschaftlichen Funktionen, welche die verschiedenen Formen der Kurzlyrik in Japan einnehmen.“

 

Silvia Kempen und Martin Thomas wählten 6 Tanka von 5 Autoren aus. Es werden maximal zwei Tanka pro Autor aufgenommen.

„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto werden Texte vorgestellt und kommentiert.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

ganz ganz weit
muss man die Kerne spucken
sagst du
und guckst zu mir hinauf
von deinem Bobbycar

Christof Blumentrath

Dieses Gedicht hat mir binnen weniger Sekunden ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Unweigerlich musste ich daran denken, wie mir mein vierjähriger Neffe mit erhobenem Zeigefinger und weit geöffneten Augen bereits das ein oder andere Mal versucht hat, die Welt zu erklären, vor­nehmlich, wie ich mit seinen Matchbox-Autos zu spielen habe. Das vorliegende Tanka widmet sich augenscheinlich einem nicht weniger spannenden Zeitvertreib, und zwar dem Kirschkernweitspucken. Dabei besticht es insbesondere durch den stufenhaften Aufbau, der gleich einem Spannungsbogen von Zeile zu Zeile ein weiteres inhaltliches Detail offenbart.

Gleich zu Beginn wartet das Gedicht mit einer Wortwiederholung auf, die neugierig auf das Folgende macht und in dieser prominenten Position relativ untypisch ist. Dabei trifft die Doppelung von „ganz“ exakt den kindlichen Ton, der mit Blick auf den übrigen Text intendiert zu sein scheint und das Gesamtbild stimmig untermalt. Nicht nur „weit“, sondern „ganz ganz weit“ sollen Kirschkerne gespuckt werden, wie die zweite Zeile verrät. Dass diese Unterweisung, die ebenso passend durch die Verwendung der deklinierten Form des Verbs „müssen“ zum Ausdruck gebracht wird, von einer anderen Person ausgeht, erfahren die Leserinnen und Leser wiederum in Zeile drei. Doch erst in den letzten beiden wird aufgelöst, bei wem es sich um das zunächst noch anonyme „Du“ handelt: ein Kind.

Die Qualität des Textes besteht nun darin, dass auch dieser letzte Sachverhalt nicht einfach plump nach außen posaunt, sondern elegant in eine Beschreibung verpackt wird, die mit dem Blick von unten nach oben des Kindes beginnt und in der räumlichen Verortung desselben auf einem Bobby-Car endet. Auf diese Weise regt das Gedicht die Fantasie der Leserinnen und Leser nicht nur akustisch in Bezug auf das gesprochene Wort, sondern auch visuell in Bezug auf die agierenden Personen und deren Standort an. Hinzu kommt der haptische Moment, wenn man sich dabei ertappt, wie man beim Gedanken daran, wie man selbst zuletzt einen Kirschkern (weit)gespuckt hat, unwillentlich den Mund spitzt und über die beste Technik zu sinnieren beginnt.

Da die Kirschernte vor allem in die Monate Juni und Juli fällt, versprüht das Gedicht insgesamt ein wirklich sommerliches Flair. Darüber hinaus strahlt es aufgrund seiner Thematik eine gewisse Leichtigkeit aus, die man in den letzten Monaten infolge der Corona-Pandemie leider viel zu oft hat vermissen müssen. Es ist ein modernes Tanka, dessen Sinnebenen zwar nah beieinander liegen, dessen Form und sprachliche Gestaltung jedoch keinen Zweifel an der Gattungszugehörigkeit lassen. Mich persönlich hat es besonders angesprochen, da es vermochte, in knappen Worten einen ganzen Kurzfilm vor meinem inneren Auge ablaufen zu lassen. Appetit auf Kirschen (mit einem Hintergedanken) hat es mir außerdem gemacht.

Ausgesucht und kommentiert von Martin Thomas

 

 

 Die Auswahl

Den Teppichhändler
wähnte ich schon im Jenseits
so alt schien er damals
selig lächelnd schiebt er nun
seine Enkel durchs Diesseits

Valeria Barouch

ganz ganz weit
muss man die Kerne spucken
sagst du
und guckst zu mir hinauf
von deinem Bobbycar

Christof Blumentrath

Hand in Hand
mit kleinen Schritten durchs Laub
sie zwinkert ihm zu
und lächelt – der Himmel
muss warten

Christof Blumentrath

ein christbaum-gerippe
von den kindern
in ihr versteck geschleppt –
im august
leise weihnachtsmelodien …

Ruth Guggenmos-Walter

einsame Waldlichtung
ein Ort mit Potential
für magische Momente
sie zaubert ihr Strickzeug
aus dem Picknickkorb

Wolfgang Rödig

Du hast meinen wunden Punkt
genau getroffen –
ohne nachzudenken
drücke ich zielsicher auf
deinen roten Knopf …

Birgit Wendling

 

Sonderbeitrag von René Possél

René Possél hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das ihn besonders anspricht.

Hitzewelle –
die endlose Stille
im Bachbett

Valeria Barouch

Ein Haiku über die Auswirkungen der letzten Wetter-Kapriolen. Das Wort der ersten Zeile „Hitzewelle“ beschwört ein Phänomen, das wir noch im Juni erleben konnten: Anhaltende extreme Wärme-Hitze! „Die endlose Stille“ der zweiten Zeile bereitet vor, was die dritte Zeile mit „im Bachbett“ vollendet. Unausgesprochen, aber überdeutlich offenbart die Stille im Bachbett das Fehlen von Wasser aufgrund der Hitzewelle. Sehr schön, wie hier das vom Wasser genommene Bild der Hitze-„Welle“ indirekt bei den fehlenden Wasser-„wellen“ im Bachbett präsent ist! Phonetisch haben auch „Welle“ und „Stille“ etwas Gemeinsames. Letztere erscheint wegen der anhaltenden Dauer wie „endlos“. Ein gutes, in seinen Bildern überzeugendes Haiku zu einem Thema, das wie kein anderes im Augenblick die Menschen beunruhigt: der Klimawandel.

Persönliches Nachwort:

Ich bin an dieser Stelle wegen eines Korrekturvorschlags für ein Haiku schon kritisiert worden. Daher in meinem Nachwort ein Punkt, den ich anders machen würde. Das Wort „endlos“ ist zwar eine oft gebrauchte Vokabel, die aber nicht beschreibt, was wirklich „end-los“ ist, sondern das, was uns „endlos“ erscheint (wie z. B. der Horizont oder das Warten oder hier die Stille). „Endlos erscheinend“ ist aber für ein Haiku kein richtig guter Ausdruck, weil er zu umständlich ist. Mir erschiene hier passender: „anhaltende oder andauernde oder lang währende Stille“. Aber noch mal: Das ist mein Problem der sprachlichen Genauigkeit.

 

 

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