Wieder dieser Albtraum – das Labyrinth der Gräber und die vielen toten Maikäfer … Mit einem Schrei wache ich auf und versuche, den Traum abzuschütteln. Vergebens.
Ich sehe mich wieder vor dem Tor des Hauptfriedhofs in Braunschweig, eben dreizehn geworden, das erste Mal allein. Ein weiter Weg von daheim, noch weiter durch den Umweg über den Prinzenpark, fern der zerstörten Innenstadt.
Ein Schock erwartet mich: Hunderte von toten Maikäfern liegen auf den Wegen unter den Kastanienbäumen. Meine Füße, barfuß in dünnen Sandalen, suchen die Lücken. Ein altes Kinderlied fällt mir ein:
Maikäfer, flieg!
Dein Vater ist im Krieg,
deine Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt,
Maikäfer, flieg!
Genau wie bei uns … Vater ist Kriegsgefangener in Russland, hoffentlich nicht in Sibirien. Mutter liegt hier unter der Erde, zwei Jahre schon, ihr Baby wächst jetzt in einer fremden Familie auf. Die Schwestern irgendwo im Süden bei Verwandten, es geht keine Post mehr. Unser Bruder, gerade fünf Jahre alt, mit der Großmutter auf der Flucht aus Hinterpommern –
ob sie noch leben? Maikinder, wir beide … Früher lagen auf unseren Geburtstagstischen kleine Schokoladen-Maikäfer. Ob es je wieder Schokolade gibt?
verwelkte Kränze –
um ein Grabkreuz gaukeln
Zitronenfalter
So viele frische Gräber! Ich finde mich nicht mehr zurecht, irre durch die fremd aussehenden Parzellen, bis mir ein Gärtner den Weg weist. Die mitgebrachten Maiglöckchen sehen schon matt aus, ich stelle sie in eine Vase vor den großen schwarzen Marmorstein, zupfe Unkraut und gieße die Pflanzen. Ringsherum Zypressen und Thuja – Friedhofsgeruch.
Schnell verlasse ich das Grab, hüpfe zurück auf den Maikäfer-Wegen, heim zur Oma. Sie wird immer schwächer. Morgen gibt es beim Schlachter Fleischbrühe, die wird ihr guttun. Ich muss mich früh anstellen.
auf dem Heimweg
knospender Flieder
noch ohne Duft