Haiku 2019 von Gabriele Hartmann – entsprechend der jeweiligen Veröffentlichung mit Übersetzung.
Haiku 2019 von Gabriele Hartmann – entsprechend der jeweiligen Veröffentlichung mit Übersetzung.
Rezension von Rüdiger Jung
„Tanzstunde“ ist ein sehr schöner Titel für die 125 Haiku, die Gabriele Hartmann im Laufe des Jahres 2019 veröffentlicht hat. Ihm ist die Leichtigkeit eigen, die für die Gedichtgattung konstitutiv ist. Einmal mehr überzeugt die Kraft und Unbedingtheit der sinnlichen Wahrnehmung:
Neuschnee
auf Stöcke gestützt queren wir
die Sterne (S. 8)
Zugleich deutet ein vordergründig technisches Malheur das Fragile, Vulnerable an – der zugespitzte Augenblick liest sich gleichermaßen als Satori und Memento mori:
Spannung
die Leinwand schnurrt
zusammen (S. 79)
Das Subtile, Nuancierte, Ambivalente ist die Stärke Gabriele Hartmanns. Dem Leser teilen sich kristalline Augenblicke einer Lebensreise mit, die nicht einfach zu verstehen, zu deuten, abzuhaken sind.
Apfelstrudel
Mutters Rezept
zuoberst (S. 9)
So sehr am Schluss die süffisante Assoziation von „Schlagobers“ mitspielen mag, geht es hier um nichts Geringeres als eine Hierarchie und Deutungshoheit („zuoberst“, auch ein militärischer Beiklang)‚ die auch posthum unantastbar bleibt.
Osterglocken
gleich wird es sich schließen
das Portal (S. 35)
Das schwere „Portal“ lässt die erste Assoziation der Osterglocken – die blühende nämlich – in den Hintergrund treten. Vor dem geistigen Auge ersteht ein imposanter Kirchenbau – Kathedrale, Münster, Dom. Zwei Begegnungen laufen konträr. Für die eine, das Sich-öffnen, steht neben der Narzisse die ganze österliche Auferstehungsthematik. Das sich schließende Portal markiert den Beginn des hochfestlichen Gottesdienstes, aber auch eine Welt, die außen vor zu bleiben droht. Beide konträren Bewegungen vermitteln den Eindruck eines „Kairos“, einer Heilszeit, einer unwiederholbaren Gelegenheit, die sich – den eschatologischen Gleichnissen Jesu zufolge – auch verfehlen, auch verpassen ließe. Ob nicht solche ebenso eindringliche wie vielschichtige lyrische Konzentrate wie die Haiku Gabriele Hartmanns geeignet sind, einer ebenso grundlegenden wie gefährdeten Kulturtechnik neuen Zulauf zu verschaffen?
Leseraum
dicht an dicht
nasse Schirme (S. 45)
Ja, ich höre den Skeptiker in mir: schönes Wetter – und der Spuk ist vorbei. Andererseits halte ich die Fahne der Hoffnung hoch. Gerade, wer über einen Schirm verfügt, wäre auf den „Leseraum“ als bloßes Ausweichareal nicht unbedingt angewiesen!
beim Wegkreuz
verharren – nichts weiß ich
von ihm (S. 49)
Ein Haiku, das in den Widerspruch führt – und gerade so den Leser in seinen Bann zieht. Ja, es stimmt: Name und Daten eines Wegkreuzes verraten mir fast nichts über den Menschen, der hier bei einem Verkehrsunfall den Tod fand. Nein, es stimmt nicht: Name und Daten stehen dafür ein, dass hier ein Mensch wie ich (und der Name evoziert alle sozialen Bezüge, in denen er gestanden haben könnte) unter tragischen Umständen sein Leben verlor, den Tod fand.
Große Rochade
einer der Spieler sprengt
seine Ketten (S. 93)
Die „Große Rochade“ dürfte im Regularium des Schachspiels der größtmögliche Eingriff in die Stellung seiner Figuren sein. Freilich ein einzigartiger und nur einmal möglicher. Wer so spielt, setzt auf ein „Alles oder Nichts“!-Spiel muss nicht immer gefallen:
Drehorgelspiel
tief in unseren Taschen
die Hände (S. 78)
Eine im wahrsten Sinne des Wortes sparsame Geste, die nicht unbedingt vermuten lässt, dass dem Musiker die Münzen gleich reihenweise in den Hut fallen werden. Andererseits: wer stehen bleibt, hört zu, ist nicht ganz gleichgültig, am Ende vielleicht doch noch zur Spende zu bewegen … Das letzte Haiku, das ich betrachten möchte, ist spät im Jahr angesiedelt – und absolut faszinierend:
Heiliger Abend
einer bricht
die Waffenruhe (S. 127)
Gegensätzlichere Wortfelder sind kaum denkbar als „Heiliger Abend“ und „Waffenruhe“. Man mag an Berichte aus dem Ersten Weltkrieg denken, an Feinde, die über Weihnachten die Waffen ruhen ließen, ja, Zeichen des Friedens setzten (die das Fest wohl nicht überdauerten). Aber mir scheint das Haiku viel näher an der Gegenwart, vielleicht auch viel privater. Gibt es da nicht in fast jeder Familie das ungeschriebene Gesetz, Konflikte (die es in der besten Familie gibt) ruhen zu lassen? Möglich, dass da einer ausschert‚ weil ihm das zu gezwungen und zu verlogen scheint. Ich favorisiere noch eine andere Lesart: Jesus, der „die Waffenruhe“ „bricht“, weil es um mehr geht als das – um Frieden, um das grundsätzliche Ja zu Menschen, die anders sind (sein dürfen und sollen) als ich.
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