Ausgewählte Haiku

übersetzt (und mit Anmerkungen versehen)
von Martin Thomas

»Hier können Idee und Hintergrund zu diesem Projekt nachgelesen werden.

硯洗ふ / あはせ心の / 汚れをも
suzuri arau / awase kokoro no / yogore o mo

Den Tuschstein reinigen
und auch das Herz
vom Schmutz befreien

大高霧海(東京) Ōtaka Mukai (Tōkyō) [1]

Bei der „Reinigung des Tuschsteins“ (suzuriarai 硯洗) handelt es sich um ein traditionelles Ritual, das am Tag bzw. Abend vor dem „Sternenfest“ (tanabata 七夕), welches man am 7. Juli feiert, begangen wird. Insbesondere Kinder und Schüler beten über diese Handlung, zu der auch das Aufräumen des Schreibtisches gehört, für das Vorankommen beim Lernen und den Erfolg im Studium. Im Haiku dient es aufgrund der zeitlichen Diskrepanz zum ehemals verwendeten Mondkalender, auf den die zeitlichen Fixierungen der Jahreszeitenwörter zurückgehen, als Jahreszeitenwort für den Herbst, wobei es in diesem Gedicht in der nicht lexikalisierten Verbindung aus dem Nomen „Tuschstein“ (suzuri 硯) und dem Verb „säubern“ (arau 洗ふ) vorliegt.

 

トロッコの / 軋み錦秋の / 峰を練る
torokko no / kishimi kinshū no / mine o neru

Das Knarren der Aussichtsbahn
zieht langsam
über den herbstlichen Berg

西田梅女(金沢) Nishida Umejo (Kanazawa)

Aufgrund der Ambiguität des Begriffs torokko トロッコ, der in der Übertragung mit „Aussichtsbahn“ übersetzt wurde, könnte es sich in diesem Gedicht tatsächlich auch um einen einfachen Förderwagen handeln, im Fachjargon als „Hunt“ bezeichnet, der sich seinen Weg über den herbstlichen „Berggipfel“ (mine 峰) bahnt. Dieser muss nicht zwangsläufig zu sehen sein, da der Text nicht die optisch wahrnehmbare, sondern die akustisch wahrnehmbare Fortbewegung in den Fokus rückt. Als Jahreszeitenwort fungiert der „Herbst“ (aki 秋), welcher durch den Zusatz „Brokat“ (nishiki 錦) ergänzt wird und auf die bunte Farbenpracht anspielt – hier in Form des sinojapanisch gelesenen Kompositums „Brokatherbst“ (kinshū錦秋).

 

ペン先の / インク固まり / 九月尽
pensaki no / inku katamari / kugatsujin

In der Feder
die Tinte eingetrocknet –
letzter Herbsttag

菊池幸惠(茨城) Kikuchi Sachie (Ibaraki)

Bei der Lektüre dieses Gedichts wird wohl jeder Leser eine eigene Geschichte im Kopf haben, warum die Tinte in der „Federspitze“ (pensaki ペン先) eingetrocknet ist. Der Text selbst liefert mit der zeitlichen Verortung der gemachten Beobachtung nur eine vage Erklärung und regt den Leser vielmehr zu freien Assoziationen an. Wörtlich ist in dem Gedicht vom „letzten Septembertag“ (kugatsujin九月尽) die Rede, welcher mit Rückbezug auf den Mondkalender im übertragenen Sinn gleichzeitig für das Ende des Herbstes steht.

 

檸檬受く / 弾む会話や / 垣根越し
remon uku / hazumu kaiwa ya / kakinegoshi

Zitronen
und ein lebhaftes Gespräch
übern Gartenzaun hinweg

久保田悦子(茨城) Kubota Etsuko (Ibaraki)

Auch die „Zitrone“ (remon 檸檬) ist inzwischen ein etabliertes Jahreszeitenwort für den Herbst, genauer gesagt für den „Spätherbst“ (banshū 晩秋). Angebaut wird sie in Japan seit Beginn der Meiji-Zeit (1868–1912), mittlerweile vor allem in den Präfekturen Hiroshima, Ehime und Wakayama. Ob es sich bei der Zitrone im Gedicht, welche ebenso wie das Gespräch über eine „Hecke“ (kakine 垣根) hinweg ausgetauscht zu werden scheint, um eine selbst angebaute oder eine gekaufte handelt, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen.

 

せせらぎの / 音に載りたる / 枯葉かな
seseragi no / oto ni noritaru / kareha kana

Auf das Rauschen des Baches
legt sich
ein welkes Blatt

小野郁巴(福島) Ono Ikuha (Fukushima)

Die Besonderheit dieses Gedichts besteht darin, dass das „welke Blatt“ (kareha 枯葉) – entgegen der intuitiven Vermutung kein Jahreszeitenwort für den Herbst, sondern ein Jahreszeitenwort für den Winter – nicht einfach auf die Wasseroberfläche des „murmelnden Baches“ (seseragi せせらぎ) fällt, sondern förmlich auf das „Geräusch“ (oto 音) dieses Baches „aufzusteigen“ (noritaru 載りたる) scheint. Da es dabei mit Sicherheit nicht das einzige Blatt ist, das mit dem Rauschen des Baches davongetragen wird, wäre auch eine Übersetzung im Plural denkbar.

 

名月や / 桶一杯に / 水張りて
meigetsu ya / oke ippai ni / mizu harite

Herbstvollmond –
der Bottich randvoll
mit Wasser gefüllt

田名部柊一(八戸) Tanabu Shūichi (Hachinohe)

Vielen Lesern von SOMMERGRAS dürfte die „Kirschblütenschau“ (hanami 花見) ein Begriff sein. Weniger bekannt ist womöglich die Tatsache, dass in Japan traditionell auch der Mond zum Gegenstand kollektiver Betrachtung werden kann. Hierfür verwendet man die Bezeichnung „Mondschau“ (tsukimi 月見). Diese wird laut dem alten Mondkalender in der Nacht vom 15. auf den 16. Tag des 8. Monats feierlich begangen, da in dieser der Mond am schönsten scheinen soll. Hieraus leitet sich auch das im Gedicht verwendete Jahreszeitenwort des „prächtigen Mondes“ (meigetsu 名月) – in einer anderen gängigen Schreibung auch als „strahlender Mond“ (meigetsu 明月) wiedergegeben – ab. In diesem Jahr fällt das Datum laut Sonnenkalender auf den 13. September. Wer sich nun fragt, was der mit Wasser gefüllte Bottich in diesem Gedicht zu suchen hat, der findet womöglich im alten Japan eine Erklärung. Laut Überlieferungen soll der Hofadel der Heian-Zeit (794–1185) den Mond nie direkt, sondern stets nur dessen Abbild in einem eigens dafür angelegten Teich betrachtet haben. Das hatte zum einen mehr Stil und außerdem gab man sich so nicht die Blöße nach oben zu schauen, was als dem eigenen Stand unwürdig betrachtet wurde.

 

R246 /トラックは行く / 台風夜
R246 / torakku wa yuku / taifūyo

Nächtlicher Taifun –
auf der Bundesstraße 246
fährt ein LKW

松井貴子(横浜) Matsui Takako (Yokohama)

Die japanische Bundesstraße 246 führt von Tōkyō aus über die Präfektur Kanagawa nach Numazu, eine Stadt in der Präfektur Shizuoka. Nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich sticht sie aus dem Gedicht hervor, denn wann ist man in einem deutschen Haiku schon einmal der „B96“ oder der „A4“ begegnet? Spannung erfährt das Gedicht insbesondere durch den Umstand, dass der LKW die besagte Straße befährt, obwohl ein nächtlicher „Taifun“ (taifū 台風) – hier als Jahreszeitenwort für den Herbst – wütet. Genießt der Fahrer die Fahrt im abgeschotteten Fahrerhaus oder fährt er notgedrungen durch die Nacht, weil er bis zum nächsten Morgen etwas Wichtiges zu liefern hat?

 

飛行機の / 翼に並ぶ / 赤とんぼ
hikôki no / tsubasa ni narabu / akatonbo

Neben den Flügel
des Flugzeugs gesellt sich
eine rote Libelle

栗山緑(福岡) Kuriyama Midori (Fukuoka)

Dieses Gedicht lebt vom Größenunterschied zwischen dem Flugzeug und der „roten Libelle“ (akatonbo 赤とんぼ), die hier als Jahreszeitenwort für den Herbst fungiert. Im Gegensatz zu ihren Artgenossen ist die in unseren Gefilden als „Heidelibelle“ bekannte Unterfamilie vergleichsweise klein, dafür jedoch häufig in Schwärmen anzutreffen. Das Gedicht könnte somit durchaus auch – man denke an eine Flughafenszenerie – im Plural übersetzt werden: „Neben die Flügel / der Flugzeuge gesellen sich / rote Libellen“.

 

黄落や / 土の湿りに / 欠伸猫
kōraku ya / tsuchi no shimeri ni / akubineko

Fallendes Herbstlaub –
auf dem feuchten Boden
eine gähnende Katze

佐藤ゆう子(東京) Satō Yūko (Tōkyō)

Im Japanischen gibt es unzählige Begriffe, um das Herbstlaub zu beschreiben. Das Jahreszeitenwort, das im vorliegenden Haiku verwendet wird, besteht aus der Farbbezeichnung „gelb“ (ki 黄) und dem Verb „fallen“ (ochiru 落ちる), die zusammen in ihrer sinojapanischen Lautung kōraku gelesen werden. Laut Definition handelt es sich dementsprechend um fallende gelbe Blätter, wobei die Bezeichnung insbesondere für die Beschreibung des Herbstlaubs von „Gingko-Bäumen“ (ichō 銀杏) und „Japanischen Kastanien-Eichen“ (kunugi 櫟) verwendet wird.

 

喧噪の / 青空市や / 鳥渡る
kensō no / aozoraichi ya / tori wataru

Freiluftmarktlärm –
am Himmel
ziehen Vögel

福田ひさし(埼玉) Fukuda Hisashi (Saitama)

In diesem Haiku überschneiden sich zwei Ebenen, und das nicht nur thematisch, sondern auch sprachlich. Der japanische Begriff für „Freiluftmarkt“ (aozoraichi 青空市) enthält das Kompositum „blauer Himmel“ (aozora 青空), das assoziativ mit den Zugvögeln verbunden ist. Gleichzeitig führt die Umstellung des lexikalisierten Nomens für „Zugvögel“ (wataridori 渡鳥) in „ziehende Vögel“ (tori wataru 鳥渡る) – eine nicht lexikalisierte Verbindung aus Nomen und Verb – dazu, dass der Bewegungsaspekt der Vögel am Himmel betont wird. Schließlich kann das verwendete Verb wataru (渡る) auch einfach als „überqueren“ übersetzt werden, was die Vögel sprachlich indirekt zu Marktbesuchern werden lässt und gleichzeitig weitere Assoziationen zu den über den Markt schlendernden Menschen am Boden wachruft. Letztlich ist ebenfalls nicht eindeutig zu klären, woher der „Lärm“ (kensō 喧噪) kommt. Ist damit das angeregte Feilschen um Preise gemeint oder ist es der Vogelschwarm am Himmel, der für den Radau sorgt? Am Ende steht die Frage, wer hier eigentlich wen beobachtet.

 

日向ぼこ / 伸びする猫も / 老いしかな
hinataboko / nobi suru neko mo / oishi kana

Sonnenbad im Winter –
auch die sich räkelnde Katze
ist alt geworden

庭山邦子(東京) Niwayama Kuniko (Tōkyō)

Dieses Haiku ist ein gutes Beispiel dafür, welche Schwierigkeiten das Jahreszeitenwort beim Übersetzen bereitet. In der englischen Übertragung des Gedichts, die in „HI – Haiku International“ enthalten ist, findet sich keine Erwähnung, dass das beschriebene Sonnenbad (der Katze? / des Beobachters? / beider zusammen?) im Winter stattfindet. Dort heißt es schlicht: „Streched out / a sunbathing cat / is it old, too“. In den gängigen Jahreszeitenwörterbüchern wird jedoch

 

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