Winfried Benkel (in: Sommergras79)

Auf der Silberhöhe

Alles war vorbereitet für meine Reise nach Halle zum 10. Haiku-Kongress, nur eins fehlte noch: Das Haiku für die Tagung.

In der Mittagsglut
ein Haiku noch im Auto.
Geblitzt – nun Schweigen …

Unser Tagungsort, die Schöpfkelle in der Hanoier Straße, war schnell gefunden. Doch wie kommt man von hier mit dem Auto in das »Appartementhaus der Wohnungsgenossenschaft Leuna« in der Silbertalerstraße?
Auch von den Einheimischen konnte mir keiner eine präzise Auskunft geben, wurden doch in den letzten Jahren einige Straßen umbenannt und viele Häuser abgerissen …
Endlich habe ich das Haus gefunden, das unbewusst doch immer in meiner Sichtweite stand: Ein »Elfgeschosser« im Umfeld vieler »Fünfgeschosser«.
Die Kongresstage brachten mir mehr, als ich erwartete. Es ist für mich immer wieder spannend, in den Gesprächen mit Gleichgesinnten nicht nur Übereinstimmung zu finden, sondern auch einen gegenseitigen Perspektivwechsel zu erleben.
Der Vortrag über Haibun von Frau Dr. Lydia Brüll ermutigt mich, den
Stoff alter Texte neu zu bearbeiten und auch Erkenntnisse der Wissenschaft aufzugreifen. Vielleicht liegt hierin sogar eine Chance, aktuelle
Probleme auf den Punkt zu bringen.
Natürlich kann auch die Silbendiskussion auf einem Haiku-Kongress nicht unterschlagen und auch nicht gelöst werden. Was verstehen wir unter der Disziplin »Haiku«? Nach welchen Regeln entsteht ein »Haibun«?
Wie wichtig ist die Form? Finden wir für diese einfachen Fragen auch einfache Antworten?
Form ist mir nicht unwichtig, denn als Vorgabe kategorisiert sie eine Disziplin oder einen Stil für das Spiel der Gedanken und wird somit auch Teil des Inhalts.
Bei der Frage nach der Form helfe ich mir oft mit einem Vergleich aus der japanischen Schule der Budo-Künste. Wenn man zum Beispiel im Judokampf einen Wurf sieht, der wie aus einem Tanz heraus in höchster Harmonie vollendet wird, muss man wissen, dass diese Form der Bewegung nur erreicht werden kann, weil sie sich auf knallharte Regeln und Techniken gründet.
Judo, »der sanfte Weg« oder auch als »Siegen durch Nachgeben«
interpretiert, kann nur dann graziös erscheinen und zum Erfolg führen, wenn Form und Zweck sich ergänzen.
Ähnlich wie Haiku hat auch Judo sich aus Elementen vorhergehender Disziplinen entwickelt, z.B. dem Jiu-Jitsu, das wiederum in Deutschland in den 60er Jahren im Ju-Jutsu einen neuen Rahmen fand. Die Veränderungen gehen weiter, und insbesondere rund um Ju-Jutsu kann man in Deutschland beobachten, wie mit der Gründung verschiedener Dachverbände nur das Regelwerk eine Chance hat zu überleben, das einen starken Verband hinter sich weiß.
Werden Regeln erheblich verändert, kann eine Disziplin verloren gehen und eine neue entsteht.
Ist das nicht das Schöne, der Reiz eines Spiels oder Werkes, dass man die Regeln genau kennt, die es auszuschöpfen und nicht zu missachten gilt?
Judo ist es bisher gelungen, sich sauber und klar von anderen Kampfsportarten abzugrenzen. Judo ist Judo und nicht Ju-Jutsu. Inhalt und Form, Form und Zweck bilden das Ganze.
In der Übung mit Mario Fitterer zur Minimierung der Worte wurde mir bewusst, wie wir mit einem Überfluss an Worten den Raum zur Bildung eigener Bilder einengen. Was ist notwendig im Rhythmus der Silben?
Ein absolutes Highlight war der Vortrag von Dr. Thomas Vollhaber »Haiku und Gebärdensprache«. In einer Videoshow gebärdeten Schüler u.a. Kyoshis bekanntes Haiku »Mein Herz, das sich nach dem Vater sehnt, ähnelt einem warmen Novembertag«. An diesem Abend wurde mir klar, was Wittgenstein meinte: »Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein«, und Thomas Vollhaber erklärt uns: »Es ist wie beim Tanz. Die Hände müssen warm sein, um Haikus zu gebärden«.
Egal, ob wir über Geräusche, Worte oder Zeichen unsere Abbildungen im Kopf schaffen, immer beruhen sie auf eigenen Erfahrungen. Francis Picabia sagt: »Wenn ihr irgend ein Geräusch hört, müsst ihr,
um es zu verstehen, im Gehirn das Bild dessen formulieren, was es hervorgebracht hat – und ihr macht dasselbe auch von einem Kunstwerk.«
Das Miteinander in der Schöpfkelle wurde von Tag zu Tag vertrauter, und nach den vielen Gesprächen hatte ich das Gefühl, in einer Haiku-Familie zu sein. Ein großes Dankeschön noch mal an Christa Beau und ihre Helfer, die nicht zuletzt mit der Ausgestaltung der Räume, dem musikalischen Begleitprogramm und der Sorge um unser leibliches Wohl die Tage auf der Silberhöhe zu einem nachhaltigen Haiku-Erlebnis werden ließen.
Als ich mich von den Teilnehmern verabschiede und allein in dem Elfgeschosser zurück blieb wurde mir plötzlich etwas melancholisch zu Mute: Alle reisen nun schnell ab nach Hause …
Ich bleibe hier, wo die verwaisten Elfgeschosser im Gelände herumstehen und wahrscheinlich nur noch einen Sinn in sich tragen: Warten auf den Abriss.
Schon seit meiner Ankunft beschäftigt mich der Abbau des Nachbarhauses. Hier, im einst am dichtesten bebauten Stadtteil Halles, gab es im Jahre 2000 bereits einen Leerstand an Wohnungen von über 22% und einen Bevölkerungsverlust von 37% …
Fünfter Tag. Ich werde wach durch das Gezwitscher der Vögel und aus der Ferne das dumpfe Gekratze der Häuserfresser – Abräumbagger, die präzise ein Zimmer nach dem anderen aus dem Elfgeschosser herausbrechen. Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle Richtung »Frohe Zukunft« komme ich wieder vorbei an dem monströsen Elfgeschosser mit den dunklen Öffnungen, das waren einst die Fenster …

Aus der Fassade
des Elfgeschossers starren
die leeren Augen

Angekommen im Stadtzentrum bin ich völlig überrascht von dem Flair, den wohltuenden Farben und glänzenden Fassaden. Wo sind die Spuren der Erinnerung in diesem neuen Stadtbild?
Nach langem Suchen finde ich endlich mein Geburtshaus, das ich zum ersten Mal richtig wahrnehme. Was für ein Unikat. Vielleicht ist es das am meisten heruntergekommene bewohnte Haus in Halle, dessen uralte Eingangstür mit Efeu berankt ist. Der darüber hängende Balkon hält nur noch wenige Mauersteine einer ursprünglichen Verkleidung.
So viel Unvollkommenheit in diesem Anblick und doch spüre ich plötzlich einen Charme besonderer Art. Vor mir offenbart sich etwas Unverfälschtes, was sich über Jahrzehnte ohne Erneuerung halten konnte.
Das Haus in der Hermannstraße zeigt seine Geschichte …
Je länger ich vor der verfallenden Fassade stehe je mehr kann ich ihr etwas geheimnisvoll Schönes abgewinnen. Was ist es, was mich an dieser bröckelnden alten Fassade reizt? Was ist schön jetzt im Moment, wo mir die Zeit noch diesen Anblick des Abgenutzten und Entblößten bewahrte?
Zum ersten Mal fühle ich »wabi-sabi«, Japans Philosophie der Bescheidenheit, die besagt, dass Schönheit aus Hässlichkeit hervorgelockt werden kann. Wabi-sabi versteht Schönheit als ein dynamisches Ereignis zwischen einem selbst und etwas anderem, ein veränderlicher Bewusstseinszustand der Poesie und Anmut …
Die Stadt lässt mich nicht mehr los, ich bleibe zwei weitere Tage hier.
Auf der Burg Giebichenstein hat man nicht nur einen schönen Ausblick auf die Saale, man kann sich auch an den zahlreichen Skulpturen der Studenten von der Hochschule für Kunst und Design erfreuen.

Im Sommerregen
nackte Körper aus Stein
die Spur der Tropfen

Auf der Moritzburg begegne ich Kunsthistorikern und Malern anlässlich der Karl Völker Ausstellung. Seine Kreidegrundzeichnungen aus den 50er Jahren begeistern mich. Am letzten Tag erlebe ich auf dem Marktplatz eine Werbeveranstaltung für die Eröffnung des Erlebniscenters »Arche Leser-Texte 46 Nebra«, in dessen Mittelpunkt die 3600 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra steht. Wird eines Tages wieder das Weltwissen auf einer einzigen Scheibe sein …?

Marktplatz in Halle
die schöne Himmelsscheibe
digitalisiert

Ein letzter Blick auf den Stadtgottesacker. Dieses Kleinod der Stadt ist ein Meisterwerk der Renaissance nördlich der Alpen. Die altehrwürdigen Bäume hier sorgen heute dafür, dass Licht und Schatten gut verteilt sind wie auch meine Gedanken über das Leben, das ein Ende und eine Entstehung hat. Und nirgendwo fiel mir diese Betrachtung leichter, als hier.

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Erscheinungsjahr: 2008

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