Es wurden insgesamt 208 Haiku von 74 Autoren und 50 Tanka von 21 Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Oktober 2023. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert.

Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, inklusive die Foren auf HALLO HAIKU, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte keine Simultan-Einsendungen!

Bitte alle Haiku/Tanka unbedingt gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite HALLO HAIKU selbst eintragen: https://haiku.de/haiku-und-tanka-auswahl-einreichen/

Ansonsten per Mail an: auswahlen@sommergras.de

Der nächste Einsendeschluss für die Haiku-/Tanka-Auswahl ist der 15. Januar 2024.

Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.

Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der DHG-Haiku-Agenda, auf http://www.zugetextet.com sowie für eine mögliche Vorstellung auf der Website der Haiku International Association.

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Frank Sauer, Angelica Seithe und Klaus-Dieter Wirth. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Texte – 47 Haiku von 35 Autoren – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden maximal zwei Haiku pro Autor aufgenommen.

„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren. Diesmal wurden fünf Haiku ausgewählt.

Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken. Kontakt: peter.rudolf@dhg-vorstand.de.

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

Jumpin’ Jack Flash
kerzengerade sitzt sie
im Pflegebett

Martin Berner

Vorausgesetzt der fremdsprachige Einstieg mit seinem kulturhistorisch-lan­deskundlichen Hintergrund versperrt nicht grundsätzlich den Zugang, eröffnet sich hier ein in vielerlei Hinsicht überzeugendes Haiku.

Sein Ausgangspunkt ist der Titel eines Rocksongs der britischen Band The Rolling Stones aus dem Jahr 1968, eines ihrer international erfolgreichsten. Jumping Jack steht im Englischen zunächst für das Kinderspielzeug eines Hampelmanns; Flash in diesem Zusammenhang wohl für eine Einblendung, wie etwa im Radio oder Fernsehen. Andererseits ist Jack auch ein Slang-Ausdruck für Heroin. Allerdings dementierte Keith Richards, der E-Gitarrist der Gruppe, später in seiner Autobiografie, dass der Songtitel „Heroinrausch“ bedeuten würde. Tatsächlich ginge er auf den Namen des Gärtners in seinem Landsitz zurück. Andererseits erläuterte der Frontmann der Gruppe, Mick Jagger, der Text sei für ihn damals „nur eine Metapher gewesen, aus all dem Drogenzeugs rauszukommen“. Wie dem auch sei, es handelt sich um einen Song, der zweifelsohne eine ganze Generation begleitet hat!

(Aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Jumpin%E2%80%99_Jack_Flash vom 18.10.2023)

Mit Blick auf die allgemeine Struktur eines Haiku ist bei dieser ungewöhnlichen ersten Zeile außerdem bemerkenswert, dass sie dergestalt nicht nur ihrer Orientierungsfunktion im Sinne einer situativen Zuordnung gerecht wird, sondern zugleich selbst einen wesentlichen Bestandteil des gesamten Kurzgedichts ausmacht, also fern von dem Charakter einer mehr oder weniger bloßen Überschrift. Damit befinden wir uns sogleich im zentralen Geschehen: ein Oldie weckt spontan die Lebensgeister einer ganz offensichtlich älteren, dazu schon bettlägerigen Musikliebhaberin, womit bereits die Kernaussage vorliegt! Doch wie nun diese aufbautechnisch zur Geltung gebracht wird, das verdient höchstes Lob! Nur selten werden nämlich derart viele Aspekte erfasst, wie sie als Thema meiner „Grundbausteine des Haiku“ herausgearbeitet wurden.

Neben dem schon genannten Ansatz des kulturhistorisch-landeskundlichen Hintergrunds kommt nämlich mit der Schlussäußerung „im Pflegebett“ auch das so wichtige Überraschungsmoment hinreichend deutlich zum Zuge. Weiterhin wird auf eine markante Kontrastierung zurückgegriffen, die von Jugenderinnerungen und Gebrechlichkeit, verstärkt durch die bittere Ironie, dass der Hampelmann sich durchaus behände bewegen kann – „to jump“ heißt zunächst sogar „springen“ –, während die betagte Dame offensichtlich höchstens imstande ist, sich in einer geraden Sitzposition aufzurichten. Ganz auf dieser Linie spielt natürlich auch die Emotionalität eine prägende Rolle. Schließlich tritt uns hier noch ein Beispiel für den menschlichen Bereich entgegen, letztlich dennoch wiederum eingebunden in die allgemeine Naturgesetzmäßigkeit von Leben und Tod mit der gewissen Wehmut und Akzeptanz des natürlichen Kreislaufs, wie sie so kennzeichnend für die japanische wabi-sabi-Ästhetik sind, die Wertschätzung der Einfachheit, der Unvollkommenheit und des Alterns. Genügend Anhaltspunkte, um auch den gewünschten Nachhall (yoin) beim Leser zu gewährleisten.

Schlussendlich weiß dieses Haiku im Einklang mit diesen Strukturelementen ebenso durch seine ausgewogene äußere Form im Rhythmus von nur 4-7-4 Silben zu gefallen. Dazu wird die übliche Zäsur mit ihrer inhaltlichen Zweiteilung in der Folge allein schon durch die Zweisprachigkeit bei der Gesamtanlage des Textes generiert. Ein rundum gelungenes Haiku!

Ausgewählt und kommentiert von Klaus-Dieter Wirth

 

am Seeufer
nachdenken über uns –
schwankende Halme

Horst-Oliver Buchholz

Der Ort: Ufer eines Sees. Hier sitzt in meiner Vorstellung ein Paar. Der Blick auf den See, die Weite, die Ruhe, vielleicht auch die Bewegtheit der Wellen, geben Anlass, über die eigene Beziehung nachzudenken: „über uns“. Soweit die Eingangsszene. Und jetzt (in der dritten Zeile) kommt Entscheidendes: „schwankende Halme“. Jetzt tritt die Natur in Austausch mit dem, worüber die beiden nachdenken. Und mehr noch, sie drückt etwas Wesentliches aus: das Schwanken, die Ambivalenz, die Unsicherheit, das Hin-und-Her zwischen Gefühlen, das Schwanken der Bezogenheit – vielleicht der Liebe. Nicht zu vergessen, dass im Schwanken der Halme auch etwas lebendig Bewegtes vermittelt sein kann. Wehende, hohe Gräser zumindest haben oft einen sinnlichen Aspekt.

Das Haiku eröffnet mit wenigen Worten – sprachlich, rhythmisch ausgeglichen – die Welt einer Beziehung, wie sie im Augenblick vom Autor des Textes empfunden wird. Vielleicht ist der Autor auch allein am See und denkt nach über seine Beziehung. In jedem Fall treten Natur und Mensch in einen Bezug zueinander. Die Natur wird zum poetischen Medium für das, was sich im menschlichen Bereich ereignet. Sie wird zum Spiegel der Befindlichkeiten. Sie kommentiert, was die beiden bewegt. Ihre Wahrnehmung, das Schwanken der Halme, führt beim Verfasser des Haiku zur verdichteten Erkenntnis über sich selbst und seine Gefühle.

Das Haiku sagt nicht, worüber nachgedacht wird, kein Wort über die Qualität des Bezogenseins. Allein die simultane Wahrnehmung der Natur – sprachlich ausgedrückt durch Nebeneinanderstellung (Juxtaposition) – verrät, worum es gehen mag: das Schwanken. Die schwankenden Halme geben den Ausschlag. Sie bilden die Brücke zu den im Fokus stehenden Gefühlen und Gedanken „über uns“.

Zugleich vervollständigen die Halme das Naturpanorama am See, sind Teil einer gegenwärtig sinnlich erlebten Landschaft. Sie tragen bei zu szenischer Einheit. Nichts fällt auseinander (auch die Beziehung nicht). Ein kleiner Kosmos, Mensch und Natur – ein Haiku eben. Das sehr gelungen ist.

Ausgesucht und kommentiert von Angelica Seithe

 

Septembermond –
über den Fluren
ein Duft von Licht.

Reinhard Dellbrügge

In diesem Fall tritt uns ein Haiku entgegen, das schon von vornherein durch seine atmosphärische Verdichtung geradezu betört. Poesie qua Poesie!

Gleich die erste Zeile gibt perfekt verknappt den stimmungsvollen Rahmen vor: die Jahres- sowie die Tageszeit. Daran angeschlossen macht gleich ein Gedankenstrich seinem Namen alle Ehre, hält er doch zum Innehalten, zum Sich-Zeit-Lassen an, damit die als außergewöhnlich empfundene Situation auch als solche genügend wahrgenommen werden kann. Nun erst verengt und weitet sich der Blick zugleich vom kosmischen in den irdischen Bereich. Zum Glück allerdings nicht zu sehr! Kein Heranzoomen nämlich, kein Fokussieren auf ein einzelnes Phänomen, etwa einen Gegenstand. Schon die gleich nachfolgende Präposition „über“ verweist in diesem Sinne eher auf eine Zwischenwelt. „Fluren“, die Bezeichnung für ein Wiesengelände; doch welch ein unvergleichlicher poetischer Klang gegenüber seinem profanen Pendant! Allein das langgezogene „-u-“ dehnt und verklärt, nimmt ganz für sich ein, beansprucht folgerichtig auch die ganze Zeile für sich! Dann erst kommt es in der dritten Zeile zu einem neuen Anlauf, zum Versuch, die besondere Aura dieses Erlebens in vollem Umfang zu erfassen. Wäre es in diesem Zusammenhang nur bei der üblichen, zu erwartenden visuellen Beschreibung geblieben, etwa als „ein Hauch von Licht“ oder „diffuses Licht“, hätte diese exquisite Wahrnehmungserfahrung sicherlich ihren erlesenen Charakter eingebüßt. Zwar verbleibt der Autor mit seiner näheren Kennzeichnung durch „Duft“ und „Licht“ in der schwebenden Sphäre von Abstrakta, doch vermeidet er geschickt ein Abgleiten ins abgegriffene Klischee, indem er sich dem Stilmittel der Synästhesie zuwendet, vom Optischen ins Olfaktorische hinüberwechselt, wobei der bloße Geruch in Verbindung mit dem Positivum „Licht“ zugleich zum „Duft“ geadelt wird, dessen Assonanz dazu unmittelbar auf die Fluren zurückgreift und sie in ihrer Bedeutung spezifizierend noch verstärkt.

Im Endeffekt ein Produkt voller Poesie, das auch den formalen Ansprüchen ganz und gar genügt mit seiner knappen, prägnanten Sprache, bestehend aus nur 13 Silben in 8 Wörtern; ein Produkt, das außerdem keinerlei verbale Verrenkungen, Aufpolsterungen oder unnatürliche Zeilensprünge aufweist. Alles stellt sich vielmehr in einem ebenso klaren wie leichten, rhythmischen Gerüst dar. Einzig störend erscheint am Ende der Punkt, da er einen Abschluss signalisiert, wo doch die Betonung der absoluten Offenheit bei diesem ganz und gar atmosphärischen Bild viel angemessener gewesen wäre.

Ausgesucht und kommentiert von Klaus-Dieter Wirth

 

Regennacht
im Fenster
mein Tränengesicht

Frank Dietrich

Auch dieses Haiku reizt zum Kommentieren. Kein Wort von Spiegelung. Aber man versteht sofort: Es ist Nacht, draußen regnet es, drinnen ist Licht, jemand sitzt am Fenster. Sein Gesicht spiegelt sich in der Scheibe.

Das „Tränengesicht“ gibt der Szene den besonderen Dreh. Es macht aus der Situation etwas Einsames, Trübsinniges. Der Mensch könnte geweint haben oder noch weinen. Und er könnte sein tränenverhangenes Gesicht im Spiegel der nächtlichen Fensterscheibe sehen –, während der Regen seine traurige Stimmung untermalt.

Aber so muss es nicht sein. Der Regen rinnt außen an der Scheibe, rinnt über sein Spiegelbild, sodass es aussieht, als sitze er da, von Tränen überströmt. Diese kleine Unklarheit macht den Reiz des Haiku aus. Der Text bleibt in seiner Aussage offen. Weint die Person, oder weint nur scheinbar ihr Spiegelbild?

Aber der Autor – davon bin ich überzeugt – wird sein „Tränengesicht“ im Fenster nur dann entdecken (vorausgesetzt er erlebt die Szene spontan), wenn er sich latent traurig fühlt, ihm also – vielleicht sogar unbewusst – zum Weinen zumute ist. Nur dann verdichtet sich der wahrgenommene Eindruck aus der Natur mit der aktuellen Befindlichkeit des Wahrnehmenden. Nur so, durch die Präsenz eines starken Gefühls, entsteht verdichtete Fantasie. Nur so kann der Eindruck „Tränengesicht“ in ihm auftauchen, wo er doch in Wirklichkeit nur die Regenrinnsale an der ihn spiegelnden Scheibe sieht.

Das ist Dichtung – kein Anlass zur Traurigkeit – im Gegenteil: toll!

Ausgesucht und kommentiert von Angelica Seithe

 

Sommerurlaub
sie sucht die Liebe
in Büchern

Marie-Luise Schulze Frenking

Ein Haiku, das mich sofort mitgenommen hat, in das ich hineingesprungen bin wie in einen Badesee. Denn gleich in der ersten Zeile wird die Jahreszeit direkt benannt und öffnet mir alle Räume zum Meer, in die Berge oder auf einen Liegestuhl im Garten. Der zweite Teil des Kompositums ist ebenfalls positiv konnotiert: Urlaub! Diese kurze Auszeit vom Alltag verspricht Entspannung, Sorglosigkeit und wohlmöglich neue Erfahrungen mit anderen Menschen an einem unbekannten Ort.

Doch von einem bestimmten Ort ist in diesem zwölfsilbigen Haiku keine Rede, denn der Leseort ist überall. Und so werde ich im mittleren Vers überrascht: Es folgen keine Momentaufnahmen von Urlaubsklischees! Denn eine „Sie“ sucht das am häufigsten genannte, besungene, beschriebene und im besten Fall erlebte Gefühl der Welt: die Liebe, das überzeitliche und alle Kulturen durchziehende Thema in allen künstlerischen Ausdrucksformen.

Die größere Überraschung erfolgt dann haikugemäß im Schlussvers: Eine Frau sucht die Liebe nicht etwa am Strand, in einem Club oder im Netz, sondern in der Welt der Literatur. Erwartet sie, dass sie diese nicht näher bestimmte Liebe tatsächlich in Texten findet, oder durchzieht das Haiku nicht eher ein Hauch von Melancholie, weil das reale Leben für sie die Liebe noch nicht oder nicht mehr bereithält und nur noch über die literarische Vermittlung und die davon angestoßenen Fantasien erfahrbar wird? Oder einfach nur, weil es so schön ist, sich gemeinsam mit den Protagonisten in einem Buch wohlig in leidenschaftliche, hingebungsvolle Beziehungen zu stürzen? Weil in der gegenwärtigen Welt zu viel Bedrohliches geschieht, und dann, zu Recht zwar, aber zu massiv auch in die Literatur hineinwirkt?

Hier nun in einem Dreizeiler, bestehend aus einem Wort und einem lakonisch formulierten Aussagesatz, ein Stück Weltflucht, die „erlaubt“ ist – im Urlaub, in einem Zeitfenster, das für den Liebeslesegenuss geöffnet bleibt. Wie dieses Haiku – gegenwärtig, konkret und wunderbar offen.

Ausgesucht und kommentiert von Frank Sauer

 

Die Auswahl

auf dem hotelsims
ein vogelnest – keine chance –
das fenster bleibt zu

Sylvia Bacher

im morgengrauen
der gesang der amsel
glocken fallen ein

Sylvia Bacher

Sommertag
die Frische des Sees
im Badeanzug

Christa Beau

Spaziergang
ihr Kleid führt die Farben
des Sommers aus

Christa Beau

Liebeskummer
Oma wirft ein Stück Zucker
in meine Limo

Daniel Behrens

Jumpin’ Jack Flash
kerzengerade sitzt sie
im Pflegebett

Martin Berner

am Seeufer
nachdenken über uns –
schwankende Halme

Horst-Oliver Buchholz

Männerfreundschaft
wir schweigen gemeinsam
ins leere Glas

Horst-Oliver Buchholz

an der Reling
meine Brust so weit
wie das Meer

Stefanie Bucifal

Kintsugi –
ich beginne noch einmal
von vorn

Stefanie Bucifal

Langer Zeiger tickt
wieder und wieder
die gleiche Sekunde

John Paul Caponigro

Radtour –
wie eine Klette
der streunende Hund.

Reinhard Dellbrügge

Septembermond –
über den Fluren
ein Duft von Licht.

Reinhard Dellbrügge

Regennacht
im Fenster
mein Tränengesicht

Frank Dietrich

Meditieren
Im Ticken der Küchenuhr
Das Notebookgebläse

Hartmut Fillhardt

im Ostwind
der Tanz des Baukrans
kalte Choreographie

Norbert Flemming

Pinie am Meer.
Den Wellen lauschen,
ein Leben lang.

Volker Friebel

Das Kalb leckt meine Hand
ob es weiß
dass ich Vegetarier bin

Dieter Gebell

Herbstblätter
in Zwiesprache mit dem Wind –
das Kind allein
Helga Maria Gorfer

vogelzug
aus dem krieg
in den krieg zurück

Alexander Groth

der Mönch sitzt
in der Stille
flackert ein Licht

Claus Hansson

sich füllender Priel
zärtliche Berührung
von Land und Meer

Sylvia Hartmann

Herbstfrühe
beinahe überfahren
den Schatten einer Krähe

Angelika Holweger

Überm Korb hängt die
Pfote zum Gruß.
Wortlose Nähe.

Saskia Ishikawa-Franke

Du –
zwei Buchstaben füllen sich
mit Verlangen

Klaus Kornexl

Nach seinem Tod
die Grillen im Garten
lauter als sonst.

Moritz Wulf Lange

Sommerferien –
die Katze des Nachbarn wird
jeden Tag dünner.

Moritz Wulf Lange

Herbstnebel
sie rahmt ihr erstes Aquarell
Mandelblüten

Ruth Karoline Mieger

Kinderlachen
über drei Etagen
der Duft von Zimtwaffeln

Ruth Karoline Mieger

Pilgerweg
er zählt die Ringe
am gefällten Baum

Eleonore Nickolay

Rush Hour
nur die Fliege findet
einen Sitzplatz

Eleonore Nickolay

Er küsste Kirschblüten,
nun jagt er das Laub –
derselbe Wind

Heidelore Raab

Mein Sommerfreund –
längst verstummt
sein zärtliches Zirpen

Heidelore Raab

Leise Musik
Auf dem Sarg flackert die Kerze
im Klang der Stille

Bernd Reklies

große Schneeflocken –
hinter dem Fensterglas
zwei Kinderköpfe

Dragan J. Ristić

Eifel – Heimatdorf
eine Senegalesin
zeigt mir den Weg

Rita Rosen

Tag der Einheit
An der Mauer zerfetzte
Wahlplakate

Michael Rasmus Schernikau

heroine heart
die junge frau löffelt
ihre flamme

Annika Carmen Schmidt

am Traumstrand
angespült
die Rettungsweste

Marie-Luise Schulze Frenking

Sommerurlaub
sie sucht die Liebe
in Büchern

Marie-Luise Schulze Frenking

flügelfleck
eines weißlings
tagmond

Helga Stania

grenzenlos vereint
Straße und Landschaft nach dem
Wintereinbruch

Brigitte ten Brink

Weihnachtsabend
der Himmel hell erleuchtet
über dem Flugplatz

Brigitte ten Brink

Ein Auge offen
Mama will nicht loslassen
auf dem Sterbebett

Jennifer H. Weber

Bilder an der Wand
die alte Dame spricht
über ihren Sohn

Jan Weck

Abendstimmung
die leisen Diskussionen
der Boulespieler

Friedrich Winzer

Vorsorge
Omas gestrickte Socken
für zwei Leben

Friedrich Winzer

 

Tanka-Auswahl der HTA

Silvia Kempen war diesmal Allein-Jurorin. Sie wählte 9 Tanka von 7 Autoren aus.

„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – hier wird diesmal ein Tanka vorgestellt und kommentiert.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

nie
habe ich vergessen
es mitzunehmen
mein Holzpferd
in den Luftschutzkeller

Friedrich Winzer

Es wird nicht direkt bezeichnet, aber das Tanka scheint von dem Erlebnis eines Kindes zu handeln.

„nie“, nur ein Wort, nur eine Silbe in der ersten Zeile – das verstärkt die Tatsache, dass das Holzpferd nicht ein einziges Mal vergessen wurde. Es muss für das Kind von großer Bedeutung gewesen und es muss sehr geliebt worden sein. Vielleicht ein langersehntes Geschenk oder das Geschenk einer für das Kind wichtigen Person. Im Hinblick auf die letzte Zeile vielleicht sogar von einer Person, die im Krieg kämpft oder verstorben ist.

Viel kann man in den Luftschutzkeller nicht mitnehmen, nur das Nötigste bzw. Wichtigste. Für das Kind ist es das Holzpferd. Ich kann mir vorstellen, dass dieses Holzpferd das Kind ein Leben lang begleitet.

Ausgewählt und kommentiert von Silvia Kempen

 

 Die Auswahl

frei
wie Luft
bevor sie Atem wird
in meinen Tiefträumen
bin ich Fisch und Vogel

Stefanie Bucifal

Ein Leben lang
galt ihre Liebe dem Meer.
So viel Sehnsucht
lag in den Möwenschreien
als sie noch jung war

Reinhard Dellbrügge

einmal möchte ich
eine Sternennacht so sehen
wie van Gogh
doch ich fürchte es würde mich
mein Ohr kosten

Frank Dietrich

Pfifferlinge
Blattspinat und Wildlachs – dazu
ein Sauvignon Blanc …
„Liebe geht durch den Magen“
sagst du und servierst den Nachtisch

Gabriele Hartmann

wie wir uns auch
drehen und wenden
es bleibt unklar
wer die Führung übernimmt
bei diesem Tango

Gabriele Hartmann

neben dem Bach
umgestürzte Bäume
das Wasser fließt
in Gedanken beim Spiel
mit den Enkeln – Mikado

Helga Schulz Blank

auf dem Bauch liegen
und von Bullerbü lesen
in der Sonne
die den Wohnzimmerteppich
warm leuchten lässt

Marie-Luise Schulze Frenking

eine alte Dame
am Fahrscheinautomaten
schüttelt den Kopf
schaut sich bedächtig um
und tritt zu

Friedrich Winzer

nie
habe ich vergessen
es mitzunehmen
mein Holzpferd
in den Luftschutzkeller

Friedrich Winzer

 

 

Sonderbeitrag von Brigitte ten Brink

spatzenkinder
quirlig auf der pergola
zipp zipp zack weg 

Johann Reichsthaler

Schon beim ersten Überfliegen der 208 für die HTA eingereichten und von Peter Rudolf anonymisierten Haiku forderte dieses Haiku meine Aufmerksamkeit. Ich las es ganz spontan ein zweites Mal. Natürlich fand ich dann beim gründlichen Lesen viele weitere Haiku, die ich für gelungen halte. Doch sowohl in meinem Kopf als auch in meinem Herzen hatte sich dieses Haiku, um im Vogelbild zu bleiben, eingenistet. Wieso, weshalb, warum? Diesen Fragen möchte ich nun auf den Grund gehen.

Zuvorderst war es wohl das Bild des auffliegenden Spatzenschwarms, das sich sofort beim Lesen sehr eindrücklich einstellte. Der Schwarm der Spatzen erinnerte mich an Kinder, die Verstecken spielen. Kaum hat sich dasjenige, das suchen muss, umgedreht und beginnt zu zählen, stieben die an­deren – zipp zipp zack weg – auseinander, um ein Versteck zu finden. Und genau wie die Spatzen, die sich nach einer Weile wieder versammeln, kehren die Kinder nach und nach an den Ausgangspunkt zurück, sei es, weil sie gefunden wurden oder weil sie sich freischlagen konnten.

zipp zipp zack weg könnte auch der Abzählreim zu Beginn des Spiels sein, der den ersten Sucher bestimmt, und es gibt den Moment des mit lautem Tschilpen begleiteten Auseinanderwirbelns auf sehr schöne, lautmalerische Weise wieder.

Von Bedeutung für mich ist in diesem Zusammenhang auch die Tradition, in der dieses Haiku steht. Es sind die Haiku Issas, der immer wieder ein Augenmerk auf die kleinen Dinge im Leben hatte. Seine Tier- und besonders seine Spatzen-Haiku kamen mir beim Lesen unweigerlich in den Sinn:

In Teestrauchblüten
Sich im Versteckspiel üben
Die kleinen Spatzenkinder

Issa*

Die Spatzenkinder
Sehr rasch begriffen haben
Wie man verschwindet

Issa**

Dieses von mir gewählte Haiku ist voller Lebendigkeit, voller Leben und einer ganz ursprünglichen Lebensfreude. Daran einen Moment lang erinnert zu werden, in einer Zeit, in der die Welt von Gewalt und Leid beherrscht wird, tut einfach gut.

*Zitiert aus „Haiku – Japanische Dreizeiler“ ausgewählt und übersetzt von Jan Ulenbrook. Reclam 1995. ISBN 978-3-15-0094-00-6, S. 62

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