Sabine Sommerkamp (1992)

Die deutschsprachige Haiku-Dichtung. Von den Anfängen bis zur Gegenwart

September 1920 schreibt Rainer Maria Rilke aus Genf: „Kennen Sie die kleine japanische (dreizeilige) Strophe, die Hai-Kais heißt? die (sic) Nouvelle Revue Francaise bringt eben Übertragungen die­ser in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reifen und reinen Gestaltung …“ Adressatin des Briefes, in dem Rilke seine „Entdeckung“ des Haikus bekundet, ist Gudi Nölke. Wenige Tage später, vom 17. bis 20. September, ist er bei ihr im Chalet Wartenstein zu Gast, diskutiert mit ihr und ihrer japanischen Gesellschafterin Asoka Matsumoto über das Haiku, das für ihn „ein neuer und wertvoller Bewußtseinsinhalt“ wird.
Kleine Motten taumeln schaudernd quer aus dem Buchs; sie sterben heute abend und werden nie wissen, daß es nicht Frühling war.
Dieses eines von insgesamt drei überlieferten Haiku Rilkes, gehört zu den frühen isolierten Einzelbeispielen, die dem japanischen Dreizeiler im deutschsprachigen Raum kompositorisch Bahn brechen. Ihren eigentlichen Anfang nimmt die deutschsprachige Haiku-Dichtung erst in den 60er Jahren. Doch werfen wir einen Blick zurück und fragen nach allerersten Beispielen deutscher Haiku und den sie bestimmenden Einflußfaktoren.

I. Frühe Einzelbeispiele deutschsprachiger Haiku

Deutsche Haiku gibt es seit etwa 90 Jahren. Zunächst vereinzelt, dann lange Zeit keine, dann wieder mehr, seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich in sprunghafter Zunahme. Eine genaue Kennzeichnung dieser frühen deutschsprachigen „Haiku-Ära“ kann aus folgenden Gründen jedoch nur eine ungefähre sein: Erstens ist ein Großteil der Quellen noch nicht gesichtet zum Beispiel vieles, was im Privatdruck oder vereinzelt in Zeitschriften erschien; zum anderen konnte bislang keine genaue Abgrenzung der Einflüsse japanischer Kurzformen, die unter anderem über das Englische und Französische liefen, von den eigenen Traditionslinien vorgenommen werden. Der Impressionismus, der von Frankreich seinen Ausgang nahm und sich in allen Bereichen der Kunst manifestierte, die allgemeine Japan-Begeisterung um 1900 und nicht zuletzt die politische Lage nach dem Sieg Japans im russisch­japanischen Krieg 1904/05 weckten in Deutschland ein Gefühl geistiger Affinität und Identität, das unter anderem zur literarischen Nachahmung anregte. Diese Übereinstimmung in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht erschwert jedoch die Beurteilung eventueller Anregungen durch Tanka und Haiku in den vom Impressionismus verstärkt gepflegten lyrischen Kurzformen. Die Kenntnis japanischer Dichtung und direkte Einflüsse lassen sich bei einzelnen Lyrikern seit etwa 1890 nachweisen. Die ersten „selbständigen“ deutschen Haiku sind in der 1898 erschienenen Gedichtsammlung „Polymeter“ von Paul Ernst (1866-1933) enthalten:
Eine Wasserrose, Die aus der Tiefe auftaucht.

Kräuselt sich das Wasser.

Zu den Lyrikern um 1900, deren Werk Haiku bzw. impressionistische, in sich geschlossene Dreizeiler enthält, gehören unter anderem Peter Altenberg (1859-1919), Alfred Mombert (1872-1942) und Arno Holz (1863-1929), der vorübergehend zusammen mit Paul Ernst an der Erneuerung der lyrischen Formen arbeitete:
Die Gluth erlischt am Himmel leise ziehn die ewigen Sterne auf.
Die französische, über den Impressionismus einfließende „Hai-Kai“-Mode zeigte sich Anfang der 20er Jahre außer bei Rilke unter anderem im Werk von Franz Blei (1871 – 1942) und Ivan Goll (1891 – 1950), die teils verspielte, teils sentimentale Dreizeiler verfaßten:
Hast du so sehr geweint? Nach zwanzig Jahren Abschied Regnet es noch.
Klabund, der in seiner bekannten Literaturgeschichte französische Haiku aus der Zeit um 1920 aufnahm, nennt diese Gedichte „Imitationen des lyrischen Stils der Japaner“. Formal und inhaltlich ist den in dieser Zeit entstandenen Dreizeilern generell die wenig profunde Haiku-Kenntnis ihrer Autoren abzulesen. Lediglich Rilke kommt dem Zen-Gehalt des japanischen Vorbildes nahe, wie auch folgendes, wenige Wochen vor seinem Tod entstandene Haiku zeigt:
Entre ses vingt fards elle cherche un pot plein: devenue pierre.
Einen höheren Bekanntheitsgrad gewann das Haiku in Deutschland durch zwei Publikationen von Franz Blei und Ivan Goll. In seiner 1925 erschienenen Schrift „Haikai“ definiert Blei das Haiku als ein „Bildchen im kleinsten Raum mit einem pointierten Akzent in der dritten oder auch schon in der zweiten Zeile“ und erläutert seine theoretischen Aussagen durch selbst verfaßte Beispiele. Goll kennzeichnet das Haiku in seinem 1926 publizierten Aufsatz „Zwölf Hai-Kai’s der Liebe“ als „lyrisches Epigramm, das in möglichst wenigen Worten ein möglichst intensives Bild und weites Gefühl“ vermitteln soll. Es ist wahrscheinlich, daß die zitierten frühen Haiku-Versuche wie auch die beiden Aufsätze von Blei und Goll zur Verbreitung des japanischen Dreizeilers beitrugen und „sein Vordringen in die bündische Jugend zwischen den Weltkriegen mit bewirkten“. Aber „durch die nationalsozialistische Ideologieliteratur erstickten die Anfänge des Umgangs mit den kleinen Gedichten.“

II . Kräftigende Impulse für die deutsche Nachkriegslyrik

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs ist für das deutschsprachige Haiku wenig ergiebig. Erst nach 1945 wird der japanische Dreizeiler literarisch wieder attraktiv und leitet in der Folge den Beginn einer autonomen deutschsprachigen Haiku-Dichtung ein. Begünstigt wurde ihr Entstehen auf breiter Basis durch die Haiku-Adaption führender Nachkriegslyriker, wie etwa Günter Eich:
Vorsicht Die Kastanien blühn. Ich nehme es zur Kenntnis, äußere mich aber nicht dazu.
Der Haiku-Einfluß in der Dichtung Eichs, der auch japanische Haiku ins Deutsche übersetzte, macht sich in den Werken anderer, die deutsche Nachkriegslyrik prägender Autoren, wie Paul Celan, Helmut Heißenbüttel, Eugen Gomringer oder auch Bertolt Brecht, in entsprechender Weise geltend:
Der Bauer pflügt den Acker. Wer Wird die Ernte einbringen?

Bertolt Brecht

Die Frage, ob es sich dabei um direkte oder indirekte, über andere literarische Einflüsse bewirkte Haiku-Adaption handelt, läßt sich aufgrund der Parallelentwicklungen und Wechselwirkungen einer zunehmend internationalen Literatur vielfach nicht eindeutig beantworten. Tatsache ist jedoch, daß derartige Haiku-Momente im Werk einflußreicher Autoren der deutschen Lyrik auf breiter Basis im Hinblick auf konzentrierte Kürze, Objektivität, Unmittelbarkeit Symbolgehalt und Bildlichkeit kräftigende Impulse zuführen. Die Gründe für das wachsende Haiku-Interesse nach dem Zweiten Weltkrieg sind im wesentlichen in drei Aspekten zu sehen. Erstens herrschte ein hoher „Nachholbedarf “ der deutschen Lyrik, zweitens lenkte die “literarische Unsicherheit“ der Lyriker der Kriegsjahre und die überall spürbare Geschichtslosigkeit den Blick gen Fernost, und drittens begünstigte die Flut von Übersetzungen ausländischer Literatur die stilistische Adaption des japanischen Dreizeilers.

III. Deutschsprachige Haiku-Übersetzungen: Ein Überblick

Von den frühesten deutschen Übertragungen japanischer Lyrik (1894) hat keine die wenigen erstmals auftauchenden Haiku direkt beeinflußt, denn diese Übersetzungen legten den Akzent auf altjapanische Lyrik und Tanka. Für den deutschsprachigen Raum wurde das Haiku erst nach 1900 richtig erschlossen. Quelle für die frühen deutschsprachigen Haiku waren wie im Falle Rilkes französische Übertragungen bzw. Übersetzungen aus dem Englischen. Außer Karl Florenz‘ populären, bis in die 30er Jahre wirkenden Dichtergrüßen aus dem Osten (1894), in denen das Haiku als gereimter Vierzeiler übertragen ist, sind an frühen Übersetzungen unter anderem Hans Bethges „Japanischer Frühling“ (1911) zu nennen sowie die damals bekannteren Übertragungen von Paul Enderling, Julius Kurth und Otto Hauser. Ferner Michel Revons vielgelesene „Anthologie de la littdrature jaonaise des origines au XXe siècle“ (1910), die, von dem Schriftsteller Paul Adler erweitert und aus dem Französischen übertragen, 1926 auf deutsch erschien, Wilhelm Gunderts bis heute gültige Literaturgeschichte „Die japanische Literatur“ (1929), die große englische Haiku-Anthologie von Miyamori Asatarô „An Anthology of Haiku Ancient and Modern“ (1932) und die beliebten Übertragungen Paul Lüths „Frühling, Schwerter, Frauen“ (1942). Zu den nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute vielgelesenen „Haiku-Dolmetschern“ gehören unter anderem Werner Helwig, „Wortblätter im Winde“ (1954), Manfred Hausmann, „Liebe, Tod und Vollmondnächte“ (1951), Gerolf Coudenhove, „Vollmond und Zikadenklänge“ (1955), „Japanische Jahreszeiten“ (1963), Günther Debon, „Im Schnee die Fähre“ (1955), Erwin Jahn, „Fallende Blüten“ (1968), Dietrich Krusche, „Haiku“ (1970) und Jan Ulenbrook, „Haiku: Japanische Dreizeiler“ (1979). Besonderer Erwähnung bedürfen die 1939 erstmals herausgegebenen, alle paar Jahre neu aufgelegten Übersetzungen der Wiener Sinologin und Japanologin Anna von Rottauscher, „Ihr gelben Chrysanthemen. Japanische Lebensweisheit: Haiku-Dichtung“. Denn dieser Band mit seinen in unregelmäßigen Versen, einfacher Sprache und Assoziationsreichtum übersetzten japanischen Dreizeilern „dokumentiert in seiner Rezeptionsgeschichte eine der Wurzeln des deutschen Haikus“.

IV. Ein Fundament für die deutschsprachige Haiku-Dichtung

Im Zuge einer Neuentdeckung des japanischen Dreizeilers entstehen im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg gleichzeitig und unabhängig voneinander an verschiedenen Orten durch verschiedene Autoren zahlreiche Nachdichtungen und eigenständige Haiku-Versuche. So unter anderem in Wien, wo sich René Altmann (1929-1978), Hans Carl Artmann (geb. 1921), Andreas Okopenko (geb. 1930) und Hans Weissenborn (geb. 1932) im Freundeskreis seit 1946 dem Haiku widmeten. 1953 erscheint mit „Der schmale Weg“ die erste Haiku-Sammlung des niederösterreichischen Autors Karl Kleinschmidt – ein Datum, das den Beginn der deutschsprachigen Haiku-Dichtung erstmals nachweislich markiert. Kleinschmidt, der seine 200 dreizeiligen Gedichte nur im Untertitel und lediglich in Parenthese „Haiku“ nennt, dokumentiert eine „tastende“, zum Teil noch wenig selbständige poetische Vorgehensweise. Er erfüllt nicht die Versvorgabe des klassischen Siebzehnsilbenmusters (5 / 7 / 5) sondern hält sich formal wie auch inhaltlich stark an seine „Haiku-Quelle“, die Übersetzungen Anna von Rottauschers:
Wie ich am Morgen meine Hände ins Wasser tauch‘ – es klingt so eigen. Frühling … ?

Karl Kleinschmidt

Aus winterlichem Schnee ward morgens plötzlich Regen 0 Frühling, bist du da?

Sampû

Eine dem japanischen Vorbild formal und inhaltlich äquivalente, dennoch aber autonome deutschsprachige Haiku-Dichtung erscheint 1962 unter dem Titel „Haiku“. Autorin ist die österreichische Schriftstellerin Imma von Bodmershof (1895-1982). Wenngleich auch für sie die Übersetzungen Anna von Rottauschers eine „Brücke“ zum Haiku waren, kleidet sie fast die Hälfte der 128 nach Jahreszeiten geordneten Gedichte in die klassische Haiku-Form. Im Zuge ihrer eingehenden Haiku-Studien überarbeitet sie später auch die längeren Dreizeiler dieser Sammlung: “ … als ich damals die ersten Haiku herausgab, dachte ich noch, es sei erlaubt, mitunter 19 oder sogar 21 Silben (immer nur ungerade Zahlen, die geraden schließen ab, die ungeraden lassen dem Leser den Weg offen) und verwendete bei 60 von 128 Haiku diese Möglichkeit. Indessen bin ich ganz davon abgerückt. In der Zahl 17 ist eine Kraft enthalten, die durch nichts anderes zu ersetzen ist. Unter Preisgabe einiger Nuancen habe ich die längeren Haiku dieses Bandes verkürzt.“ Doch nicht nur die Form, auch der Inhalt ist für die mit Rilke befreundete Autorin zentral, und wie für ihn ist das Bild, das Symbol, ist der dem japanischen Dreizeiler immanente Zen-Gehalt die eigentliche Haiku-Komponente: “ … man kann Hailu (sic) überhaupt nicht machen, sie können einem nur begegnen, es kann nur ein Bild auf einmal durchsichtig werden für das Symbol, und um das allein geht es in meinen Augen.“
Die Kerze verlöscht. Wie laut ruft die Grille im dunklen Garten.
Eine brennende Kerze in der Dunkelheit, im Christentum eng verknüpft mit der Erscheinung Jesu, verbildlicht als ein sich selbst nährendes und damit sich selbst verzehrendes Licht die geistige Erkenntnis. Sie ist ein dem Unter­gang geweihtes Feuer, das Ewigkeitswert trägt. In vorliegendem Gedicht ist sie bereits im Untergang begriffen, weist ihr Verlöschen auf den tages- und jahreszeitlichen Bezug hin: ihr Zustand entspricht dem Stand der Sonne am Herbstabend. Mit der einsetzenden Dunkelheit werden Stimmen, die zuvor kaum vernehmlich waren, „im dunklen Garten“, im Innern des Menschen wach: die äußere Umgebung, die Natur, ist Spiegel des geistigen Raumes. Wie sich in der Erntezeit des Herbstes die Kraft jahreszeitlichen Wachsens in den sonnengereiften Früchten niederschlägt, offenbart sich die geistige Reife des Menschen in Zeiten des Niederganges. Erst im herbstlichen Dunkel entfaltet die „Lichtfrucht“ ihre ganzen Strahlungskraft, wird die Verinnerlichung der Sonne wie das laute Rufen der Grille im nächtlichen Garten vernehmlich. Dieses Bild stellt das Gedicht in die Reihe traditioneller japanischer Haiku. Vergleicht man es beispielsweise mit Issas verwandtem Dreizeiler, in welchem das nächtliche Weinen der Zikaden mit dem Hinweis darauf, daß auch die Sterne scheiden müssen, relativiert wird, erkennt man das nämliche Wechselspiel von Licht und Schatten. Deutlicher noch kommt es in Bashôs bekanntem Zikaden-Haiku zum Ausdruck, in welchem das Zirpen der Grillen unter der Mittagssonne in die Felsen, in das Dunkel, einzudringen scheint. Das Verlöschen der Kerze und der Ruf der Grille vorbildlichen in ihrem Verhältnis zueinander den jahreszeitlichen Rhythmus von Systole und Diastole, in welchen der Mensch mit einbezogen, das Licht der Sonne als geistige Kraft „im dunklen Garten“ wahrnimmt. Haiku, die beiden 1970 bzw. 1980 erschienenen „Haiku-Sammlungen“ und „Im fremden Garten“ der vielgelesenen Autorin und die poetologische „Studie über das Haiku“ ihres Gatten Wilhelm von Bodmershof wie auch die Dichtung des mit beiden Autoren befreundeten Hajo Jappe (1903 – ­1988), der 1958 seinen ersten Haiku-Band herausgab, verleihen der noch im Aufbau befindlichen deutschsprachigen Haiku-Dichtung ein festes Fundament.
Durchs zerfallene Dach reicht mir leis der Wind herein Kirschblütenzweige.

Hajo Jappe

V. Poetologische Grundpositionen deutschsprachiger „haijin“

Ein repräsentatives Bild der gegenwärtigen deutschen Haiku-Szene bot die am 29. und 30. September 1979 in Bottrop veranstaltete „Erste bundesdeutsche Haiku-Biennale“. Ziel dieser ersten größeren Zusammenkunft von etwa 20 Autoren aus dem gesamten Bundesgebiet war es, eigene Kurzgedichte vorzutragen und den Stellenwert des japanischen Haikus für die deutsche Dichtung zu erörtern sowie zu dessen Verbindlichkeitscharakter und Adaptionsmöglichkeiten Stellung zu nehmen. Eine grundsätzliche Klärung dieser Aspekte war unter anderem durch das Erscheinen der ersten Anthologie der deutschen Haiku (1979) notwendig geworden, da diese Anthologie zwar ein breites Spektrum deutschsprachiger Ausprägungen von den Anfängen bis zur Gegenwart vorstellt, unter Verzicht auf eine autoritative stilistische Wertung jedoch gleichermaßen die Frage nach einer maßgeblichen Poetik impliziert. Unklarheit über die „Richtigkeit“ der lyrischen Ausgangsbasis herrschte sowohl unter den hierin vertretenen anwesenden Autoren als auch unter den anderen ‚haijin‘, für die dieses Buch eine vorläufige Orientierungshilfe repräsentiert. Die Diskussion drehte sich daher in erster Linie um den Grad der poetologischen Angleichung an das traditionelle japanische Haiku. Hier, wie auch anhand der später vorgetragenen Gedichte, lassen sich die einzelnen Beiträge in drei Grundpositionen zusammenfassen, die teilweise ineinander übergehen: in einer partiellen, einer formal und inhaltlichen und in einer rein inhaltlichen Angleichung an den japanischen Dreizeiler. Für eine partielle Angleichung sprach sich, außer Jürgen Völkert-Marten, unter anderem Peter Coryllis aus, der darauf hinwies, daß das japanische Fluidum, die gedankliche Konzentration des Haikus, der deutschen Dichtung den Weg zu einer neuen Kurzform weise; es ginge nicht darum, den Dreizeiler zu imitieren, sondern diese neue Form auszuprägen, und man müsse daher die Gefahr einer rein formalen Orientierung ausschließen. Er schlage vor, das Haiku im Deutschen als einen poetisch gestalteten Aphorismus mit einer möglichst geringen Silbenzahl zu betrachten. Dem entgegnete ich, die ich mich für ein formal und inhaltliches deutsches Äquivalent einsetze, daß der Name „Aphorismus“ unter Umständen eine subjektive Wertung kennzeichne. Wichtig sei der objektive, allgemeingültige und eindeutige Charakter des Kurzgedichtes, dessen Kern ein zentrales Bild sei. Der Neutralitätswert dieses naturbezogenen Bildes, das im Leser ein plötzliches Erkennen auslöse, sei nicht spezifisch japanisch, sondern übertragbar, da seine Wirkung auf das Unbewußte im Menschen ziele. Entsprechendes gelte für die Anzahl der Silben; die deutsche Sprache sei zwar anders strukturiert als die japanische und folglich die Silbenzählung eine andere, eines sei in Ost und West jedoch konstant: die Dauer eines einzigen Atemzuges, die der Länge von 17 Silben entspräche. Diesem Standpunkt pflichtete Hans Stilett bei, indem er neben der Bedeutung verbaler Aussparungen der Aussagekraft des Einzelwortes, der Wiederentdeckung „verschütteter Werte“ durch die Beschäftigung mit fremdem Kulturgut gleichfalls auf den formalen Wert hinwies. Er selbst versuche diese Angleichung durch einen jambisch-trochäischen Rhythmus und eine rechtsbündige Schreibweise zu erzielen. Ideal sei es, wenn sich, wie bei den großen Musikern, die strenge Form mit der Intensität und Lebendigkeit der Aussage verbände. Die formale Limitierung könne nur den kleinen Geist beengen, für den großen Künstler sei sie eine zusätzliche Forderung, ein ästhetischer Reiz, denn er hätte so viel zu sagen, daß er die Form als Bereicherung empfände, die ein Zerfließen des Kunstwerkes verhindere. Einspruch gegen eine formale Adaption erhob K. Hülsmann. Einerseits sei es nicht möglich, die sogenannten Regeln auf eine völlig anders strukturierte Sprache zu übertragen, und zweitens gäbe es keine grundsätzlichen Regeln. Im Wort „grundsätzlich“ läge der Unterschied zwischen europäischem und asiatischem Denken schlechthin. Bei uns bestünde stets etwas „Grundsätzliches“; diese Haltung sei den Japanern fremd. Im übrigen zeigten die Tendenzen der modernen japanischen Haiku-Dichtung formale Variabilität. In einer zusammenfassenden Stellungnahme einigte sich die Diskussionsrunde darauf, daß Kürze, Prägnanz, Bildlichkeit und die Übermittlung eines verborgenen Sinns verbindliche Kriterien für ein mögliches deutschsprachiges Haiku seien.
Kranichzug am Berg – sie wissen um Weg und Ziel. Wohin wandern wir?

Marianne Junghans

Die prächtig flatternden Blätter werden an den noch verborgenen aber schon leise knisternden Knospen verenden

Hans Stilett

Vom Hügel der Akropolis herab der Blick auf die Stadt – die Götter schweigen, die Menschen leben.

Harald K. Hülsmann

Für die Bottroper Diskussion um eine mögliche deutschsprachige Haiku­ Poetik gilt daher, was Harold G. Henderson 1963 über den Charakter des nordamerikanischen Haikus bemerkte: „When it comes to establishing standards for haiku written in English … it does seem likely that our poets will eventually establish norms of their own.“

VI. Vorbild Nordamerika

Das englischsprachige Haiku, das sich wie das deutschsprachige in den 60er Jahren zu einer vom japanischen Vorbild losgelösten autonomen Lyrikform entwickelte, bietet heute in der westlichen Haiku-Hemisphäre die größte literarische und außerliterarische Heterogenität. Über 20 Haiku-Gesellschaften und -Zeitschriften sorgen gegenwärtig für Pflege und Verbreitung dieses noch jungen Genres, der pädagogische Stellenwert des Haikus als „the most commonly taught poetic form in the Primary Schools“ garantiert einen Grundstock für Aufbau und Bestand der englischsprachigen Haiku-Dichtung, und nicht zuletzt die zentrale Rolle, die sie inzwischen in außerliterarischen Bereichen wie Fotographie, Film, Musik, Tanz und Poesietherapie spielt, all dies trägt dazu bei, daß das Schreiben von Haiku in den USA wie im Mutterland des japanischen Dreizeilers allmählich zu einer populären Art von Volkssport wird. Fragt man sich, wodurch diese Entwicklung derart begünstigt wurde, las­sen sich global fünf Gründe nennen: die höhere Adaptionsfreudigkeit der Amerikaner gegenüber fremdem Kulturgut, die größere Nähe der haikuaktiven Westküste zu Japan, der vergleichsweise hohe Anteil in den USA lebender Japaner, der starke Einfluß des Haikus über Imagismus und „Beat Poetry“ auf die heutige US-Literatur und nicht zuletzt der direkte Kontakt der amerikanischen Besatzungstruppen während des Zweiten Weltkrieges in Japan mit asiatischer Literatur und Zen-Buddhismus. Gewiß, diese Gründe haben auf die Entwicklung der deutschsprachigen Haiku-Dichtung keinerlei Einfluß. Als Maßstab und Orientierungshilfe bietet uns die Haiku-Situation in Nordamerika jedoch die Möglichkeit, Faktoren zu eruieren, die das deutschsprachige Haiku in entsprechender Weise im hiesigen Literaturboden verankern könnten. Einer dieser Faktoren wären Gesellschaften zur Pflege und Verbreitung des Haikus sowie regelmäßig erscheinende Publikationen. Blicken wir kurz zurück. – Die erste überregionale, größere literarische Gesellschaft zur Pflege japanischer Kurzlyrik war das 1981 gegründete „Senryû-Zentrum“ in Düsseldorf. Die Vereinigung, die 1984 Mitglied der „Federation of International Poetry Association“ in Washington wurde und damit assoziiertes Mitglied der UNESCO, zählte ca. 120 in- und ausländische Autoren, deren Beiträge in vier von Carl Heinz Kurz zwischen 1985 und 1987 herausgegebenen Almanachen publiziert wurden. Die Effizienz dieses Zentrums erwies sich im Hinblick auf die Popularisierung des Haikus jedoch insofern als gering, als nicht das Haiku, sondern das Senryu im Mittelpunkt der Aktivitäten stand. Infolgedessen beantragten zahlreiche Autoren nach Auflösung des Senryu-Zentrums im Juni 1988 ihre Mitgliedschaft in der kurz zuvor gegründe­ten „Deutschen Haiku-Gesellschaft e. V“ (DHG), Vechta, die sich zwar der Pflege des Senryus wie auch des Tankas und Rengas widmet, ins Zentrum ihrer Aktivitäten laut Satzung jedoch das Haiku stellt: „Die besondere Sorge des Vereins gilt der Bewahrung und Förderung des eigenständigen Haiku, seiner Verbreitung und Pflege im deutschen Sprachraum.“ Publikationsorgan der Vereinigung, die mit über 80 Mitgliedern etwa ein Fünftel der nachweislich in der Bundesrepublik lebenden Haiku-Autoren vereint, ist die „Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft“. Mit ihr existiert nach Einstellen von „apropos“, Zeitschrift für Kunst, Literatur, Kritik, im Frühjahr 1985 erstmals wieder eine Haiku-Plattform. Als erstes regelmäßig erscheinendes Forum für die deutschsprachige Haiku-Dichtung präsentierte das in „apropos“ enthaltene „Haiku-Spektrum“ von 1981 bis 1985 dreimal im Jahr auf 12 bis 28 Seiten neben Rezensionen, Berichten, Interviews, Interpretationen und Formvergleichen Gedichte von insgesamt 98 „haijin“ – 76 deutschsprachigen, 9 japanischen und 13 englisch­sprachigen. Publiziert wurden ferner Tanka, Renga und Senryu sowie Haiku aus der Feder von Schülern. Eine Sonderrubrik, die „Deutsch-englische Haiku-Begegnung“ führte deutschsprachige und englischsprachige Autoren literarisch zusammen. Analog zu den skizzierten poetologischen Grundpositionen deutschsprachiger „haijin“ lassen sich die in „apropos“ veröffentlichten Haiku in drei große Kategorien teilen, eine Klassifikation, die sich gleichfalls für das nordamerikanische Haiku herauskristallisiert hat: in den traditionell orientierten Stil Imma von Bodmershofs und Hajo Jappes, in den freieren, formal ungebundeneren Stil („liberated haiku“), wie ihn unter anderem Peter Coryllis und Harald K. Hülsmann in Bottrop proklamierten und in den experimentellen Stil nach Art von Hans Stilett, Georg Jappe oder Roman York.
Auf eines Daches Giebel, in einer Nische, nisten zwei Tauben.

Günther Klinge

dämmern im tropfen an der eichel.

Finley M. Taylor

rauten-haiku (bayern 1) blau der himmel weiß weißblau der himmel blauweiß weißderhimmelblau

Roman York

Ein zweiter Faktor zur Verankerung des deutschsprachigen Haikus ist seine Rolle im Schulunterricht, die im Unterschied zu der in den USA jedoch noch als gering zu bezeichnen ist. Zwar findet der japanische Dreizeiler verstärkt Eingang in Lesebücher und Lehrwerke für den muttersprachlichen Unterricht, die mangelnde Haiku-Kenntnis vieler Pädagogen sowie die vergleichsweise kleine Anzahl von Initiativen wie „Autoren an Schulen“, die das Haiku illustrativ in die Klassenzimmer tragen könnten, reichen jedoch bei weitem nicht aus, den notwendigen Grundstock für Aufbau und Bestand der deutschsprachigen Haiku-Dichtung zu legen. Hier müßte, zum Beispiel durch Haiku-Gesellschaften oder haikuversierte Pädagogen, aktive Unterstützung geleistet werden. Umso größere Bedeutung kommt einem dritten haikuverankernden Faktor zu, der Verbindung des Haikus mit außerliterarischen Bereichen. Illustriert wird sie im deutschen Sprachraum beispielsweise in den Bereichen lkebana, Fotographie und Musik und hat, wie etwa im Fall von Günther Klinge und Ann Atwood, bereits zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit deutsch-amerikanischer Haiku-Produktion geführt. Die Zusammenarbeit deutschsprachiger ‚haijin‘ mit denen anderer Länder ist ein vierter, wesentlicher Faktor, da das deutschsprachige Haiku auf diese Weise in einen internationalen Kontext rückt. Außer auf Japan und die USA sei insbesondere auf China hingewiesen, wo das seit der Kulturrevolution aus politischen Gründen verpönte Schreiben von Haiku allmählich wieder an Attraktivität gewinnt. Ein fünfter und letzter für die Verankerung des deutschsprachigen Haikus relevanter Faktor sei genannt: die Beschäftigung mit den Quellen der Haiku­Dichtung. Denn nur so, in der direkten Auseinandersetzung mit den ästhetischen Kriterien des japanischen Vorbildes, gelingt, was Rainer Maria Rilke am Haiku faszinierte: eine „in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reife und reine Gestaltung“. Dieser Artikel ist entnommen: Tadao Araki: Deutsch-Japanische Begegnungen in Kurzgedichten. München: Iudicum Verlag. 1992. ISBN 3-89129-305-4. S. 79-91, Quellenangaben zu den Zitaten und erwähnten Werken finden sie ebenda.
Haiku · Tanka · Tan-Renga · Haibun · Haiga · Renku-Dichtung · Renshi · Rengay

Haiku

Zur Tradition der japanischen Lyrik zählen von zwei oder mehr Partnern geschriebene Gemeinschaftsdichtungen. Ein Dichter – und dies gilt heute wie früher als besondere Ehre – beginnt mit dem sogenannten Hokku, das dann nach unterschiedlichen Regeln und vorgegebener Reihenfolge der Teilnehmer durch weitere Verse ergänzt wird. Schon früh wurden solche Hokku in eigenen Sammlungen zusammengefasst und veröffentlicht. Mit der Zeit entwickelte sich das Hokku zu einer eigenständigen Richtung der Literatur, die anfänglich als Haikai, seit Beginn des 20. Jahrhunderts als Haiku bezeichnet wurde. Wie keine andere Versform hat sich das Haiku in der Welt ausgebreitet und wird heute in allen bedeutenden Sprachen geschrieben. Japanische Haiku bestehen meist aus drei Wortgruppen von 5 – 7 – 5 Lauteinheiten (Moren), wobei die Wörter einfach in einer Spalte aneinander gereiht werden. Im Deutschen werden Haiku in der Regel dreizeilig geschrieben. Japanische Lauteinheiten sind alle gleich lang und tragen weniger Information als Silben in europäischen Sprachen. 17 japanische Lauteinheiten entsprechen etwa dem Informationsgehalt von 10 – 14 deutschen Silben. Deshalb hat es sich mittlerweile unter vielen Haiku-Schreibern europäischer Sprachen eingebürgert, ohne Verlust des inhaltlichen Gedankengangs oder des gezeigten Bildes mit weniger als 17 Silben auszukommen. Unverzichtbarer Bestandteil von Haiku sind Konkretheit und der Bezug auf die Gegenwart. Vor allem traditionelle Haiku deuten eine Jahreszeit an. Als Wesensmerkmal gelten auch die nicht abgeschlossenen, offenen Texte, die sich erst im Erleben des Lesers vervollständigen. Im Text wird nicht alles gesagt, Gefühle werden nur selten benannt. Sie sollen sich erst durch die aufgeführten konkreten Dinge und den Zusammenhang erschließen.

Moderne Haiku-Schulen hinterfragen nicht nur die traditionelle Form, sondern auch manche Regeln der Textgestaltung und versuchen neue Wege zu gehen.

Sommergras ist alles, was blieb vom Traum des Kriegers

Matsuo Bashô, 1644-1694

Tanka

Das Tanka ist die älteste japanische Kurzgedichtform. Es ist schon in den ersten Anthologien aus dem 8. und 9. Jahrhundert aufgeführt; seine Ursprünge gehen zurück ins 5. Jahrhundert. Im Tanka werden erstmals die schon im Langgedicht üblichen Zeilenfolgen von 5 – 7 Silben in einer geschlossenen Form abgegrenzt (Metrum 5 – 7 – 5 – 7 – 7). Es diente im feudalistischen Japan der gehobenen Korrespondenz. Die Form lebte zwar immer wieder für kurze Zeit und in kunstvoller Weise auf, erlangte jedoch nie die Popularität des Haiku. Das Gedicht gliedert sich in einen Oberstollen aus drei Zeilen und den zweizeiligen Unterstollen. Seine Beliebtheit wächst heute zusehends, weil es etwas mehr Raum bietet. Diese Tatsache sollte jedoch nicht dazu verführen, einen längeren Satz auf fünf Zeilen zu verteilen. Zwischen den beiden Teilen sollte eine inhaltliche Zäsur spürbar sein, die beide gegeneinander abhebt und die auch zusätzlich durch einen Zeilenabstand verdeutlicht werden kann. Sowohl die geschlossene als auch die gegliederte Schreibweise sind üblich. Inhaltlich ist das Tanka ein in sich abgeschlossenes Gedicht, das an keine bestimmte Thematik gebunden ist. Der Oberstollen kann im Sinne des Haiku ein Bild oder Erlebnis darstellen, eine Bewegung in Gang setzen. Die beiden folgenden Zeilen haben die Aufgabe, das Bild zu vollenden, die Bewegung auslaufen zu lassen, das Erlebte zu deuten. Die beiden Stollen stehen also eher im Verhältnis von Frage und Antwort, Rätsel und Lösung, Aufbruch und Ankunft. Auch für das Tanka gilt die sorgfältige Wortwahl, die Vermeidung von Reim, Worttrennungen oder Wortwiederholungen. Ein fließender Rhythmus und eine wohlklingende Sprachmelodie sind der Härte jambischer Stakkatos vorzuziehen.

Haiku, Senryu und Tanka tragen keine Über- oder Unterschriften. Die Diskussionen um diese Regelung und die Abweichungen von ihr sind so alt wie das Gedicht.

der Wind hat heut‘ diese Würze vom Meer von den Dünen von ‚er denkt an mich‘

Ingrid Kunschke

Tan-Renga

Japanisch „tanrenga“ (kurzes Kettengedicht) ist die Bezeichnung für das antike Tanka (zu 5-7-5/7-7 Moren) von zwei Autoren, das damals, bei seiner Entstehung, „renga“ (Kettengedicht) genannt wurde. Die Bezeichnung „renga“ dehnte sich aber sofort auf die längeren Kettengedichte aus, die in der Folgezeit entstanden, und so sind typische Renga Einheiten zu 2 oder 3 Versen (Mitsumono), 10, 12, 18 (Halbkasen), 20, 36 (Kasen) und mehr Versen im überlieferten System. Dabei ist jede 5-7-5-Einheit und jede 7-7-Einheit als ein geschlossener Vers anzusehen (ku).

Der erste Vers in diesen Systemen hat immer den Namen „Hokku„, der zweite waki oder wakiku, der Schlußvers ageku (vervollständigender Vers). Um die vielversigen Renga von den anfänglichen Zweistrophen-Renga zu unterscheiden, bezeichnet man letztere als Tanrenga. Die 5-7-5-Silben-Verse nennt man übrigens „Langverse“ (chôku), und die 7-7-Silben-Verse heißen „Kurzverse“ (tanku).

Kastanienbaum – Der Fahrradkorb darunter

füllt sich mit Blüten…

auf dem Nachhauseweg ganz behutsam um jeden Stein

Franz-Christoph Schiermeyer/ Claudia Brefeld

Haibun

„Haibun“ ist eine Zusammenziehung von „Haikai no bunshô“ und bedeutet Hai(kai)-Prosa (bun) oder Prosa im Haikai-Stil. Der Terminus kam zu Beginn des 17. Jh. auf. Diese Prosaaussagen wurden in der Form von Miszellen ,von Tagebuchaufzeichnungen oder Reisetagebüchern, Briefen, Essays u. ä. festgehalten. Das Haibun hatte in der japanischen Literatur bereits seine Vorläufer. Vor allem die Literaturgattung „Zuihitsu“ (Miszellen) und die Tagebuch- und Reisetagebuchliteratur (Nikki, Kikô) erfreuten sich schon vor ihm großer Beliebtheit. „Zuihitsu“ bedeutet „dem Pinsel (hitsu) folgend (zui)“ und weist auf Schriften hin, die aus spontaner Eingebung Eindrücke, Erfahrungen und Überlegungen „in den Pinsel fließen lassen“ und skizzenhaft zu Papier bringen. Ein Zuihitsu kann aus einfachen Wortnotizen, Sentenzen, aber auch aus längeren Essays bestehen. Inhaltlich weist es eine thematische Vielfalt auf: Natur und Menschenleben, Gesellschaftskritik, Wissenschaft, Philosophie, Literaturtheorie usw. Gerade wegen dieser Themenvielfalt bedienten sich Schriftsteller, Gelehrte, Staatsmänner, Mönche gern dieser Form literarischer Aufzeichnung. Als klassische Meisterwerke des Zuihitsu gelten das Makura no sôshi (Kopfkissenbuch) der Hofdame Sei Shônagon (10. Jh. n. Chr.), das Hôjôki (Aufzeichnungen aus den zehn Fuß im Geviert meiner Hütte) des Kamo no Chômei (1153-1216), das Tsurezuregusa (Aufzeichnungen in Mußestunden) des Yoshida Kenkô (1283-1350) und das Kagetsusôshi (Notizen bei Kirschblüten und Vollmondnacht) des Matsudaira Sadanobu (1758-1829). Dass ein Haibun einen hohen Anteil von Haikai aufweist, versteht sich eigentlich von selbst. So ist ein Haibun im allgemeinen eine lockere Abfolge von Haikai-Prosa und Haikai-Poesie. Die Haikai werden entweder in den Prosatext eingestreut oder schließen diesen ab. Dabei stellt das Haikai in seiner Prägnanz jeweils den lyrischen Höhepunkt des Prosatextes dar. Wie die Haibun-Literatur jedoch zeigt, muss ein Haibun nicht unbedingt ein oder mehrere Haikai aufweisen. Viele Texte kommen auch ohne dieses aus, ohne deshalb an dichterischem Wert zu verlieren. Wie für das Haikai gilt auch für das Haibun Matsuo Bashô (1644-1694) als der erste, wenn nicht überhaupt bedeutendste Vertreter. Weitere angesehene Haibun-Schriftsteller sind u. a. Yosa Buson (1715-1783), Yokoi Yayü (1702-1783), Kobayashi Issa (1763-1827). Für Bashô muss ein gelungenes Haibun folgende Kriterien erfüllen: Es darf nicht vom Verstand konstruiert sein, sondern muss aus dem spontanen Erlebnis entstehen; es soll eine geschlossene Gesamtkonzeption besitzen und dennoch nicht abschließend sein; es muss einen prägnanten und schlichten Stil aufweisen; Verwendung von Anspielungen auf berühmte Dichter, Gelehrter, Mönche usw. aus vergangener Zeit gelten als ein wesentliches Stilmittel.

Hinterher an der Haltestelle

Wir sind zu fünft in London. Ein befreundetes Paar, meine Kinder und ich treiben an diesem ungewöhnlich sonnigen, ja, warmen Oktobermorgen durch die Geschäftsstraßen. Und obwohl die Zeitungen von Wirtschaftskrise schreiben, hasten die Menschen voll bepackt mit Plastiktüten zwischen all den Kaufhäusern und Cafés in diese und jene Richtung. Immer wieder stoße ich gegen ihre Kanten, rieche teures Parfüm aus nächster Näher, sage zweimal „Excuse me“ und lass es dann. Denn niemand spricht auf diesen Boulevards. Da, den Bus wollen wir nehmen! Ein alter Bus, einer mit offenem Plateau am Ende! Einer von denen, auf die man aufspringen kann! Ich springe … „Hast Du sie noch alle?“, herrscht mein Freund mich an. Nicht nur, dass ich beinahe allein davon gefahren wäre, weil ja keiner hinterher rennen könne bei diesem Trubel. Seine Frau nicht, meine Tochter auch nicht. Und ob ich mir mal überlegt hätte, dass mein Sohn mit seinen acht Jahren wohl nichts Besseres zu tun haben könnte, als seinem Vater hinterher zu springen. Gott sei Dank sei der Junge zu langsam gewesen, er habe ihn festhalten können. Ich hätte mal sehen müssen, wie entsetzt er mir hinterher geschaut habe. Und sie hätten mich nur eingeholt, weil die nächste Haltestelle keine hundert Meter weiter liege und der Bus noch immer warten müsse.

„Entschuldigung“, sage ich. Und nach einer Weile: „Ich weiß nicht, was da in mich gefahren ist.“

Hier kam ich zur Welt. Hier starb mein Vater. Jetzt trenne ich die Nabelschnur …

Ralf Bröker

Haiga

Wie in dem Wort haiku bedeutet hai, in dem Wort haiga „lustig“ oder „humorvoll und ga heißt ganz allgemein „ein Bild“, ein farbiges oder schwarz-weißes Bild, eine Zeichnung oder eine Graphik. Unter haiga verstehen wir die Kombination von visuellen und textlichen Elementen auf einer gemeinsamen Unterlage: einer Leinwand, einer Schriftrolle, einem Blatt Papier, einem Fächer usw. Das Haiga ist eine Weiterentwicklung der chinesischen Nanga-Malerei, die Künstler aus China mit neuen Elementen auch in Japan verbreiteten. Die Nanga-Malerei ist geprägt vom ähnlichen Geist wie die Haiku-Dichtung. Haiga ist eine Form der visuellen Kunst bei der Text und Bild auf einer gemeinsamen Unterlage kombiniert werden. Es koexistieren zwei Welten auf einem Malgrund und es ist an dem Künstler, den optimalen Weg zu finden, die jeweils eigenen Regeln und die eigene Ästhetik (Haiku bzw. Bild) zum Ausdruck zu bringen. Die Essentiales der Haiku-Dichtung sind bekannt – die wesentlichen Punkte , die die visuelle Kunst beschreiben, sind Farbe, Linien bzw. Pinselstriche, die Flächen, die Umrisse und die Komposition des Bildes. Für das Gesamtkunstwerk überlegt der Haiga-Künstler genau, wo und in welcher Form er den Text für das Haiku auf dem Bild platziert. Haiku und Bild in einem Haiga sollen gleichberechtigt dargestellt werden und wirken. Der Inhalt des Textes wird umgesetzt in eine visuelle Sprache. Dabei korrespondieren Bild und Text dergestalt, dass das Bild ein eigenständiges Kunstwerk bleiben sollte und nicht zur „wörtlichen“ Illustration der Haiku-Idee wird. Ich würde sogar soweit gehen, dass das beschriebene Ereignis nicht eins zu eins abgebildet werden sollte, sondern in einer neuen Darstellung eine gemeinsame Ebene findet. Das Bild innerhalb der visuell-textlichen Komposition reflektiert das einfache tägliche Leben mit seine komischen oder humorvollen Fassetten. Bei der Betrachtung von Bild und Haiku entfalten sich die winzigen und flüchtigen Ereignisse im leeren, unbemalten Raum. Der oder die Künstler vermeiden die Beschreibung bzw. Darstellung von überflüssigen Belanglosigkeiten. Das Haiga definiert sich durch die selben Merkmalen wie die Haiku-Dichtung: Das Haiga ist unromantisch, sehr erdnah, unprätentiös und humorvoll, macht gerade die unspektakulären, täglichen Themen und Objekte sichtbar. Diese Charakteristika finden sich auch wieder in der uns bekannten Terminologie: Haikai-Geschmack, Haikai-Duft, Einfachheit, Genügsamkeit, bescheidene und einfache Lebensweise, herbe und vergehende Schönheit, Transzendenz, Vermeidung von Ordinärem und von Cleverness und Rafinement. Haiku no kokoro (Herz und Seele des Haiku) finden wir auch im Haiga wieder. Einfachheit, Schlichtheit Sparsamkeit und Bescheidenheit sind die Hauptmerkmale der japanischen Ästhetik: „(…) die größte Wirkung mit den kleinsten Mitteln zu erzielen, trifft besonders auf das Haiga zu“ (Stephen Addiss) So wie es beim Haiku eine Zweiteilung zwischen den ersten beiden Zeilen und der dritten zeile (überraschende Wendung) gibt, so entstand auch im modernen Haiga eine Zweiteilung von Haiku und z.B. digitaler Kunst. In einem Haiga erklärt weder das Haiku das Bild noch illustriert das Bild das Gedicht, sondern Haiku bzw. Bild fügen eine neue Ebene zu dem jeweils anderen künstlerischen Element hinzu. Bei einem Haiga werden Haiku und Bild zusammen präsentiert und mit den Namen des Künstlers und des poeten (oft ein und der selbe) versehen. Wir unterscheiden heute verschiedene Haiga – Formen: das traditionelle Haiga, das zeitgenössische Haiga und das experimentelle Haiga. Das traditionelle Haiga steht heute für eine Doppelbedeutung: Einerseits verstehen wir unter einem traditionellen Haiga eine japanische Kunstform, die mit Socho, Buson, Goshun, Shiroi und Issa ihren Anfang bzw. ihre Blütezeit erlebte und bei der als essentielles Element das Haiku in Pinsel-Kalligraphie – der Kunst des Schönschreibens – geschrieben und zusammen mit einem gemalten Pinsel Bild komponiert wurde – und was heute noch so gehandhabt wird.  Andererseits verstehen wir heute unter einem traditionellem Haiga in der nichtjapanischen Welt vor allen Dingen im Internet ein Gesamtkunstwerk eines multitalentierten Künstlerteams:
  • AutorIn
  • Haiga-KünstlerIn
  • ÜbersetzerIn in die japanische bzw. engl. Sprache
  • KalligraphIn
  • MusikerIn
  • Präsentation
Das zeitgenössische Haiga wird entweder von einem Maler-Poeten oder von zwei Personen gestaltet. D.h. ein Dichter schreibt das Haiku und ein Haiga-Künstler liefert ein Bild dazu. Die Bilder können digitale Bilder, graphische Bilder, gemalte Bilder, Fotografien (auch unter der Bezeichnung Foto-Haiku bekannt) oder Collagen sein. Das experimentelle Haiga findet sich besonders bei Susumu Takiguchi (Kalligraphie-haiga) oder bei anderen Künstlern, die mit Verfremdungen, Kollagen und anderen Stilmitteln arbeiten.

Renku-Dichtung

Die Tradition der Kettendichtung begann vor mehr als tausend Jahren. Autoren trafen sich um zur Unterhaltung und Entspannung ein Kettengedicht zu schaffen, bei dem jeder Autor einerseits versuchte den anderen zu übertreffen, aber andererseits auch wollte, dass ein gemeinsames Gedicht entsteht, indem durch die Jahreszeiten, japanischen Landschaften gereist wurde und die unterschiedlichsten Schauplätze besucht wurden. Diese Art der höfischen anfangs seriösen Kettendichtung wurde „renga“ oder „ushin renga“ genannt. Um das 17. Jahrhundert hatte sich die Kettendichtung durch Samurai und Kaufmannstand, die den Wohlstand und Muße hatten sich dieser Kunst hinzugeben, zur „funny renga“ zur ‚Nonsen’-Kettendichtung disqualifiziert. Zu Lebzeiten Bashôs (1644 1694) und seinen Schülern wurde basierend auf alten Traditionen der Kettendichtung, ganz neue Prinzipien der intuitiven Verlinkung zwischen den Strophen, der Progression zu immer neuen Schauplätzen des Lebens und der Beachtung einer Übereinstimmung von Bild und Sprache eingeführt. Dies Art der Kettendichtung war so anders als die inzwischen geschmacklos gewordenen haikai , viel tiefer und ernsthafter, dass diese Form der Kettendichtung seit dieser Zeit „Renku“ (wörtlich: „verkettete Verse“) genannt wird. Es gibt verschiedene Längen und Formen des Renku: das Hyakuin mit 100 Strophen, das Kasen mit 36 Strophen, das Nijûin mit 20 Strophen, das Hankasen oder „Halbkasen“ mit 18 Strophen, das Shishi mit 16 Strophen das Jûsanbutsu mit 13 Strophen und das Jûnicho und Shisan mit je 12 Strophen. Die gebräuchlichste Form ist das Kasen mit 36 Strophen und soll hier näher erörtert werden. Die anderen Anwendungen des Renku sind Modifikationen der Kasenform, richten sich aber alle nach den gleichen Prinzipien von „link and shift“. Prinzipiell besteht die Gesamtstruktur des Kasen aus drei Teilen: der Einleitung, dem Prolog oder der Ouvertüre (6 Strophen) – (jo) dem Hauptsatz, der Entwicklung oder Erweiterung (24 Strophen) – (ha) und dem Schluss, der Folgerung oder dem Epilog (6 Strophen) – (kyû). Bestimmte Verse haben besondere Namen oder sind für besondere Themen reserviert. Zum Beispiel gibt es drei Vers-Positionen innerhalb des Kasen, die dem Mond und zwei, die den Blüten – traditionell den Kirschblüten – gewidmet sind. Andere Strophen beschreiben den Lauf durch die Jahreszeiten, erzählen von der Liebe oder beziehen sich auf freie Themen. Link and shift – Anschluss und Verschiedenartigkeit (von Ort, Personen und Szenerie)ist das Renku-Grundprinzip. Es wird von den beiden Schlüsselworte „link and shift“ (Anschluss und Orts- bzw. Szenenwechsel) regiert. Dabei werden die unterschiedlichsten Arten der Verlinkung bzw. der Prinzipien der Strophenverbindungen einerseits und Prinzipien der Progression (das Moving Ahead, dass Vorwärtsschreitens) und das Prinzip der Diversity, der Veränderung von Themen und Eigenschaften, beachtet. „Link“ (tsukeai) bezieht sich auf die Verbindung oder Beziehung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Strophen; „shift“ (tenji) hat mit der Verschiedenartigkeit der Themen bzw. Gegenstände und ihren Eigenschaften und Ausformungen zu tun. „Shift“ bestimmt das stetige Voranschreiten durch verschiedene Orte und Ereignisse der Renku-Dichtung. Diese traditionellen Ideen und Gesichtspunkte gehen auf das Werk von Matsuo Bashô (1644-16949) und seinen Nachfolgern zurück. Linking-Kategorien: – object linking (mono-zuke)= Objekt-Verkettung: beinhaltet eine Gedankenverbindung zwischen den Objekten/Personen, dem Ort oder der Zeit zweier aufeinander folgenden Strophen. Zum Beispiel: Auf einen „Regenschirm“ in einer Strophe kann mit „Gummistiefel“ in der nächsten Strophe geantwortet werden. Eine Tätigkeit in einer Strophe kann weiter in der folgenden Strophe in einer anderen Zeit oder an einem neuen Ort fortgesetzt werden usw. Das kann erzählend formuliert sein, aber Objekte oder Bilder müssen in direkter Beziehung zueinander stehen. – meaning linking (imi-zuke)= Verkettung durch die Bedeutung der Wörter: realisiert eine Verkettung zweier benachbarter Strophen durch die Bedeutung der Wörter, durch Anspielung (Allusion) oder durch Zitate, geflügelte Worte, „Teekesselchen“ oder andere Wortspiele. Zum Beispiel bedeutet Schimmel in der einen Strophe ein weißes Pferd und in der nächsten einen pilzartigen Überzug auf organischen Stoffen. – scent linking (nioi-zuke) = Duft-Anschluss: Bashô vertiefte das Verkettungs-Konzept unter dem Begriff des „scent linking“, dem Duft-Anschluss. Er und seine Nachfolger teilten das scent linking in mehrere Kategorien ein. Wir sprechen grundsätzlich von Scent Linking, wenn es bei der Verbindung zwischen den Versen eher zu einer Übereinstimmung von Stimmungen und Gefühlen kommt, als zu einer rationalen Assoziation von Gedanken oder Ideen, die hinter den Versen stehen. Shift – Prinzip des Voranschreitens und der Mannigfaltigkeit: Das Verlinken von einer Strophe zur nächsten ist das Herz einer jeden Renku Komposition. Um aber Eintönigkeit und Stillstand zu vermeiden, gilt es, „progression and diversity“ (das Voranschreiten und die Mannigfaltigkeit) zu beherrschen. Das Renku lebt von den Prinzipien der Progression und der Verschiedenheit oder kurz „shift“ (tenji) genannt. Es gilt, immer vorwärts zu schreiten zu neuen Themen (siehe unten) und nicht zurückzuschauen. Progression – Moving Ahead: Die Grundidee des „Voranschreitens“ ist es, keine gleichen Erfahrungen, Gefühle oder ähnliche Themen in den wechselnden Versen zu verarbeiten. Es gilt, ein Wiederauftreten von Merkmalen bzw. Verhaltensweisen oder eine (auch örtliche) „Rückkehr“ innerhalb von drei aufeinander folgenden Versen zu vermeiden. Betrachtet werden in diesem Zusammenhang also immer drei aufeinanderfolgende Strophen: Die „jüngste“ oder letzte Strophe wird „linking verse“ (tsukeku) oder Anschluss-Vers genannt. die mittlere der drei Strophen heißt „preceding verse“ (maeku), oder Mittelstrophe und die erste oder die zuerst geschriebene heißt „leap over verse“ (uchikoshi) Übersprung- oder Rückkehr-Strophe. Der Dichter des Anschlussverses muss unbedingt eine Rückkehr (auch uchikoshi genannt) in die Welt des Leap-Over-Verses vermeiden. Das heißt, der Autor eines jeden Anschlussverses darf Worte, Themen oder Elemente benutzen, die sich auf die Themenfelder bzw. Szenerie des vorangegangenem (Mittel-)Verses beziehen. Er muss aber vermeiden, sich auf Themen des Leap-Over-Verses oder der Strophen davor zu beziehen. Diversity – Die Verschiedenheit von Themen und deren Elemente: Innen – und Außenszenen sollten nachvollziehbar wechseln und sich in den Linking – und in den Leap-Over Versen nicht wiederholen. Dieses Prinzip gilt auch für Dinge, deren Beschaffenheit, Stimmungen, Seelenzustände usw. In der Zeit der klassischen Renga-Dichtung gab es lange Listen von topics and materials, sogar von besonderen Wörtern, die erst nach einer bestimmte Anzahl von Strophen wiederholt oder die nur so und so oft innerhalb einer Renga-Dichtung benutzt werden durften. Aber diese Listen galten im Wesentlichen nur für die Dichtungen in der Renga-Tradition mit hundert und mehr Strophen. Die meisten Dichtergruppen erlauben nur das einmalige Erscheinen eines topics oder materials innerhalb eines Kasen – aber sie achten darauf, dass alle diese Themen oder wenigstens jedes Themenfeld im Kasen wiederzufinden ist. Schluss – Balance is the Key (Gleichgewicht und Harmonie beachten): Bei einer Renku-Dichtung ist es entscheidend, ein Gleichgewicht von „link“ und „shift“ zu wahren. Shift (das Prinzip des Voranschreitens und der Verschiedenheit) ist das Gerüst für die Struktur des Renku, während link (die Arten der Verkettung) das Fleisch und Blut sind, das die Qualität des Lebens beschreiben soll. Wird shift (das Prinzip des Voranschreitend und der Verschiedenheit) überbetont, laufen wir Gefahr, das eigentliche Leben und damit den Spaß an der Renku-Dichtung zu verlieren. Wird shift (das Prinzip des Voranschreitend und der Verschiedenheit) ignoriert, wird das Ergebnis monoton sein.

Renshi

Renshi ist ein Begriff für die moderne Kettendichtung, (ren – miteinander verbundenes Gedicht, shi – im modernen, formal ungebundenen Stil). Mindestens zwei oder mehr Poeten (und Übersetzer) treffen sich an einem gemeinsamen Ort zu einer persönliche Begegnung. Teilnehmer sind Dichter, die eben nicht durch die Tradition und das klassische Regelwerk der japanischen Kurzlyrik geprägt sind (im Vergleich zur Renga/Renku-Dichtung). Die Sprache kann einsprachig oder mehrsprachig mit multikulturellem Hintergrund sein. Die zentralen, klassischen Motive, wie Mond, Blüte, Liebe werden nicht mehr zum Strukturieren herangezogen. Die Motive der Dichtung sind das gesamte Spektrum unserer Erfahrungen, aber, um einmal den Unterschied deutlich zu machen, im wesentlichen Gedankenlyrik und nicht das Ergebnis der Beobachtung eines (Natur)-Ereignisses, abgesehen von den Einlassungen zur konkreten Begegnung vor Ort. Minimale Geschwindigkeit: Jeder Autor steht unter einem gewissen Zeitdruck, den er mit seiner Fähigkeit zur spontanen und durch die Situation der persönlichen Begegnung bedingten originellen Kreativität beherrscht. Keine Konkurrenz: Teamgeist verbindet die Autoren. Zentrales Anliegen ist der gemeinsame Schaffensprozeß, das Respektieren der Verschiedenheit des Mitautors. Die Anzahl der Kettenglieder ist frei. Die Strophenform ist frei, ungebunden, ganz selten die Tanka-Form oder die Sonett-Form. Die Anzahl der Verse ist frei. Die Metrik des Verses ist frei. Verknüpfung: Der antwortende Poet greift ein Wort des letzen Verses, den vordergründigen Sinn oder die Assoziationen einer weiteren Sinnebene auf, ‘riecht’ (nach Bashô) den Duft der vorangegangenen Strophe und startet damit das nächste Kettenglied. Auch bewusst dualistische Anschlüsse werden ausprobiert. Dabei werden auch politisch-kulturelle Anspielungen aufgegriffen. Im Verlauf des neuen Kettengliedes wird aber nicht weitererzählt oder gar beim ‘Thema’ geblieben, sondern es erfolgt ein Wechsel der Assoziationen, eine unerwartete Wendung auf eine neue Thematik., ein Sprung in die Gegensätzlichkeit Jeder einzelne Schritt ist frei von dem Wunsch des Zurückkehrens. Man folgt dem Lauf und ändert den Sinn allein aus dem Wunsch vorwärts zuschreiten. Die Spur des vorangegangenen Schrittes wird verwischt und die ganz persönliche Idee des Folge-Autors zeigt in eine neue Richtung, die wieder … usw.

Rengay

Das Rengay wurde 1992 von dem US-Amerikaner Gary Gay in Anlehnung an die japanische Renku-Dichtung entwickelt. Gary Gay war seit 1991 Vorsitzender der amerikanischen Haiku-Gesellschaft. Er entwickelte diese neuartige Struktur einer Gemeinschaftsdichtung aus der Enttäuschung heraus, eine Renku-Sitzung selten während einer einzelnen Sitzung abschließen zu können und aus dem Verlangen nach einer einfachen unkomplizierten themenzentrierten Form, die ohne großes Vorwissen verwendet werden kann. „Ren“ bedeutet wie im japanischen Wort Renku „verbunden“, das Suffix „gay“ entstammt Gary Gays Nachnamen. Das englische Wort „gay“ bedeutet gleichzeitig u.a. fröhlich, lebhaft und soll den leichteren Charakter der Dichtung andeuten. Im Unterschied zum japanischen Renku mit seiner strengen Form und dem nicht leicht zu verstehenden Regelwerk ist das amerikanische Rengay einfach konzipiert. Ein Leiter ist deshalb nicht erforderlich, alle Teilnehmer sind gleichberechtigt. Es besteht aus 6 drei- bzw. zweizeiligen Versen, die wie folgt im Wechsel geschrieben werden: 2 Beteiligte (A + B): A-3 Zeilen • B-2 Zeilen • A-3 Zeilen • B-3 Zeilen • A-2 Zeilen • B-3 Zeilen 3 Beteiligte (A + B + C): A-3 Zeilen • B-2 Zeilen • C-3 Zeilen • A-3 Zeilen • B-2 Zeilen • C-3 Zeilen oder alternativ 3 Beteiligte (A + B + C): A-3 Zeilen • B-2 Zeilen • C-3 Zeilen • A-2 Zeilen • B-3 Zeilen • C-2 Zeilen Während im Renku das Durchschreiten eines Jahreslaufes wesentlich ist und dabei von den Teilnehmern ein möglichst weites Spektrum an Welterfahrung abgedeckt werden soll, steht das Rengay normalerweise unter einem Thema, das von vornherein festgelegt wird. Dies kann eine Jahreszeit sein, aber auch andere Inhalte wie Feuer, Wasser, bestimmte Städte oder Situationen sind möglich. Die Überschrift des Rengay greift meistens ein Wort oder eine Wortkombination aus der abgeschlossenen Dichtung auf. Wie im Renku ist es nicht verkehrt mit Link und Shift voranzugehen, um eine größere Vielfalt an Themen und Sichtweisen zu garantieren. Der Erfinder Gary Gay sieht dies allerdings nicht als unbedingt erforderlich an. Jeder Vers könne sich auch lediglich am vereinbarten Thema orientieren, ohne auf den Vorvers zu achten. Selbst gegen die mehrfache Verwendung von bedeutungstragenden Wörtern spricht seines Erachtens nichts. Aber wie bei anderen Formen der Kettendichtung gilt auch hier: jeder Vers muss für sich alleine stehen und als solcher bestehen können. Ob ein Rengay gelungen ist oder nicht, darüber entscheidet letztlich die Qualität der Verse und ihres Zusammenspiels. Da das Rengay von vornherein mit nur wenig Regeln versehen wurde, hat es sich in mehrere Richtungen weiterentwickelt und ist im Gegensatz zu seinen traditionellen Vorfahren prädestiniert für weitere Experimente. Beispielsweise entwickelte der holländische Haiku-Autor Max Verhart im Jahr 2000 die Variante des „mystery rengay“: Die Teilnehmer beginnen ohne vereinbartes Thema und lassen sich davon überraschen, welches sich im Verlauf der Dichtung herausschält (das erste mystery rengay von Max Verhart und Betty Kaplan trug passenderweise den Titel: Dracula’s Coffin). Autoren aus unterschiedlichen Ländern schreiben häufig mehrsprachige Rengay. Zu finden sind auch sogenannte Solo-Rengay, die von nur einem Dichter geschrieben wurden.

Insgesamt also eine offene und leicht zu erlernende Form der Gemeinschaftsdichtung, bei der die Freude am gemeinsamen Dichten und Experimentieren im Vordergrund stehen kann.

Herbstschimmer

Im hohen Ahorn neben dem steinernen Kreuz

ein Schimmer von Rot.

Kirchuhr. In die Nachtstille

fällt klar ein erster Apfel.

Dunst in den Hügeln. Das Auf und Ab der Körbe

zwischen den Reben.

Zum Samstagabend zwei Weinfeste zur Auswahl.

Drohender Himmel.

Ihr Vater hält den Drachen,

doch ein Windstoß reißt ihn fort.

Danksageessen. Im Fernsehen Football und Feuer im Kamin.

Udo Wenzel: Vers 1, 3, 5

Horst Ludwig: Vers 2, 4, 6

A · B · C · D · E · F · G · H · I · J · K · L · M · N · O · P · Q · R · S · T · U · V · W · X · Y · Z

 Ageku,
der Abschlussvers einer Kettendichtung. Diese letzte Strophe beschreibt einerseits das Ende der Sequenz, andererseits wird ein künftiges Geschehens vorweggenommen (z.B. ein Wiedersehen). In der klassischen Renga/Renku-Dichtung (z.B. Kasen)  ist das ageku in derselben Jahreszeit angesiedelt wie im vorhergehenden Frühlings(blüten)-Vers – also im Frühling. Mit ‚Frühling’ kann ganz allgemein der Frühling, die Frühlingsmitte oder der Frühlingsausgang angesprochen werden. In moderneren oder zeitgenössischen Renga/Renku-Dichtungen (z. B. Shisan) sind aber auch andere Jahreszeiten beschrieben. Sogar ageku ohne Jahreszeit (Verschiedenes) sind keine Seltenheit. Was auch immer gewählt wird, das ageku sollte eine Spiegel-Funktion zum hokku in Form einer Zusammenfassung, Grußformel oder einen optimistischen Ausblick anbieten. Um all diese Anforderungen an ein ageku erfüllen zu können, ist der Autor weitgehend von den strengen Regeln des Anschlusses, des Sprunges und der Verschiedenartigkeit, die für alle anderen Strophen gelten (das hokku ausgenommen), befreit. Die Komposition des ageku ist deshalb, wie beim hokku, eine besondere Ehre. Der Poet, der das hokku, den Eingangsvers, geschrieben hat, sollte nicht auch das ageku, den Abschlussvers, schreiben.

Haijin,
ehrenvolle Bezeichnung für einen vollkommenen Haiku-Poeten in Japan. Im deutschsprachigen Raum ist hingegen Haiku-Dichter oder Haiku-Poet die korrekte Bezeichnung für Haiku schreibende Dichter.

Hankasen
oder „Halbkasen“, Form der Renga/Renku-Dichtung mit 18 Strophen.

Hokku,
Startvers der Renga/Renku-Dichtung. Das japanische Haiku entwickelte sich aus der Tanka-Dichtung (tanka bedeutet kurzes Gedicht oder Lied mit Anmut). Als man begann, das Tanka von zwei Autoren zu schreiben, nannte man es tan renga, was so viel bedeutet wie kurzes Kettengedicht. Das tan renga wurde im Laufe der Zeit weiter gedichtet: dieselben oder weitere Autoren hängten Strophe an Strophe und das renga, das Kettengedicht, entstand. Der Ehrengast, in der Regel ein durchs Land ziehender Renga-Meister, hatte die Ehre, den Startvers, das hokku, der gemeinsamen Kette zu schreiben. Dieser Vers konnte – im Gegensatz zu allen anderen folgenden Versen – geschrieben sein, ohne auf eine vorhergehende Strophe Bezug nehmen zu müssen und etablierte sich als eigenständige Versform – später entwickelte es sich zum haiku.

Hyakuin,
Form der Renga/Renku-Dichtung mit 100 Strophen.

Jûnicho,
Form der Renga/Renku-Dichtung mit 12 Strophen.

Jûsanbutsu,
Form der Renga/Renku-Dichtung mit 13 Strophen.

Kasen,
die beliebteste Form der Renga/Renku-Dichtung mit 36 Strophen. Die Gesamtstruktur eines Kasen besteht aus drei Teilen: der Einleitung, dem Prolog oder der Ouvertüre (6 Strophen) – (jo)  dem Hauptsatz, der Entwicklung oder Erweiterung (24 Strophen) – (ha) und dem Schluss, der Folgerung oder dem Epilog (6 Strophen) – (kyû). Bestimmte Verse haben besondere Namen oder sind für besondere Themen reserviert. Zum Beispiel gibt es drei Vers-Positionen innerhalb des Kasen, die dem Mond und zwei, die den Blüten – traditionell den Kirschblüten – gewidmet sind. Andere Strophen beschreiben den Lauf durch die Jahreszeiten, erzählen von der Liebe oder beziehen sich auf freie Themen. Das Renga/Renku wird von „Anschluss und Orts- bzw. Szenenwechsel“ („link and shift“) regiert.

Kigo (jap. 季語, dt. Jahreszeitenwort),
spezielle Wörter oder Phrasen, die in Japan bzw. im jeweiligen Land  allgemein mit einer bestimmten Jahreszeit in Verbindung gebracht werden. Das erlaubt eine Ökonomie des Ausdrucks, die besonders in den sehr kurzen Formen der japanischen Poesie, wertvoll ist, um die Jahreszeit zu kennzeichnen, in der das Gedicht oder der Vers angesiedelt ist.

Kukai,
ein Haiku-Treffen interessierter Haijin, auf dem die Teilnehmer der Runde im ersten Schritt Haiku schreiben i.a. zu einem vorgegebenen Thema. Im zweiten Schritt werden die Haiku gesammelt und anonym aufgelistet. Im Teil drei vergibt jeder Teilnehmer (nach einem vorgegebenen System) Punkte für die Texte (außer für seinen eigenen). Im letzten Schritt  werden die Punkte für jedes Haiku gezählt, die Haiku besprochen und die Verfasser genannt. Mittlerweile hat sich der Name Kukai auch für virtuelle Haiku-Treffen im Internet  eingebürgert, die nach demselben Prinzip ablaufen.  Dabei ist  entweder ein Oberthema für die einzusendenden Haiku vorgegeben oder ein Kigo, das im Haiku enthalten sein soll.

Matsuku,
Unterstrophe eines Tanka mit 7-7 Moren.

More oder Mora (lat. mora, Zeitraum),
japanische Lauteinheit, Mehrzahl: Moren. Die Moren sind alle gleich lang und tragen weniger Information als Silben in europäischen Sprachen. Die japanische Dichtung ist nicht silbenzählend, sondern quantisierend. So kann z.B. der Vokal a zwei Moren ausmachen oder n eine More repräsentieren. Jede Mora wird in Kana (= jap. Schriftzeichen) durch jeweils ein Zeichen wiedergegeben und gilt in der Poesie als rhythmische Einheit. Die Pioniere des deutschsprachigen Haiku und Tanka haben noch irrtümlicherweise die japanische Struktur der Moren ein zu eins auf unsere Silbenstruktur übertragen.

Nijûin,
Form der Renku-Dichtung mit 20 Strophen.

Renga(jap. 連歌),
ist ein traditionelles japanisches Kettengedicht. Es hat sich aus dem Tanka und danach aus dem tan renga entwickelt. Es ist heute in seiner zeitgenössischen Ausprägung auch unter dem Begriff Renku bekannt. Bestimmte Verse haben besondere Namen oder sind für besondere Themen reserviert. Zum Beispiel gibt es Vers-Positionen innerhalb der Kettendichtung, die dem Mond und zwei, die den Blüten – traditionell den Kirschblüten – gewidmet sind. Andere Strophen beschreiben den Lauf durch die Jahreszeiten, erzählen von der Liebe oder beziehen sich auf freie Themen. Das Renga/Renku wird von „Anschluss und Orts- bzw. Szenenwechsel“ („link and shift“) regiert. Dabei werden die unterschiedlichsten Arten der Verlinkung bzw. der Prinzipien der Strophenverbindungen einerseits und Prinzipien der Progression (das Vorwärtsschreiten) und das Prinzip der Diversität (der Veränderung von Themen und Eigenschaften) beachtet.

Saijiki,
eine Sammlung bzw. ein Verzeichnis von Jahrezeitenwörtern (kigo), die in einem traditionellen Haiku verwendet werden.

Senryū (jap. 川柳),
eine dem Haiku sehr ähnliche japanische Gedichtform. Während das traditionelle japanische Haiku  mehr der Natur zugewandt ist, befasst sich das japanische Senryū mit dem seelischen Erleben, mit dem Persönlichen, dem Emotionalen.

Shisan,
Form der Renga/Renku-Dichtung mit 12 Strophen.

Shishi,
Form der Renga/Renku-Dichtung mit 16 Strophen.

Sabine Sommerkamp (1992)

Die deutschsprachige Haiku-Dichtung. Von den Anfängen bis zur Gegenwart

September 1920 schreibt Rainer Maria Rilke aus Genf: „Kennen Sie die kleine japanische (dreizeilige) Strophe, die Hai-Kais heißt? die (sic) Nouvelle Revue Francaise bringt eben Übertragungen die­ser in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reifen und reinen Gestaltung …“ Adressatin des Briefes, in dem Rilke seine „Entdeckung“ des Haikus bekundet, ist Gudi Nölke. Wenige Tage später, vom 17. bis 20. September, ist er bei ihr im Chalet Wartenstein zu Gast, diskutiert mit ihr und ihrer japanischen Gesellschafterin Asoka Matsumoto über das Haiku, das für ihn „ein neuer und wertvoller Bewußtseinsinhalt“ wird.
Kleine Motten taumeln schaudernd quer aus dem Buchs; sie sterben heute abend und werden nie wissen, daß es nicht Frühling war.
Dieses eines von insgesamt drei überlieferten Haiku Rilkes, gehört zu den frühen isolierten Einzelbeispielen, die dem japanischen Dreizeiler im deutschsprachigen Raum kompositorisch Bahn brechen. Ihren eigentlichen Anfang nimmt die deutschsprachige Haiku-Dichtung erst in den 60er Jahren. Doch werfen wir einen Blick zurück und fragen nach allerersten Beispielen deutscher Haiku und den sie bestimmenden Einflußfaktoren.

I. Frühe Einzelbeispiele deutschsprachiger Haiku

Deutsche Haiku gibt es seit etwa 90 Jahren. Zunächst vereinzelt, dann lange Zeit keine, dann wieder mehr, seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich in sprunghafter Zunahme. Eine genaue Kennzeichnung dieser frühen deutschsprachigen „Haiku-Ära“ kann aus folgenden Gründen jedoch nur eine ungefähre sein: Erstens ist ein Großteil der Quellen noch nicht gesichtet zum Beispiel vieles, was im Privatdruck oder vereinzelt in Zeitschriften erschien; zum anderen konnte bislang keine genaue Abgrenzung der Einflüsse japanischer Kurzformen, die unter anderem über das Englische und Französische liefen, von den eigenen Traditionslinien vorgenommen werden. Der Impressionismus, der von Frankreich seinen Ausgang nahm und sich in allen Bereichen der Kunst manifestierte, die allgemeine Japan-Begeisterung um 1900 und nicht zuletzt die politische Lage nach dem Sieg Japans im russisch­japanischen Krieg 1904/05 weckten in Deutschland ein Gefühl geistiger Affinität und Identität, das unter anderem zur literarischen Nachahmung anregte. Diese Übereinstimmung in künstlerisch-ästhetischer Hinsicht erschwert jedoch die Beurteilung eventueller Anregungen durch Tanka und Haiku in den vom Impressionismus verstärkt gepflegten lyrischen Kurzformen. Die Kenntnis japanischer Dichtung und direkte Einflüsse lassen sich bei einzelnen Lyrikern seit etwa 1890 nachweisen. Die ersten „selbständigen“ deutschen Haiku sind in der 1898 erschienenen Gedichtsammlung „Polymeter“ von Paul Ernst (1866-1933) enthalten:
Eine Wasserrose, Die aus der Tiefe auftaucht.

Kräuselt sich das Wasser.

Zu den Lyrikern um 1900, deren Werk Haiku bzw. impressionistische, in sich geschlossene Dreizeiler enthält, gehören unter anderem Peter Altenberg (1859-1919), Alfred Mombert (1872-1942) und Arno Holz (1863-1929), der vorübergehend zusammen mit Paul Ernst an der Erneuerung der lyrischen Formen arbeitete:
Die Gluth erlischt am Himmel leise ziehn die ewigen Sterne auf.
Die französische, über den Impressionismus einfließende „Hai-Kai“-Mode zeigte sich Anfang der 20er Jahre außer bei Rilke unter anderem im Werk von Franz Blei (1871 – 1942) und Ivan Goll (1891 – 1950), die teils verspielte, teils sentimentale Dreizeiler verfaßten:
Hast du so sehr geweint? Nach zwanzig Jahren Abschied Regnet es noch.
Klabund, der in seiner bekannten Literaturgeschichte französische Haiku aus der Zeit um 1920 aufnahm, nennt diese Gedichte „Imitationen des lyrischen Stils der Japaner“. Formal und inhaltlich ist den in dieser Zeit entstandenen Dreizeilern generell die wenig profunde Haiku-Kenntnis ihrer Autoren abzulesen. Lediglich Rilke kommt dem Zen-Gehalt des japanischen Vorbildes nahe, wie auch folgendes, wenige Wochen vor seinem Tod entstandene Haiku zeigt:
Entre ses vingt fards elle cherche un pot plein: devenue pierre.
Einen höheren Bekanntheitsgrad gewann das Haiku in Deutschland durch zwei Publikationen von Franz Blei und Ivan Goll. In seiner 1925 erschienenen Schrift „Haikai“ definiert Blei das Haiku als ein „Bildchen im kleinsten Raum mit einem pointierten Akzent in der dritten oder auch schon in der zweiten Zeile“ und erläutert seine theoretischen Aussagen durch selbst verfaßte Beispiele. Goll kennzeichnet das Haiku in seinem 1926 publizierten Aufsatz „Zwölf Hai-Kai’s der Liebe“ als „lyrisches Epigramm, das in möglichst wenigen Worten ein möglichst intensives Bild und weites Gefühl“ vermitteln soll. Es ist wahrscheinlich, daß die zitierten frühen Haiku-Versuche wie auch die beiden Aufsätze von Blei und Goll zur Verbreitung des japanischen Dreizeilers beitrugen und „sein Vordringen in die bündische Jugend zwischen den Weltkriegen mit bewirkten“. Aber „durch die nationalsozialistische Ideologieliteratur erstickten die Anfänge des Umgangs mit den kleinen Gedichten.“

II . Kräftigende Impulse für die deutsche Nachkriegslyrik

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs ist für das deutschsprachige Haiku wenig ergiebig. Erst nach 1945 wird der japanische Dreizeiler literarisch wieder attraktiv und leitet in der Folge den Beginn einer autonomen deutschsprachigen Haiku-Dichtung ein. Begünstigt wurde ihr Entstehen auf breiter Basis durch die Haiku-Adaption führender Nachkriegslyriker, wie etwa Günter Eich:
Vorsicht Die Kastanien blühn. Ich nehme es zur Kenntnis, äußere mich aber nicht dazu.
Der Haiku-Einfluß in der Dichtung Eichs, der auch japanische Haiku ins Deutsche übersetzte, macht sich in den Werken anderer, die deutsche Nachkriegslyrik prägender Autoren, wie Paul Celan, Helmut Heißenbüttel, Eugen Gomringer oder auch Bertolt Brecht, in entsprechender Weise geltend:
Der Bauer pflügt den Acker. Wer Wird die Ernte einbringen?

Bertolt Brecht

Die Frage, ob es sich dabei um direkte oder indirekte, über andere literarische Einflüsse bewirkte Haiku-Adaption handelt, läßt sich aufgrund der Parallelentwicklungen und Wechselwirkungen einer zunehmend internationalen Literatur vielfach nicht eindeutig beantworten. Tatsache ist jedoch, daß derartige Haiku-Momente im Werk einflußreicher Autoren der deutschen Lyrik auf breiter Basis im Hinblick auf konzentrierte Kürze, Objektivität, Unmittelbarkeit Symbolgehalt und Bildlichkeit kräftigende Impulse zuführen. Die Gründe für das wachsende Haiku-Interesse nach dem Zweiten Weltkrieg sind im wesentlichen in drei Aspekten zu sehen. Erstens herrschte ein hoher „Nachholbedarf “ der deutschen Lyrik, zweitens lenkte die “literarische Unsicherheit“ der Lyriker der Kriegsjahre und die überall spürbare Geschichtslosigkeit den Blick gen Fernost, und drittens begünstigte die Flut von Übersetzungen ausländischer Literatur die stilistische Adaption des japanischen Dreizeilers.

III. Deutschsprachige Haiku-Übersetzungen: Ein Überblick

Von den frühesten deutschen Übertragungen japanischer Lyrik (1894) hat keine die wenigen erstmals auftauchenden Haiku direkt beeinflußt, denn diese Übersetzungen legten den Akzent auf altjapanische Lyrik und Tanka. Für den deutschsprachigen Raum wurde das Haiku erst nach 1900 richtig erschlossen. Quelle für die frühen deutschsprachigen Haiku waren wie im Falle Rilkes französische Übertragungen bzw. Übersetzungen aus dem Englischen. Außer Karl Florenz‘ populären, bis in die 30er Jahre wirkenden Dichtergrüßen aus dem Osten (1894), in denen das Haiku als gereimter Vierzeiler übertragen ist, sind an frühen Übersetzungen unter anderem Hans Bethges „Japanischer Frühling“ (1911) zu nennen sowie die damals bekannteren Übertragungen von Paul Enderling, Julius Kurth und Otto Hauser. Ferner Michel Revons vielgelesene „Anthologie de la littdrature jaonaise des origines au XXe siècle“ (1910), die, von dem Schriftsteller Paul Adler erweitert und aus dem Französischen übertragen, 1926 auf deutsch erschien, Wilhelm Gunderts bis heute gültige Literaturgeschichte „Die japanische Literatur“ (1929), die große englische Haiku-Anthologie von Miyamori Asatarô „An Anthology of Haiku Ancient and Modern“ (1932) und die beliebten Übertragungen Paul Lüths „Frühling, Schwerter, Frauen“ (1942). Zu den nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute vielgelesenen „Haiku-Dolmetschern“ gehören unter anderem Werner Helwig, „Wortblätter im Winde“ (1954), Manfred Hausmann, „Liebe, Tod und Vollmondnächte“ (1951), Gerolf Coudenhove, „Vollmond und Zikadenklänge“ (1955), „Japanische Jahreszeiten“ (1963), Günther Debon, „Im Schnee die Fähre“ (1955), Erwin Jahn, „Fallende Blüten“ (1968), Dietrich Krusche, „Haiku“ (1970) und Jan Ulenbrook, „Haiku: Japanische Dreizeiler“ (1979). Besonderer Erwähnung bedürfen die 1939 erstmals herausgegebenen, alle paar Jahre neu aufgelegten Übersetzungen der Wiener Sinologin und Japanologin Anna von Rottauscher, „Ihr gelben Chrysanthemen. Japanische Lebensweisheit: Haiku-Dichtung“. Denn dieser Band mit seinen in unregelmäßigen Versen, einfacher Sprache und Assoziationsreichtum übersetzten japanischen Dreizeilern „dokumentiert in seiner Rezeptionsgeschichte eine der Wurzeln des deutschen Haikus“.

IV. Ein Fundament für die deutschsprachige Haiku-Dichtung

Im Zuge einer Neuentdeckung des japanischen Dreizeilers entstehen im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg gleichzeitig und unabhängig voneinander an verschiedenen Orten durch verschiedene Autoren zahlreiche Nachdichtungen und eigenständige Haiku-Versuche. So unter anderem in Wien, wo sich René Altmann (1929-1978), Hans Carl Artmann (geb. 1921), Andreas Okopenko (geb. 1930) und Hans Weissenborn (geb. 1932) im Freundeskreis seit 1946 dem Haiku widmeten. 1953 erscheint mit „Der schmale Weg“ die erste Haiku-Sammlung des niederösterreichischen Autors Karl Kleinschmidt – ein Datum, das den Beginn der deutschsprachigen Haiku-Dichtung erstmals nachweislich markiert. Kleinschmidt, der seine 200 dreizeiligen Gedichte nur im Untertitel und lediglich in Parenthese „Haiku“ nennt, dokumentiert eine „tastende“, zum Teil noch wenig selbständige poetische Vorgehensweise. Er erfüllt nicht die Versvorgabe des klassischen Siebzehnsilbenmusters (5 / 7 / 5) sondern hält sich formal wie auch inhaltlich stark an seine „Haiku-Quelle“, die Übersetzungen Anna von Rottauschers:
Wie ich am Morgen meine Hände ins Wasser tauch‘ – es klingt so eigen. Frühling … ?

Karl Kleinschmidt

Aus winterlichem Schnee ward morgens plötzlich Regen 0 Frühling, bist du da?

Sampû

Eine dem japanischen Vorbild formal und inhaltlich äquivalente, dennoch aber autonome deutschsprachige Haiku-Dichtung erscheint 1962 unter dem Titel „Haiku“. Autorin ist die österreichische Schriftstellerin Imma von Bodmershof (1895-1982). Wenngleich auch für sie die Übersetzungen Anna von Rottauschers eine „Brücke“ zum Haiku waren, kleidet sie fast die Hälfte der 128 nach Jahreszeiten geordneten Gedichte in die klassische Haiku-Form. Im Zuge ihrer eingehenden Haiku-Studien überarbeitet sie später auch die längeren Dreizeiler dieser Sammlung: “ … als ich damals die ersten Haiku herausgab, dachte ich noch, es sei erlaubt, mitunter 19 oder sogar 21 Silben (immer nur ungerade Zahlen, die geraden schließen ab, die ungeraden lassen dem Leser den Weg offen) und verwendete bei 60 von 128 Haiku diese Möglichkeit. Indessen bin ich ganz davon abgerückt. In der Zahl 17 ist eine Kraft enthalten, die durch nichts anderes zu ersetzen ist. Unter Preisgabe einiger Nuancen habe ich die längeren Haiku dieses Bandes verkürzt.“ Doch nicht nur die Form, auch der Inhalt ist für die mit Rilke befreundete Autorin zentral, und wie für ihn ist das Bild, das Symbol, ist der dem japanischen Dreizeiler immanente Zen-Gehalt die eigentliche Haiku-Komponente: “ … man kann Hailu (sic) überhaupt nicht machen, sie können einem nur begegnen, es kann nur ein Bild auf einmal durchsichtig werden für das Symbol, und um das allein geht es in meinen Augen.“
Die Kerze verlöscht. Wie laut ruft die Grille im dunklen Garten.
Eine brennende Kerze in der Dunkelheit, im Christentum eng verknüpft mit der Erscheinung Jesu, verbildlicht als ein sich selbst nährendes und damit sich selbst verzehrendes Licht die geistige Erkenntnis. Sie ist ein dem Unter­gang geweihtes Feuer, das Ewigkeitswert trägt. In vorliegendem Gedicht ist sie bereits im Untergang begriffen, weist ihr Verlöschen auf den tages- und jahreszeitlichen Bezug hin: ihr Zustand entspricht dem Stand der Sonne am Herbstabend. Mit der einsetzenden Dunkelheit werden Stimmen, die zuvor kaum vernehmlich waren, „im dunklen Garten“, im Innern des Menschen wach: die äußere Umgebung, die Natur, ist Spiegel des geistigen Raumes. Wie sich in der Erntezeit des Herbstes die Kraft jahreszeitlichen Wachsens in den sonnengereiften Früchten niederschlägt, offenbart sich die geistige Reife des Menschen in Zeiten des Niederganges. Erst im herbstlichen Dunkel entfaltet die „Lichtfrucht“ ihre ganzen Strahlungskraft, wird die Verinnerlichung der Sonne wie das laute Rufen der Grille im nächtlichen Garten vernehmlich. Dieses Bild stellt das Gedicht in die Reihe traditioneller japanischer Haiku. Vergleicht man es beispielsweise mit Issas verwandtem Dreizeiler, in welchem das nächtliche Weinen der Zikaden mit dem Hinweis darauf, daß auch die Sterne scheiden müssen, relativiert wird, erkennt man das nämliche Wechselspiel von Licht und Schatten. Deutlicher noch kommt es in Bashôs bekanntem Zikaden-Haiku zum Ausdruck, in welchem das Zirpen der Grillen unter der Mittagssonne in die Felsen, in das Dunkel, einzudringen scheint. Das Verlöschen der Kerze und der Ruf der Grille vorbildlichen in ihrem Verhältnis zueinander den jahreszeitlichen Rhythmus von Systole und Diastole, in welchen der Mensch mit einbezogen, das Licht der Sonne als geistige Kraft „im dunklen Garten“ wahrnimmt. Haiku, die beiden 1970 bzw. 1980 erschienenen „Haiku-Sammlungen“ und „Im fremden Garten“ der vielgelesenen Autorin und die poetologische „Studie über das Haiku“ ihres Gatten Wilhelm von Bodmershof wie auch die Dichtung des mit beiden Autoren befreundeten Hajo Jappe (1903 – ­1988), der 1958 seinen ersten Haiku-Band herausgab, verleihen der noch im Aufbau befindlichen deutschsprachigen Haiku-Dichtung ein festes Fundament.
Durchs zerfallene Dach reicht mir leis der Wind herein Kirschblütenzweige.

Hajo Jappe

V. Poetologische Grundpositionen deutschsprachiger „haijin“

Ein repräsentatives Bild der gegenwärtigen deutschen Haiku-Szene bot die am 29. und 30. September 1979 in Bottrop veranstaltete „Erste bundesdeutsche Haiku-Biennale“. Ziel dieser ersten größeren Zusammenkunft von etwa 20 Autoren aus dem gesamten Bundesgebiet war es, eigene Kurzgedichte vorzutragen und den Stellenwert des japanischen Haikus für die deutsche Dichtung zu erörtern sowie zu dessen Verbindlichkeitscharakter und Adaptionsmöglichkeiten Stellung zu nehmen. Eine grundsätzliche Klärung dieser Aspekte war unter anderem durch das Erscheinen der ersten Anthologie der deutschen Haiku (1979) notwendig geworden, da diese Anthologie zwar ein breites Spektrum deutschsprachiger Ausprägungen von den Anfängen bis zur Gegenwart vorstellt, unter Verzicht auf eine autoritative stilistische Wertung jedoch gleichermaßen die Frage nach einer maßgeblichen Poetik impliziert. Unklarheit über die „Richtigkeit“ der lyrischen Ausgangsbasis herrschte sowohl unter den hierin vertretenen anwesenden Autoren als auch unter den anderen ‚haijin‘, für die dieses Buch eine vorläufige Orientierungshilfe repräsentiert. Die Diskussion drehte sich daher in erster Linie um den Grad der poetologischen Angleichung an das traditionelle japanische Haiku. Hier, wie auch anhand der später vorgetragenen Gedichte, lassen sich die einzelnen Beiträge in drei Grundpositionen zusammenfassen, die teilweise ineinander übergehen: in einer partiellen, einer formal und inhaltlichen und in einer rein inhaltlichen Angleichung an den japanischen Dreizeiler. Für eine partielle Angleichung sprach sich, außer Jürgen Völkert-Marten, unter anderem Peter Coryllis aus, der darauf hinwies, daß das japanische Fluidum, die gedankliche Konzentration des Haikus, der deutschen Dichtung den Weg zu einer neuen Kurzform weise; es ginge nicht darum, den Dreizeiler zu imitieren, sondern diese neue Form auszuprägen, und man müsse daher die Gefahr einer rein formalen Orientierung ausschließen. Er schlage vor, das Haiku im Deutschen als einen poetisch gestalteten Aphorismus mit einer möglichst geringen Silbenzahl zu betrachten. Dem entgegnete ich, die ich mich für ein formal und inhaltliches deutsches Äquivalent einsetze, daß der Name „Aphorismus“ unter Umständen eine subjektive Wertung kennzeichne. Wichtig sei der objektive, allgemeingültige und eindeutige Charakter des Kurzgedichtes, dessen Kern ein zentrales Bild sei. Der Neutralitätswert dieses naturbezogenen Bildes, das im Leser ein plötzliches Erkennen auslöse, sei nicht spezifisch japanisch, sondern übertragbar, da seine Wirkung auf das Unbewußte im Menschen ziele. Entsprechendes gelte für die Anzahl der Silben; die deutsche Sprache sei zwar anders strukturiert als die japanische und folglich die Silbenzählung eine andere, eines sei in Ost und West jedoch konstant: die Dauer eines einzigen Atemzuges, die der Länge von 17 Silben entspräche. Diesem Standpunkt pflichtete Hans Stilett bei, indem er neben der Bedeutung verbaler Aussparungen der Aussagekraft des Einzelwortes, der Wiederentdeckung „verschütteter Werte“ durch die Beschäftigung mit fremdem Kulturgut gleichfalls auf den formalen Wert hinwies. Er selbst versuche diese Angleichung durch einen jambisch-trochäischen Rhythmus und eine rechtsbündige Schreibweise zu erzielen. Ideal sei es, wenn sich, wie bei den großen Musikern, die strenge Form mit der Intensität und Lebendigkeit der Aussage verbände. Die formale Limitierung könne nur den kleinen Geist beengen, für den großen Künstler sei sie eine zusätzliche Forderung, ein ästhetischer Reiz, denn er hätte so viel zu sagen, daß er die Form als Bereicherung empfände, die ein Zerfließen des Kunstwerkes verhindere. Einspruch gegen eine formale Adaption erhob K. Hülsmann. Einerseits sei es nicht möglich, die sogenannten Regeln auf eine völlig anders strukturierte Sprache zu übertragen, und zweitens gäbe es keine grundsätzlichen Regeln. Im Wort „grundsätzlich“ läge der Unterschied zwischen europäischem und asiatischem Denken schlechthin. Bei uns bestünde stets etwas „Grundsätzliches“; diese Haltung sei den Japanern fremd. Im übrigen zeigten die Tendenzen der modernen japanischen Haiku-Dichtung formale Variabilität. In einer zusammenfassenden Stellungnahme einigte sich die Diskussionsrunde darauf, daß Kürze, Prägnanz, Bildlichkeit und die Übermittlung eines verborgenen Sinns verbindliche Kriterien für ein mögliches deutschsprachiges Haiku seien.
Kranichzug am Berg – sie wissen um Weg und Ziel. Wohin wandern wir?

Marianne Junghans

Die prächtig flatternden Blätter werden an den noch verborgenen aber schon leise knisternden Knospen verenden

Hans Stilett

Vom Hügel der Akropolis herab der Blick auf die Stadt – die Götter schweigen, die Menschen leben.

Harald K. Hülsmann

Für die Bottroper Diskussion um eine mögliche deutschsprachige Haiku­ Poetik gilt daher, was Harold G. Henderson 1963 über den Charakter des nordamerikanischen Haikus bemerkte: „When it comes to establishing standards for haiku written in English … it does seem likely that our poets will eventually establish norms of their own.“

VI. Vorbild Nordamerika

Das englischsprachige Haiku, das sich wie das deutschsprachige in den 60er Jahren zu einer vom japanischen Vorbild losgelösten autonomen Lyrikform entwickelte, bietet heute in der westlichen Haiku-Hemisphäre die größte literarische und außerliterarische Heterogenität. Über 20 Haiku-Gesellschaften und -Zeitschriften sorgen gegenwärtig für Pflege und Verbreitung dieses noch jungen Genres, der pädagogische Stellenwert des Haikus als „the most commonly taught poetic form in the Primary Schools“ garantiert einen Grundstock für Aufbau und Bestand der englischsprachigen Haiku-Dichtung, und nicht zuletzt die zentrale Rolle, die sie inzwischen in außerliterarischen Bereichen wie Fotographie, Film, Musik, Tanz und Poesietherapie spielt, all dies trägt dazu bei, daß das Schreiben von Haiku in den USA wie im Mutterland des japanischen Dreizeilers allmählich zu einer populären Art von Volkssport wird. Fragt man sich, wodurch diese Entwicklung derart begünstigt wurde, las­sen sich global fünf Gründe nennen: die höhere Adaptionsfreudigkeit der Amerikaner gegenüber fremdem Kulturgut, die größere Nähe der haikuaktiven Westküste zu Japan, der vergleichsweise hohe Anteil in den USA lebender Japaner, der starke Einfluß des Haikus über Imagismus und „Beat Poetry“ auf die heutige US-Literatur und nicht zuletzt der direkte Kontakt der amerikanischen Besatzungstruppen während des Zweiten Weltkrieges in Japan mit asiatischer Literatur und Zen-Buddhismus. Gewiß, diese Gründe haben auf die Entwicklung der deutschsprachigen Haiku-Dichtung keinerlei Einfluß. Als Maßstab und Orientierungshilfe bietet uns die Haiku-Situation in Nordamerika jedoch die Möglichkeit, Faktoren zu eruieren, die das deutschsprachige Haiku in entsprechender Weise im hiesigen Literaturboden verankern könnten. Einer dieser Faktoren wären Gesellschaften zur Pflege und Verbreitung des Haikus sowie regelmäßig erscheinende Publikationen. Blicken wir kurz zurück. – Die erste überregionale, größere literarische Gesellschaft zur Pflege japanischer Kurzlyrik war das 1981 gegründete „Senryû-Zentrum“ in Düsseldorf. Die Vereinigung, die 1984 Mitglied der „Federation of International Poetry Association“ in Washington wurde und damit assoziiertes Mitglied der UNESCO, zählte ca. 120 in- und ausländische Autoren, deren Beiträge in vier von Carl Heinz Kurz zwischen 1985 und 1987 herausgegebenen Almanachen publiziert wurden. Die Effizienz dieses Zentrums erwies sich im Hinblick auf die Popularisierung des Haikus jedoch insofern als gering, als nicht das Haiku, sondern das Senryu im Mittelpunkt der Aktivitäten stand. Infolgedessen beantragten zahlreiche Autoren nach Auflösung des Senryu-Zentrums im Juni 1988 ihre Mitgliedschaft in der kurz zuvor gegründe­ten „Deutschen Haiku-Gesellschaft e. V“ (DHG), Vechta, die sich zwar der Pflege des Senryus wie auch des Tankas und Rengas widmet, ins Zentrum ihrer Aktivitäten laut Satzung jedoch das Haiku stellt: „Die besondere Sorge des Vereins gilt der Bewahrung und Förderung des eigenständigen Haiku, seiner Verbreitung und Pflege im deutschen Sprachraum.“ Publikationsorgan der Vereinigung, die mit über 80 Mitgliedern etwa ein Fünftel der nachweislich in der Bundesrepublik lebenden Haiku-Autoren vereint, ist die „Vierteljahresschrift der Deutschen Haiku-Gesellschaft“. Mit ihr existiert nach Einstellen von „apropos“, Zeitschrift für Kunst, Literatur, Kritik, im Frühjahr 1985 erstmals wieder eine Haiku-Plattform. Als erstes regelmäßig erscheinendes Forum für die deutschsprachige Haiku-Dichtung präsentierte das in „apropos“ enthaltene „Haiku-Spektrum“ von 1981 bis 1985 dreimal im Jahr auf 12 bis 28 Seiten neben Rezensionen, Berichten, Interviews, Interpretationen und Formvergleichen Gedichte von insgesamt 98 „haijin“ – 76 deutschsprachigen, 9 japanischen und 13 englisch­sprachigen. Publiziert wurden ferner Tanka, Renga und Senryu sowie Haiku aus der Feder von Schülern. Eine Sonderrubrik, die „Deutsch-englische Haiku-Begegnung“ führte deutschsprachige und englischsprachige Autoren literarisch zusammen. Analog zu den skizzierten poetologischen Grundpositionen deutschsprachiger „haijin“ lassen sich die in „apropos“ veröffentlichten Haiku in drei große Kategorien teilen, eine Klassifikation, die sich gleichfalls für das nordamerikanische Haiku herauskristallisiert hat: in den traditionell orientierten Stil Imma von Bodmershofs und Hajo Jappes, in den freieren, formal ungebundeneren Stil („liberated haiku“), wie ihn unter anderem Peter Coryllis und Harald K. Hülsmann in Bottrop proklamierten und in den experimentellen Stil nach Art von Hans Stilett, Georg Jappe oder Roman York.
Auf eines Daches Giebel, in einer Nische, nisten zwei Tauben.

Günther Klinge

dämmern im tropfen an der eichel.

Finley M. Taylor

rauten-haiku (bayern 1) blau der himmel weiß weißblau der himmel blauweiß weißderhimmelblau

Roman York

Ein zweiter Faktor zur Verankerung des deutschsprachigen Haikus ist seine Rolle im Schulunterricht, die im Unterschied zu der in den USA jedoch noch als gering zu bezeichnen ist. Zwar findet der japanische Dreizeiler verstärkt Eingang in Lesebücher und Lehrwerke für den muttersprachlichen Unterricht, die mangelnde Haiku-Kenntnis vieler Pädagogen sowie die vergleichsweise kleine Anzahl von Initiativen wie „Autoren an Schulen“, die das Haiku illustrativ in die Klassenzimmer tragen könnten, reichen jedoch bei weitem nicht aus, den notwendigen Grundstock für Aufbau und Bestand der deutschsprachigen Haiku-Dichtung zu legen. Hier müßte, zum Beispiel durch Haiku-Gesellschaften oder haikuversierte Pädagogen, aktive Unterstützung geleistet werden. Umso größere Bedeutung kommt einem dritten haikuverankernden Faktor zu, der Verbindung des Haikus mit außerliterarischen Bereichen. Illustriert wird sie im deutschen Sprachraum beispielsweise in den Bereichen lkebana, Fotographie und Musik und hat, wie etwa im Fall von Günther Klinge und Ann Atwood, bereits zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit deutsch-amerikanischer Haiku-Produktion geführt. Die Zusammenarbeit deutschsprachiger ‚haijin‘ mit denen anderer Länder ist ein vierter, wesentlicher Faktor, da das deutschsprachige Haiku auf diese Weise in einen internationalen Kontext rückt. Außer auf Japan und die USA sei insbesondere auf China hingewiesen, wo das seit der Kulturrevolution aus politischen Gründen verpönte Schreiben von Haiku allmählich wieder an Attraktivität gewinnt. Ein fünfter und letzter für die Verankerung des deutschsprachigen Haikus relevanter Faktor sei genannt: die Beschäftigung mit den Quellen der Haiku­Dichtung. Denn nur so, in der direkten Auseinandersetzung mit den ästhetischen Kriterien des japanischen Vorbildes, gelingt, was Rainer Maria Rilke am Haiku faszinierte: eine „in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reife und reine Gestaltung“. Dieser Artikel ist entnommen: Tadao Araki: Deutsch-Japanische Begegnungen in Kurzgedichten. München: Iudicum Verlag. 1992. ISBN 3-89129-305-4. S. 79-91, Quellenangaben zu den Zitaten und erwähnten Werken finden sie ebenda.

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