Es wurden insgesamt 205 Haiku von 87 Autoren und 60 Tanka von 26 Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Juli 2024. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert.

Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, inklusive die Foren auf HALLO HAIKU, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte keine Simultan-Einsendungen!

Bitte alle Haiku/Tanka unbedingt gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite HALLO HAIKU selbst eintragen: https://haiku.de/haiku-und-tanka-auswahl-einreichen/

Ansonsten per Mail an: auswahlen@sommergras.de

Der nächste Einsendeschluss für die Haiku-/Tanka-Auswahl ist der 15. Oktober 2024.

Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.

Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der DHG-Haiku-Agenda, auf http://www.zugetextet.com sowie für eine mögliche Vorstellung auf der Website der Haiku International Association.

Die Wertung der aktuellen Auswahl HTA wurde koordiniert von Eleonore Nickolay.

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Sylvia Bacher, Reinhard Dellbrügge und Hans Egerer. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Texte – 42 Haiku von 33 Autoren – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden max. zwei Haiku pro Autor aufgenommen.

„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.

Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken.

Kontakt: eleonore.nickolay@dhg-vorstand.de und
peter.rudolf@dhg-vorstand.de

Eleonore Nickolay

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

Glockenläuten
auf dem Domplatz
TikTok Tänzer

Ingrid Meinerts

Dieses Haiku lässt zwei Welten aufeinanderprallen.

In den ersten beiden Zeilen wird der Leser mit Glockenläuten, einem Domplatz und folglich einem Dom, diesem steinernen Sinnbild einer zweitausendjährigen reichen Geschichte, konfrontiert, in der dritten Zeile mit Tänzern beim Herstellen ihrer ultrakurzen Videoprodukte – Clips, welche nur für den Augenblick, für den kurzen Kick gedacht und gemacht sind.

Auf der einen Seite wird eine gewaltige Tradition angesprochen, ohne die das Abendland nicht es selbst wäre, auf der anderen rücken die Jünger des Smartphones ins Blickfeld, welche mehrheitlich wohl kaum viel Interesse an historischen Hintergründen und Traditionen aufbringen dürften.

Es steht dem Interpreten frei, diese Entgegensetzung zum Beispiel als Widerstreit von Tiefe und Seichtheit, Beständigkeit und Sprunghaftigkeit zu deuten, oder sie etwa als Konflikt zwischen Verstaubtem und Modernem, zwischen Altväterischem und Jugendfrischem aufzufassen. Er könnte sogar eine Aufhebung der Gegensätzlichkeit unter einem übergeordneten Gesichtspunkt anstreben.

Der starke Kontrast, den das Haiku zeigt, ist dazu angetan, beim Leser eine Fülle von Assoziationen und weiterführenden Überlegungen auszulösen.

Ein Haiku mit großem inneren Spielraum!

Ausgesucht und kommentiert von Reinhard Dellbrügge

 

Auf dem Pausenhof –
am Zaun sieht ein Erstklässler
den Zugvögeln nach.

Moritz Wulf Lange

Die Schule ist neu für das Kind, es hat sich noch nicht eingelebt, steht abseits. Der Pausenhof ist eingegrenzt, bietet aber die Möglichkeit zum Tratschen, Platz zum Spielen, vor allem gewährt er einen Ausblick zum Himmel. Über den Hof-Ausschnitt fliegen Vögel. Hier sind es Zugvögel, die uns die Jahreszeit angeben, den Herbst und nahen Winter erahnen lassen, Zugvögel, denen das Kind sehnsuchtsvoll nachschaut.

Wie weit mag des Kindes Sehnsucht gehen, nur über die Einfriedung, die Mauer oder den Zaun des Schulhofs, nach Hause in die elterliche Wohnung oder weiter in ein fernes Land, aus dem die Familie weggezogen war oder flüchten musste.

Zugvögel als Symbol für die grenzenlose Freiheit, ohne Mauern und Zäune. Die Ziele der Zugvögel sind uns nicht bekannt, werden nicht genannt, und auch das Sehnsuchtsziel des Kindes bleibt hier offen für die Fantasie des Lesers …

Ausgesucht und kommentiert von Sylvia Bacher

 

Der Kinderschreibtisch –
ein Smartphone und ein neues
Kastanienpferd.

Moritz Wulf Lange

Es ist ein Stillleben, das sich dem Leser, den Eltern oder einem Elternteil darbietet. Vielleicht sitzt auch der Jugendliche am Schreibtisch und blickt auf die Gegenstände, die vor ihm liegen: sein Smartphone und ein Kastanienpferd, ein neues, das so dem Leser unauffällig die Jahreszeit unterjubelt.

Kinderschreibtisch steht hier, ist er das wirklich oder ist er ein Relikt aus der Kindheit, welches der heranwachsende Jugendliche weiter benutzt. Ob Mädchen oder Knabe ist aus den Gegenständen nicht ersichtlich. Ein Jugendlicher zwischen zwei Entwicklungsphasen, schon fast erwachsen und doch noch ein Kind.

Das verspielte Kind oder der eifrige Grundschulschüler hat das Pferd vielleicht selber gebastelt, hingegen dient dem jungen Heranwachsenden das Smartphone dem Kontakt zu seinen Freunden, zum Briefe schreiben, für Recherchen im Internet, als Anzeiger für die Uhrzeit, um Musik zu hören – oder auch zum Spielen. Viele Gegensätze, Möglichkeiten und offene Fragen.

Ausgesucht und kommentiert von Sylvia Bacher

 

Sommer-Karussell –
die Enkelin wickelt mich
um den kleinen Finger

Gérard Krebs

Hier dreht sich alles: real das Karussell, ein Sommer-Karussell, im Freien auf einem Jahrmarkt, einem Volksfest oder einer ähnlichen Veranstaltung. Eines für kleine Kinder, das sich langsam dreht, mit Sitzen auf Pferden oder in Autos. Im Gegensatz dazu dreht sich die Oma um den kleinen Finger der Enkelin, sie wird „um den Finger gewickelt, eine Redewendung, die uns erahnen lässt, mit welchen Tricks und mit welchem Charme das Kind die Oma dazu bringt, ihm nochmals eine Runde auf dem Ringelspiel zu erlauben und zu spendieren. Wie oft wohl? Und wie windet sich, am beabsichtigten Ende des Ausflugs in den Vergnügungspark, die schwindlige Oma nach einigen Runden wieder heraus. Mit einem kleinen Schwindel?

Ausgesucht und kommentiert von Sylvia Bacher

 

Die Auswahl

und wenn
der Mauersegler
ihre Seele wäre

Martin Berner

Mein Bankkonto
Ist so leer wie mein Herz
Als du dich verabschiedest

Christine Bigley

Samstagmorgen
den Fußballteil lesen
ohne ihn

Claudia Brefeld

Handfläche über Handfläche
unsere Lebenslinien
berühren sich

Maya Daneva

Isländisches Moos
die unsichtbaren Fußspuren
der Elfen und Trolle

Maya Daneva

Mittsommerabend
Ameisen ziehen
die Katzenleiter hinauf

Bernadette Duncan

Ein gefallenes Blatt.
Die Segmente meiner Wirbelsäule
beim Bücken.

Volker Friebel

Klinikzimmer.
Von ihrem Herzen spricht
das EKG.

Volker Friebel

Erdkundeunterricht
ein Flüchtlingskind hört nicht auf
den Globus zu drehen

Ivan Georgiev

er tastet liebevoll
über ihr gesicht
um zu sehen

Gregor Graf

drei zeilen
ein wenig glut – genug
ein feuer zu entfachen

Gregor Graf

lavendelgarten
die katze schnurrt
sich in mein haiku

Alexander Groth

im Aufwachraum –
von irgendwoher quietscht
ein Gummischuh

Claus Hansson

Novemberregen
trommelt ans Fenster – horch,
die Welt da draußen!

Torsten Hesse

Der Ruf der Krähe –
so hat er schon geklungen
vor meiner Geburt.

Torsten Hesse

Altes Ehepaar –
vor dem Liebesspiel zieh’n sie
die Hörgeräte.

Manfred Georg Karlinger

Sommer-Karussell –
die Enkelin wickelt mich
um den kleinen Finger

Gérard Krebs

Auf dem Pausenhof –
am Zaun sieht ein Erstklässler
den Zugvögeln nach.

Moritz Wulf Lange

Am Totensonntag
bei der Namensverlesung
zusammenzucken.

Moritz Wulf Lange

Wie Marmelade –
für später hat sie gesagt.
Das Gefühl von jetzt.

Manuel Liepert

Gepflügte Felder.
Worüber haben wir uns
gestritten?

Eva Limbach

zugvögel
in meinem tagebuch ein
vielleicht

Eva Limbach

Glockenläuten
auf dem Domplatz
TikTok Tänzer

Ingrid Meinerts

Blickwechsel
heut nehme ich
die rosa Brille

Ingrid Meinerts

nach der Kräuterwanderung
Blüten-Essenzen
online kaufen

Ruth Karoline Mieger

Einschulungsfeier
seine Sonnenblume schenkt er
Oma

Ruth Karoline Mieger

Reisebekanntschaft
im falschen Zug
ein gutes Gespräch

Eleonore Nickolay

zurück am Meer
ihr tiefer Atemzug
mit halber Lunge

Eleonore Nickolay

Gruppenreise in den Süden
Hochbetrieb
am Schwalbentreff

Jutta Petzold

Ein Schlafsack
unter der Brücke
Leben

Heike Pfingsten-Kleefeld

der Feind im Spiegel
auch der Amselmann
hat seine Probleme

Wolfgang Rödig

mein Tageshaiku
ersetzt jenen Schmetterling
der heute nicht kommt

Peter Rudolf

unter der brücke
ein morgenlächeln
ohne zähne

Daniel Sauter

Gedichte am Teich –
plötzlich quaken sie alle
diese Frösche!

Maren Schönfeld

Bahnfahrt
das Display des Nachbarn
spiegelt die Welt

Evelin Schmidt

blasse Fotos
ziehe ich aus dem Karton
sie sticht heraus

Helga Schulz Blank

alte Mauer –
wir fotografieren
den jungen Mai

Angelica Seithe

Küchengeräusche
Die neugierige Nase
kommt schnüffelnd herbei

Angela Hilde Timm

der Bus kommt
über die Fahrbahn eilt
eine Maus

Traude Veran

Bibliothek
der alte Mann wie ein Bild
von Spitzweg

Friedrich Winzer

Sonderangebot
Sie sprintet zur Auslage
Mit dem Rollator

Thomas Wittek

Junger Mann im
Selbstgespräch
Er hört nichts Neues

Udo Zielke

 

Die Jury stellt sich vor

Sylvia Bacher:

Zur Verbesserung schon meiner frühen Lyrikversuche schien mir am besten Kritik von außen geeignet. Bei der Suche nach Lyrikwettbewerben stieß ich auch auf den Hamburger Haiku Verlag. 2012 schickte ich drei Haiku ein. Davon wurde eins genommen, was Motivation zum Weitermachen war. Bald danach trat ich der DHG bei, anschließend der ÖHG.

Haiku sind seither meine ständigen Begleiter, denn überall in der Natur und im täglichen Leben gibt es Eindrücke, Erinnerungen, die festgehalten werden wollen. Silbenzählen hat sich in der Zwischenzeit erledigt, heute liegen meine Schwerpunkte in der Beachtung der Konkretheit, Vermeidung von Eintönigkeit, Erhöhung der Spannung mit Verlegung des kireji vom Zeilenende in die Mitte der zweiten Zeile und schließlich der Öffnung für die individuelle Interpretation. Der Poesie versuche ich durch behutsame Verwendung von Metapher und Binnenreim gerecht zu werden.

im kurpark dem fluss
lauschen – im wasserrauschen
die kindheit

Reinhard Dellbrügge:

Ende der Achtzigerjahre stieß ich zufällig auf eine von Jan Ulenbrook aus dem Urtext ins Deutsche übertragene Sammlung japanischer Haiku. In den folgenden Jahren kam ich zuweilen auf die Haiku zurück, indem ich mich selbst an ihnen versuchte, sowie auch durch gelegentliche Lektüre. Dann verdrängten andere Dinge das Haiku über Jahre hinweg.

Im Jahre 2010 entdeckte ich im Internet die DHG und „Haiku heute“. Mein Interesse erwachte erneut. 2013 wurde ich Mitglied der DHG. Seit diesem zweiten Anlauf begleitet mich das Haiku kontinuierlich.

Was nun fasziniert mich an dem Genre?

Das Haiku lässt jeweils gegenwärtige Dinge und Vorgänge in aller Kürze und Konkretheit für sich selber sprechen. Es berührt damit etwas Elementares. Das Haiku gibt Fingerzeige. Dazu bedarf es nur weniger Worte, deren Bedeutung sich in präsentierenden Hinweisen erschöpft.

Ein wichtiges Merkmal eines guten Haiku ist das ihm immanente Ungesagte, auch als Offenheit bezeichnet. Diese Offenheit umschließt, ästhetische Kriterien übersteigend, auch Ungesagtes, das nicht nur willentlich nicht gesagt wird, sondern das nicht gesagt werden kann, nicht sagbar ist. Dieses Unsagbare scheint im Wahrgenommenen mitunter auf. Bereits im Augenblick des Staunens über das Das der Dinge öffnet sich diese Dimension. In einem Haiku, welches darauf reagiert, wird das Unsagbare durch das Ungesagte gesagt.

Vielleicht ist es die Tiefe der Oberfläche, die mich am Haiku fasziniert.

Früher Morgen.
Tiefe Stille füllt die Pausen
im Spatzengespräch.

Hans Egerer:

Den kreativen Ausgleich zum Berufsleben habe ich schon immer gerne im Zeichnen sowie im Schreiben von Gedichten gesucht. Dabei bin ich vor einigen Jahren auch auf das spannende Format des Haiku gestoßen und in der Folge 2017 Mitglied der Deutschen Haiku-Gesellschaft geworden.

Der anregende und angenehme Austausch in der virtuellen Haiku-Gruppe zu den eigenen bzw. zu den vorgestellten Haiku der anderen Teilnehmer haben mein eigenes Lesen und Schreiben von Haiku gefördert und mich ermutigt, auch einmal die HTA-Jury zu unterstützen.

Mich erfreuen besonders die Haiku, die sprachlich unprätentiös verfasst sind, dem Leser aber viel Spielraum für eigene Interpretationen und – wenn möglich – durch überraschende Wendungen auch noch Platz zum Schmunzeln lassen.

Formale Vorgaben für ein Haiku bleiben für mich auf die Dreizeiligkeit beschränkt.

auf ein neues
die alten fußstapfen
sind weggetaut

 

Tanka-Auswahl der HTA

Die Auswahl wurde von Claudia Brefeld, Horst-Oliver Buchholz und Sylvia Hartmann vorgenommen. Sie wählten 10 Tanka von 9 Autoren und Autorinnen aus.

„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – hier wird ein Tanka vorgestellt und kommentiert von Sylvia Hartmann.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

Im Herbstregen
das Blau ihrer Handschrift
ein wenig verschmiert …
3-Zimmer-Wohnung gesucht
in Nähe des Altenheims

Deborah Karl-Brandt

Auf Frühling und Sommer folgt der Herbst – das ist im Jahresablauf genau wie im Lauf des Lebens. Doch während es in Frühjahr und Sommer bergauf geht – erst werden die Tage immer länger, dann lockt uns die Sonne nach draußen – verlangt uns der Herbst einiges ab. Im Frühherbst gibt es zwar oft noch sehr schöne Tage, aber spätestens im November spüren wir, dass der Winter vor der Tür steht. Wir ziehen uns wärmer an und verbringen einen Teil der kurzen Tage im Haus. Der Herbst des Lebens bringt andere Herausforderungen mit sich: das Nachlassen der Kräfte, den Verlust von Menschen, die Notwendigkeit, Hilfe annehmen zu müssen, etwa in einem Altenheim. Keine einfache Lektion, schon, wenn man es bei Menschen miterlebt, die einem am Herzen liegen, wie etwa den Eltern oder dem Partner, und erst recht, wenn man selbst vor der Aufgabe steht. Im Tanka klingt an, dass ein Umzug ins Altenheim einen großen Einschnitt darstellt und mit tiefgreifenden Veränderungen verbunden ist: ob für den Betroffenen selbst oder die, die ihm als Ehepartner oder Kinder verbunden sind und ihm nahe bleiben wollen. Das im Herbst unvermeidliche Regenwetter passt zu diesem Abschied, aber es ist wohl nicht nur Regen, der in der im Tanka beschriebenen Situation die Tinte verschmiert, sondern auch die ein oder andere Träne. Mir gefallen die Menschlichkeit und die dichte Stimmung, die hier zum Ausdruck kommen.

 

 Die Auswahl

Geöffnete Gartentür.
Der weiße Schmetterling wirbelt
über den Zaun.
Wie lang ich auch ging,
nie kam ich an.

Volker Friebel

mein Gang zum Vatergrab
jedes Mal werden meine Gedanken
versöhnlicher
als ob ich allmählich
sein Wesen verstünde

Birgit Heid

An fremden Gärten
wandere ich vorüber
voll Bewunderung
für die Vielfalt der Zäune,
und die Schönheit der Tore.

Torsten Hesse

Im Herbstregen
das Blau ihrer Handschrift
ein wenig verschmiert …
3-Zimmer-Wohnung gesucht
in Nähe des Altenheims

Deborah Karl-Brandt

auf dem Bürgersteig
streitet er sich mit jemandem
per Handy
unbekannte Passanten
tragen ihr Schweigen vorbei

Dragan J. Ristić

Meine Müdigkeit
unter der schweren Decke
des Wolkenhimmels
Der Februar beginnt
mit stürmischen Tagen

Susanne Schöck

Tagundnachtgleiche
nach dem Sonnenwendfeuer
ins Dunkle gehen
sie leuchten uns den Weg
Glühwürmchen

Helga Schulz Blank

Sie umarmen sich
als stünde dort am Strand
vor weitem Himmel
ein Menhir
groß und einsam am Meer

Angelica Seithe

Frühlingsmorgen –
manchmal merkt man erst
im Nachhinein,
dass es da einen Moment gab,
an dem man glücklich war

Angelica Seithe

modelliert
in Opas Gesicht
Falte für Falte
vom Schein
des Kartoffelfeuers

Friedrich Winzer

 

Sonderbeitrag von René Possél

René Possél hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das ihn besonders anspricht.

unter der brücke
ein morgenlächeln
ohne zähne

Daniel Sauter

Mich hat die Schlichtheit und Wärme dieses Haiku beeindruckt und zur Besprechung angeregt. Es ist ein bekanntes (Klischee-) Bild: Obdachlose, die unter einer Brücke leben. Der Autor/die Autorin hat sie wahrgenommen und ist selber bemerkt worden.

Wer auch immer eine Nacht unter der Brücke hinter sich hat, dem werden das Leben (und die kalte Nacht) nicht so gut mitgespielt haben. Dennoch begrüßt der/die Obdachlose diesen Morgen und einen zufälligen Passanten mit einem Lächeln. Die dritte Zeile überrascht mit einer in den Kontext passenden, humorvollen Beschreibung des Lächelns: es ist eines „ohne zähne“.

Trotz Übernachtung unter der Brücke und obwohl der Mensch ohne Zähne auskommen muss, schenkt er/sie sich und dem Betrachter/der Betrachterin ein Lächeln für den neuen Tag.

Das Haiku nennt nicht das Wort „clochard“ und nicht „Mensch“. Es erspart sich das Offensichtliche wie auch das Mitleid. Menschlichkeit stellt sich gewissermaßen „en passant“ ein.

Da lächelt wer – da staunt wer: über die unerwartete und zahnlose Heiterkeit eines vermeintlich „armen“ Menschen … Einfach und herzwärmend.

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