Haiku 2015 von Gabriele Hartmann – entsprechend der jeweiligen Veröffentlichung – auch mit englischer Übersetzung
Erscheinungsjahr: 2016
Rezension
Rüdiger Jung schreibt:
Für mich immer eine besondere Freude, wenn Gabriele Hartmann einen neuen, abgeschlossenen Jahrgang ihrer Haiku vorlegt – auf der letzten Seite das breite Spektrum der Erscheinungsorte aufschlüsselnd. 111 deutsch- und 20 englischsprachige Texte legt sie für 2015 vor. Der Vergleich deutscher und englischer Fassungen lohnt: nicht selten finden sich leicht divergierende Nuancierungen.
Feldpost
das Eigentliche
geschwärzt
Eine ebenso kurze wie frappierende Reminiszenz an Weltkriegszeiten. Es scheint, die Militärzensur hat ganze Arbeit geleistet. Tatsächlich scheint dem Leser nur umso deutlicher vor Augen, was da „geschwärzt“, ihm vorenthalten wird. „das Eigentliche geschwärzt“ ruft überdies die Diskussion um Martin Heideggers Schwarze Hefte wach …
Schön, dass die Natur sich immer noch leisten kann, menschliche Grenzziehungen in Frage zu stellen:
Stadtmauern
diesseits und jenseits
das Lied der Amsel
Wo Gabriele Hartmann Zeitgedichte schreibt, kommt ihr ein spitzbübischer, aufklärerischer Humor sehr gelegen:
römischer Brunnen
einer der Migranten
füttert die Nilgänse
Wer, wenn nicht ein „Migrant“, sollte die „Nilgänse“ füttern? Ägypten, Rom, die ganze Weltgeschichte ist voll von „Migranten“. Sie sind nicht der Ausnahme-, vielmehr der Regelfall – weshalb „Migrant“ am Ende kaum mehr etwas anderes sagt als „Mensch“. Der römische Brunnen, in den man eine Münze wirft (um wiederzukommen?), lässt grüßen. Oder auch der „Römische Brunnen“ von Conrad Ferdinand Meyer, wo jede der Schalen (außer der ersten und der letzten) beides: nimmt und gibt!
Auch der Sarkasmus steht der Autorin zu Gebote, der Anklage und Kritik noch zuspitzt und verstärkt:
Gedenkminute
auch die Schnellstraße
schweigt
Eros und Thanatos haben ein sehr eigentümliches Rendezvous:
Valentinstag
ihr Lieblingsfisch – sie benutzt
ein stumpfes Messer
Alter Schmerz hat ein reiches „Nachleben“:
verlassen
das Wespennest – immer noch
große Bogen
Auf der anderen Seite wird ein auf den ersten Blick eher prosaischer Ausdruck zum absoluten Inbegriff der Zärtlichkeit:
Hundstage
mein Lieblingsmensch hat Bier
kaltgestellt
Und der Haushalt nimmt verschmitzt ein wahres Naturtalent in Augenschein:
Hauswirtschaftstag
der Karatemeister schlägt
’nen Knick ins Kissen
Gabriele Hartmann, die Dichterin, kommt mir als ein extrem achtsamer Mensch vor – nicht zuletzt mit ihrer Sensibilität und ihrem wachen Sensorium für das, was an uns Menschen paradox oder doch zutiefst ambivalent ist:
Vorhaltungen
die Lust an einem alten Stich
zu kratzen
Ein Mensch sollte Ecken und Kanten haben. Ein Gedicht, das einen solchen Menschen wiedergibt, wohl auch: