Im Zeitraum August bis Oktober 2011 wurden insgesamt 226 Haiku und 15 Tanka von 54 Autorinnen und Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Oktober 2011. Jeder Teilnehmer konnte bis zu 5 Haiku oder Tanka einsenden.

Diese Werke wurden vor Beginn der Auswahl von Claudia Brefeld anonymisiert, die auch die gesamte Koordination hatte. Die Jury bestand aus Dirk-Uwe Becker, Georges Hartmann und Gitta Hofrichter. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Werke (33 Haiku und 5 Tanka) sind nachfolgend alphabetisch nach Autorennamen aufgelistet – es wurden bis zu max. drei Werke pro Autor/in aufgenommen.

„Ein Haiku/ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, ein Werk auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.

Claudia Brefeld

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

Ausgesucht und kommentiert von Dirk-Uwe Becker:

Morgennebel –

Fischerboote unterfahren

die Stille

 

Martina Heinisch

Absolut prägender Rhythmus, die Mystik der ersten Zeile wird durch die letzte Zeile überhöht.

Der Tag ist noch nicht richtig erwacht, Nebel(gestalten), verschwommene Wesen einer anderen Welt, ziehen durch die Dämmerung, bevor sie sich auf der Wasseroberfläche dem Tagschlaf hingeben.

In dieses Mysterium hinein dringt der Mensch mit seinen Fischerbooten. Aber dadurch, dass er nicht einfach durch diese mystische Stille fährt und sie damit (zer-)stört, sondern sie nur “unterfährt”, bricht er das Mysterium nicht auf – er lässt es bestehen, gleitet quasi wie in einer Parallelwelt daran vorbei. Aus dem Leben kommend, vorbei am Todes ähnlichen Nebelreich, gelangt er wieder in das Leben hinein.

Mich erinnert dieses Bild sehr stark an die Sage um König Artus und Avalon, die Nebel umhangene Insel, zu der hin man den sterbenden König in einem Boot brachte. Vom Leben hinüber in den Tod.

Ausgesucht und kommentiert von Gitta Hofrichter:

Sudoku

ein Pfauenauge setzt sich

aufs O

 

Martina Heinisch

„Oh“, … Naturwunder landet im japanischen Logikrätsel Sudoku – kurz für Sūji wa dokushin ni kagiru – was so viel bedeutet wie „isolieren Sie die Zahlen“ hat sich in den letzten Jahren zu einem der populärsten Zahlenrätsel entwickelt. Sommerzeit, ich sitze auf der Terrasse gebeugt über quadratischen Feldern, die mit Ziffern gefüllt werden sollen. Die Zeit vertreiben … Und gerade in diesem Moment schwebt lautlos ein Edelfalter heran, ‘zwinkert‘ mit den Flügeln, setzt sich auf die schwarzen-weißen Kästchen, um seine ganze Farbenpracht zu entfalten. Ein blau gefärbter Augenfleck, der an die Pfauenfeder erinnert und für das O im Schmetterlingsalphabeth steht, bedeckt ausgerechnet das O vom Sudoku. Sieh her, wie schön ich bin, will mir das Naturwunder sagen, während meine Augen langsam den faszinierenden schimmernden Zeichnungen auf seinen Flügeln entlang gleiten. Eintauchen in die Welt der Schmetterlinge, Leichtigkeit spüren für den einen Moment. Dafür schiebe ich die abstrakte Welt der Zahlen gerne beiseite. Das moderne Haiku schafft für mich in der konkreten Beschreibung des Augenblicks ein nachhall-tiges Bild im Kontrast von Natur und Logik im Rhythmus kurz-lang-kurz und wie schön, dass es ein Pfauenauge war und kein Zitronenfalter.

Ausgesucht und kommentiert von Georges Hartmann:

Morgentoilette

ein paar Zähne fehlen

im alten Kamm

 

Elisabeth Kleineheismann

Haiku Nr. 144, der Knüller vor dem Pausentee oder doch etwas ganz anderes ?

Die Leser möchten möglichst alle eingesandten Haiku lesen, was dann wieder Redaktion und Jury gleichermaßen quält, weil sich die Mehrzahl der Werke auch bei bestem Willen nicht erschließt, oder die Texte beim Lesen keine Emotion hervorrufen, weil diese einfach zu banal, zu konstruiert, zu überladen usw. sind. Wer schon mal in der Haiku-Jury saß, im ersten Durchgang munter drauf los gepunktet hat, um dann in der zweiten Runde zu erkennen, dass die beiden anderen bei manchen Texten zu einem völlig anderen Ergebnis gekommen sind als man selbst, weiß auch, dass jurieren kein Zuckerschlecken ist und man schon gern mal die Flinte ins Korn wirft, wenn die beiden anderen mit starken Argumenten darauf hinweisen, dass man selbst eigentlich nur Quark von sich gegeben hat. In Wirtshäusern kann man bei fortgeschrittener Stunde schon mal hören, dass jemand mit Gewalt schön getrunken wird. Bei einem Haiku gelingt das in der Regel nicht. Die Sachlage bleibt also weiterhin unübersichtlich, weil Haiku auch oft eine Geschmacks- und Verständnisfrage sind und mindestens 40 % dieser Kriterien in die Wertung einfließen. Das vorliegende Haiku habe ich nach allem Für und Wider mit 3 von 5 möglichen Punkten bewertet. Der Weg dahin ist mir nicht leicht gefallen. Wenn Sie wollen, lade ich Sie ein, mir auf der Achterbahn meiner Überlegungen zu folgen…..

Das Haiku ist eines, auf das ich zunächst nachdenklich reagiere, weil das Bild durchaus auch dazu geeignet ist, sich des eigenen Alterns und der damit verbundenen Schrulligkeiten oder auch seiner gewissen Alterssturheit bewusst zu werden, um keine anderen denkbaren Begriffe zu bemühen . Da kämmt sich jemand mit einem alten Kamm, der als noch brauchbar angesehen wird, weil nur ein paar Zähne fehlen und dadurch die Funktionstüchtigkeit des ansonsten noch tadellosen Geräts nicht sonderlich eingeschränkt ist. Aber: Ist es ein Protest-Haiku gegen die Wegwerfgesellschaft oder eines, welches die Misere von am Existenzminimum lebenden Menschen aufzeigen möchte, die sich halt nicht anderes mehr leisten können? Ist es ein Depressions-Haiku, das nur traurig stimmen und unser Mitgefühl wecken soll? Oder ist eher ein humoriges, von Selbstironie geprägtes oder eines, in dem ein schon zu oft geschildertes Bild aufgegriffen wird, um auch die Stimme der anderen Juroren zu skizzieren? Am wahrscheinlichsten erscheint mir dann doch wieder die Szenerie des Alterns, das Hängen an den gewohnten Dingen, ein Verhalten das meistens mit einem „Geht doch noch“ betont wird. Ich bin unschlüssig, vielleicht auch deswegen, weil ich keinen Kamm, sondern die Haare in der Regel mit den Händen glatt zu streichen versuche, wenn ich die Bürste mal wieder nicht finde, aber die uralte Trainingshose mit dem Loch in Höhe des Knies um keinen Preis in die Tonne haue, weil sie aus meiner Sicht für „Zuhause“ oder den „Garten“ noch völlig ok ist. Die Problematik scheint mir vertraut, ohne mich jedoch deswegen als Clochard sehen zu wollen. Das Haiku besitzt diesen von mir auch sehr geschätzten Hauch von Melancholie, der sich mir jedoch nur vordergründig vermittelt, weil ich nach mehrmaligem Lesen immer wieder in die Falle tappe, dem Text eine völlig andere Wendung zu geben. Während ich bei diesem Gedanken bereits bei Haiku Nr. 145 gelandet bin, rutscht mir plötzlich das Cent-Stück doch noch durch die Gehirngänge…..

Hausfrauen haben in der Regel mindestens noch einen Trick in der Hinterhand, wenn das Essen leicht versalzen ist oder sich die Sahne trotz des bereits heiß gelaufenen Stabmixers partout nicht richtig steif schlagen lassen will. Leser kommen oft auf Ideen, die möglicherweise den umgekehrten Weg gehen: etwas durchaus Passables mit einem gemeinen Dreh ins Absurde zu katapultieren. Während ich darüber nachgrübele, kommt mir der Gedanke, dass dieser Text zwei Lesarten ermöglicht und man im Handumdrehen damit auch eine Prise Lachen vermitteln könnte, obwohl ich mir nahezu sicher bin, dass meine nachfolgende Interpretation bei der Autorin nur ein fassungsloses Kopfschütteln hervorrufen wird. Vielleicht haben Sie sich ja bereits nach der Überschrift gefragt, aus welchen Beweggründen ausgerechnet dieser Text so langatmig kommentiert wird, weil doch im Grunde genommen daran kein Haar in der Suppe zu erkennen ist. Ich denke, weil sich daran doch so manches Problem aufzeigen lässt, ich aber nicht weiß, ob ich damit richtig liege und es wichtig wäre dazu auch die Meinung der Leser zu hören.

Was ist also der aus meiner Sicht über den Inhalt hinausgehende Haken an genau diesem Haiku? Lassen Sie es mich noch einmal verkürzt vorlesen:

Morgentoilette

ein paar Zähne fehlen

Sie sollten den Text einfach nur bis zu diesem Stand der Dinge aufnehmen und in der nun bewusst gesetzten zweiten Atempause auf der Zunge zergehen lassen. Zumindest ich denke dabei an die Beschreibung einer nächtlich vorausgegangenen Wirtshauskeilerei, die wir uns klischeehaft in Bayern vorstellen sollten, von wo dergleichen Geschichten ja zumindest aus einem anderen Jahrhundert immer wieder berichtet werden, dort wohl der Mentalität entsprachen, zwar oft mit Schrammen und größeren Verletzungen einhergingen, nach den Worten der Chronisten danach aber meistens gütlich geregelt wurden. Und wenn auch Sie jetzt zumindest ein kleines Zucken der Mundwinkel registrieren, ist der beabsichtigte Zweck erfüllt. Ihre Aufmerksamkeit sollte auf die Gefahren der Wortwahl (Kämme haben nach meinem Wissen Zinken und zeigen keine Zähne) und die Möglichkeit einer in die falsche Richtung laufenden Interpretation beim Vorlesen aufmerksam machen, was ein Haiku manchmal in den Bereich der Comedy rücken und durch die letzte Zeile dann kaum noch zu retten ist, weil der Leser nach einem eventuellen Schmunzeln zwar noch das Wort Kamm registriert, im Kopf aber möglicherweise die Kehrtwende nicht mehr hinbekommt, dass etwas völlig anderes als ein Witz beabsichtigt war, obgleich ich die humorigen fastg noch mehr schätze als die mit einer gewissen Tristesse.

„Ach so“, werden Sie jetzt sagen und enttäuscht sein oder wenigstens um des Effekts willen ein wenig Fröhlichkeit in sich verspüren oder sich ärgern, mir auf den Leim gegangen zu sein und protestieren: „Wie ein Haiku plötzlich da steht, wenn man dieses wider besseres Wissen bewusst falsch liest.“

Das von mir vielleicht völlig zu Unrecht herausgearbeitete Malheur kann auch durch die fehlende Zeichensetzung zu zwei unterschiedliche Lesearten herausfordren, wenn keine Absichtshaltung unterstellt wird, es mit Gewalt so lesen zu wollen, wie ich es getan habe. Aber auch das ist in Haiku-Kreisen ein kontrovers diskutiertes Thema. Groß- oder Kleinschreibung, Punkt oder Komma oder doch nicht, alles steht auf dem Prüfstand. Eine Umstellung der Zeilen 2 und 3 könnte ebenfalls dazu beitragen, die Gefahr der Verballhornung zu vermeiden, obwohl ich nicht weiß, inwieweit Haiku-Puristen dem zustimmen würden, weil dadurch das Überraschungsmoment bereits vorweggenommen wird, selbst wenn mir bei der Morgentoilette neben den bereits genannten „Zähnen“ (worunter ich natürlich trotz des oben gemachten Einwands selbstverständlich auch die des Kamms verstehe), außer dem Kamm höchstens noch ein im Wasserglas liegendes Gebiss einfallen will, was dem Haiku dann aber ebenfalls nicht gerecht werden dürfte….. Wie viele Punkte hätten Sie aus welchen Beweggründen vergeben, wenn Sie in der Jury gesessen hätten?

Die Auswahl

Bach

die Orgel ächzt

in den Fugen

 

Johannes Ahne

Blühende Hecke –

mein Schatten badet

im Duft

 

Christa Beau

dichte wolken

schieben nach süden

ein asternblau

 

Simone K. Busch

Schneesturm …

wir stechen die Zeit

aus dem Teig

 

Simone K. Busch

im Büro

das Passwort

am Strand

 

Ralf Bröker

herbststurm –

der geordnete geruch

des holzstapels

 

Bernadette Duncan

Abschied.

Ein letzter Blick zurück –

Silberpappeln im Wind

 

Roswitha Erler

früher Morgen

ein ferner Zug zieht einen

Gedankenstrich

 

Gerda Förster

Strand-Restaurant.

In den vielen Fenstern zerstückelt

das Meer.

 

Volker Friebel

Bergvögel.

Wir steigen zu den Wolken

hinab.

 

Volker Friebel

Bunkerreste

Im Schatten hoher Pinien

spielen Männer Boule

 

Hans-Jürgen Göhrung

Herbstspinne

lautlos bewegt sich

der Nebel

 

Hans-Jürgen Göhrung

Morgennebel –

Fischerboote unterfahren

die Stille

 

Martina Heinisch

Sudoku –

ein Pfauenauge setzt sich

aufs O

 

Martina Heinisch

Morgendämmerung.

Das erste Bild des Tages

Fast ohne Farbe.

 

Eve Marie Helm

Ein Bett aus Papier

fand die Katze für ihren Wurf,

Zerstörte Lyrik

 

Eve Marie Helm

Nachsommer …

in ihrem Lächeln wohnt

das Schweigen

 

Ilse Jacobson

auf dem Klavier

der Frühling stolpert

beim hohen c

 

Silvia Kempen

Distelblüten

in seinen Augen weitet sich

der Himmel

 

Silvia Kempen

im Herrensalon

das Zwitschern der Schere

– sonst Stille

 

Elisabeth Kleineheismann

Morgentoilette

ein paar Zähne fehlen

im alten Kamm

 

Elisabeth Kleineheismann

föhnwetter –

der schneemann

nicht in form

 

Gérard Krebs

notausgang –

über der großstadt

der blaue himmel

 

Gérard Krebs

dunkle Rosen –

das Lächeln stimmt unser Schweigen

 

Ramona Linke

Abendamsellied –

wir schöpfen Wasser

aus dem alten Kahn

 

Ramona Linke

Klassentreffen

die vertrauten Stimmen

der Fremden

 

Gabriele Reinhard

über dem Nebel

das Schloss – Vater will wissen

wer ich bin

 

Gabriele Reinhard

In der Kargheit

einer Astgabel

blieb ein Vogelnest

 

Maren Schönfeld

Im Herbstwind

Warten auf Post

Kein Blatt ist von dir

 

Angelica Seithe

Aus Kastanien

setzt sie ein Herz in den Sand

Das Brautpaar wartet

 

Hartmut Sörgel

stilles Land

ein Drosselschwarm

kalligraphiert

ins Grau

 

Helga Stania

af en toe een glimp

tussen de stapelwolken door

van wisselend licht

 

ab und zu ein Schimmer

zwischen Haufenwolken –

wechselndes Licht

 

Marie-José Van Uffelen

im letzten Moment

den Schritt verlängert –

ein Laufkäfer

 

Klaus-Dieter Wirth

unter Wolken
gen Süden
das V
schiebt die Ente
über den Teich

Ralf Bröker

Martinstag
Kinder mit Mondlaternen
singen Lieder
Der Alte am Tisch
ordnet sein langes Leben

Margareta Hihn

hangaufwärts …
den warmen glatten findling
berühren
wo sich zwei einst hielten
fährt herbstwind durchs dürre gras

Ramona Linke

Ein klarer Herbsttag
im Widerschein des Flusses –
wir sollen reisen
sagst du mir scherzhaft
wir denken an dasselbe

Dragan J. Ristić

Ferne Gipfel
in schimmerndem Rot
der Mond
und die zwei auf der Bank
wollen sich nicht trennen

Helga Stania

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