Es wurden insgesamt 239 Haiku von 86 Autoren und 34 Tanka von 19 Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Januar 2020. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert. Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll. Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, sozialen Medien und Werkstätten etc.).
Bitte keine Simultan-Einsendungen!
Bitte alle Haiku/Tanka gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite selbst eintragen:
deutschehaikugesellschaft.de/haiku-und-tanka-die-auswahl/
Ansonsten per E-Mail an: auswahlen@deutschehaikugesellschaft.de
Der nächste Einsendeschluss für die Haiku-/Tanka-Auswahl ist
der 15. April 2020.
Beachten Sie bitte folgende Änderung:
Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.
Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der Agenda 2021 der DHG sowie auf http://www.zugetextet.com/sowie für eine mögliche Vorstellung auf der Website der Haiku International Association.
Haiku-Auswahl der HTA
Die Jury bestand aus Marcus Blunck, Birgit Heid und Angelika Knetsch. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.
Alle ausgewählten Texte – 55 Haiku – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden maximal zwei Haiku pro Autor aufgenommen.
„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren.
Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken.
Eleonore Nickolay
Ein Haiku, das mich besonders anspricht:
Spurensuche
herausgetreten bin ich
die Stiefel zu kleinUte Kassebaum
Zwei Ebenen bietet mir dieses Haiku an: Einerseits liegt hier eine Szenerie vor, in der ein Kind (darauf deuten die kleinen Stiefel hin) zunächst seine Fußabdrücke mit denen eines Erwachsenen vergleicht. Spielerisch stellt es seine Füße in die Spuren, die sich vermutlich im Schnee abzeichnen, wann sonst sind sie deutlicher und interessanter? Dann versucht es, seine kleinen Schritte den viel größeren anzupassen. Natürlich kann das Kind nicht Schritt halten, zu groß sind die Abstände zwischen den einzelnen Abdrücken.
Andererseits entsteht hier das Bild eines erwachsenen Menschen, der, vielleicht bei Durchsicht alter Dokumente, feststellt, dass er in die Gepflogenheiten und Traditionen seiner Familie nicht hineinpasst. Vielleicht entspricht sein Beruf nicht den Erwartungen, vielleicht ist sein Lebenswandel ein anderer. Ein ganzes Repertoire an Floskeln hält die Gesellschaft hierfür bereit: Da versucht einer, „in jemandes Fußstapfen zu treten“, mit dem er aber „nicht Schritt halten“ kann. Und wenn es ganz schlimm läuft, dann ist er „neben der Spur“.
Das Holpern im Klang der zweiten Zeile, verursacht durch eine Partizip- Perfekt-Konstruktion, ist in diesem Fall nicht störend, sondern raffiniert eingesetzt, da es auch lautlich das Bild eines Menschen unterstützt, der mit den großen Schritten nicht mithalten kann und ins Straucheln kommt. Dass eben diese zweite Zeile nicht im Präsens verfasst ist, stört ebenfalls nicht, wird hier doch das zweite Bild unterstützt: Die Erkenntnis des Lyrischen Ichs, dass es nicht konform geht, erfolgt jetzt, in diesem Moment, in dem es seinen Werdegang mit dem seiner Familie vergleicht. „Herausgetreten“ ist es also in der Vergangenheit, trotzdem beschreibt das Haiku, liest man es auf diese Weise, einen gegenwärtigen Augenblick des Erkennens.
Die Erkenntnis, den Erwartungen der anderen zuwiderzulaufen, kann frustrierend und sogar niederschmetternd sein. Trost bietet dann vielleicht, die eigene Situation mit einem Bild aus der Kindheit zu vergleichen, das die meisten Menschen in sich tragen, wenn sie damals Spiele und Spuren im Schnee ausgekundschaftet haben – mit dem Bild, das am Anfang dieses Textes steht: Dem Kind, das aus der viel zu großen Spur heraustreten muss. Es geht eine Weile neben den Abdrücken der großen Schuhe her, dreht sich um und stellt fest: Direkt hinter ihm befinden sich Abdrücke, viel kleinere – aber es sind die eigenen.
Ausgesucht und kommentiert von Marcus Blunck
Nachbarwohnung
ihr erstes Weihnachten
vor dem FernseherDeborah Karl-Brandt
Die Häufung der Informationen irritiert zuerst ein wenig. Offenbar handelt es sich um eine nachbarschaftliche Beobachtung, die in Erstaunen versetzt. Kann sein, dass man durch das Fenster die Lichtreflexe des Fernsehers sehen kann, es ist jedoch auch denkbar, dass sich ein vorweihnachtliches Gespräch unter Nachbarn ergeben hat. Sie könnten erzählt haben, dass sie in diesem Jahr nicht mehr bei der Familie der Tochter Weihnachten verbringen können, weil sie fortgezogen ist. Oder dass sie wegen ihrer zunehmenden Versehrtheit die Verwandtschaft nicht mehr besuchen können. Es sind Nachbarn, deren Lebenswandel es mit sich bringt, dass sie nun vor dem TV das Weihnachtsfest verbringen. Anders könnte die Sache liegen, wenn man an ein junges Paar denkt, deren Eltern zu weit weg wohnen, das nun alleine Weihnachten verbringt und abends mangels Möglichkeit nicht mehr ausgeht. Oder aber junge Eltern, deren Kinder frühzeitig zu Bett gebracht wurden, und die Eltern an Heiligabend an die Wohnung binden. Oder handelt es sich um eine Witwe? Oder um Asylsuchende? Oder um Menschen, die sich mit ihren Familien zerstritten haben?
Die Fülle an Möglichkeiten kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Weihnachten vor dem Fernseher wahrscheinlich nicht das ist, was man sich von Weihnachten wünscht, dass das Fernsehprogramm eine Notlösung ist, sofern man überhaupt Weihnachten feiert und es daher überhaupt erwähnenswert findet. Ihr erstes Mal sagt aus, dass es früher vermutlich schöner war, unter Freunden oder in der Familie. Denkbar wäre jedoch auch, dass früher wegen der Andersgläubigkeit der nachbarlichen Asylsuchenden Weihnachten nicht gefeiert wurde. Ob ein Weihnachtsfest dann vor dem Fernseher besser ist?
In der Nachbarschaft hat sich jedenfalls eine Veränderung, vermutlich zum Schlechteren, ergeben. Wird die Beobachtung zunächst einmal nur ins Bewusstsein gerufen und notiert, verändert sie auch in meiner Vorstellung die Haltung des oder der Schreibenden. Im Aufschreiben der gar nicht so besonders erwähnenswerten Beobachtung – da ein harmonisches Familienweihnachtsfest mehr Illusion als Realität zu sein scheint – erfolgt eine Hinwendung zu den nicht genannten Personen, eine innere Nähe entsteht, ein Dabeisein und eine Hoffnung, dass zumindest das Fernsehprogramm nach ihrem Geschmack sein möge.
Ausgesucht und kommentiert von Birgit Heid
Meeting
sie begutachten
ihre SneakersFriedrich Winzer
Freitagnachmittagsmeeting einer größeren Abteilung. Der Konferenzsaal hat einen graublau gemusterten Teppichboden, die Wände sind einheitlich weiß und bis auf ein freundliches DIN-A2- Farbfoto der Firma schmucklos. Die Kollegen kommen zusammen und tauschen Oberflächlichkeiten aus. Dunkelblau gepolsterte Stühle werden zum Platznehmen zur Seite gerückt. Raumeinnehmend das große, weiße Tischoval. Getränkeflaschen und Gläser stehen in Gruppen auf Servietteninseln auf den Tischen. Kaffeekannen werden hereingetragen, die Tassen sind den Sitzplätzen zugeordnet, Milchdöschen und Würfelzucker stehen in Schälchen bereit. Zwanzig Kollegen nehmen ihre Plätze ein.
Doch die Abteilungsleiterin verspätet sich. Man beginnt zu plaudern, indem gemeinsame Gesprächsthemen gesucht werden. Der linke Nachbar berichtet von seinem letzten Schuhkauf und zeigt und bespricht die Vorzüge seiner neuen Edelsneaker, indem er sich mit dem Stuhl zur Seite dreht. Es handelt sich um Air Jordan 5 Retro WMNS „Iridescent Oil Grey” in dezentem Türkis, wie er erklärt. Sein rechter Sitznachbar trägt die Jordan Max 200 im „Super Bowl LIV“ Colorway. Die mehrfarbige Außensohle und die verblassten Farben auf dem Obermaterial erinnern ihn an Football-Spektakel. Ein weiterer Kollege mischt sich ein. Er liebt die Tom & Jerry x Reebok Instapump Fury OG, allerdings benutzt er sie wegen ihrer futuristischen Aufmachung nur in der Freizeit. Seine mausgrau dezenten Adidas Ultra Boost Uncaged zeigt und bespricht auch er mit zunehmender Leidenschaft. Die Chefin kommt, das Meeting beginnt. Unter den Tischen strecken sie ihre Beine nach vorne und bewegen öfter als sonst ihre Füße.
Ausgesucht und kommentiert von Birgit Heid
Vor einer weißen Wand
weiße Blüten.
Meine Heimatlosigkeit.Volker Friebel
Heimatlos sein, nirgendwo hingehören, sich anpassen und unsichtbar werden … trotzdem die eigene Kontur behalten. Sehr offen, poetisch, nachdenklich. Es berührt mich sehr.
frostige Frühe –
aus den Wurzeln der Eiche
steigt das MorgenrotAngelica Seithe
Zuerst sehe ich ein schönes poetisches Bild. Dann aber irritieren mich „Eiche und Morgenrot“, etwas zu patriotisch. Aber es überwiegt die Hoffnung … es kann gut werden.
Ausgesucht und kommentiert von Angelika Knetsch
Die Auswahl
grün drängt aus dem
orchideenstock – wird’s wurzel
oder blüteSylvia Bacher
Küstenweg –
ich eile zum Baumschatten
das Meer auchValeria Barouch
Haiku-Vortrag
ein Zuhörer schwärmt
von Schillers GlockeMartin Berner
heim von der Frauentagsdemo
liest sie
seine Socken aufMartin Berner
am Krankenbett
Großmutter operiert
den alten TeddyChristof Blumentrath
Kaffee mit Schuss
wir wechseln
die TonartChristof Blumentrath
nach Hause …
in den Feldern wächst
StilleHorst-Oliver Buchholz
vollkommener Tag
so blieb es leer
mein Blatt in der KladdeHorst-Oliver Buchholz
Beim Halleluja
aus dem Gesangbuch fällt
ein SterbebildchenHeiner Brückner
Sie nahm meine Hand
ganz fest –
am Tag davor.Werner Buschmann
Novemberreif –
das leise Knirschen des Grases
unter den Füßen.Reinhard Dellbrügge
Rauer Winterwind.
Ein Gelber Sack
überquert die Straße.Reinhard Dellbrügge
aus und vorbei
es fällt ein Vorhang
aus RegenFrank Dietrich
erster Schnee
das lange Warten
auf SchulschlussHildegard Dohrendorf
Winterstarre
aus Nachbars Kamin steigen
RauchzeichenSusanne Effert-Hartmann
kufenzerkratzt
scheint der wintermond
auf das eisHans Egerer
Vor einer weißen Wand
weiße Blüten.
Meine Heimatlosigkeit.Volker Friebel
Frühlingsgefühle
wie der Raps
schon verblühtWolfgang Gründer
Badegäste
am Sandstrand
RillenmusterWolfgang Gründer
Sommernacht
auf der Milchstraße
im StauTaiki Haijin
Siegerlächeln –
seine Zinnsoldaten
marschieren in den MüllTaiki Haijin
blaue Hyazinthen
im Traum noch
ihr DuftGabriele Hartmann
spielende Schatten
eine Tür
öffnet sichGabriele Hartmann
Welke Kränze
ein neues Licht
im NebelPetra Hodiamont
nach dem Großputz
im Waschbecken
ein SpinnenbeinAngelika Holweger
warum …
knete und knete –
noch ist der Teig kühlAngelika Holweger
Wintermond
Die Einladung zum Tee
unbeantwortetDeborah Karl-Brandt
Nachbarwohnung
Ihr erstes Weihnachten
vor dem FernseherDeborah Karl-Brandt
Spurensuche
herausgetreten bin ich
die Stiefel zu kleinUte Kassebaum
ein Ast knackt
in die große Stille –
WinterwaldGérard Krebs
Ende der Saison –
die Aushilfskellnerin
verscheucht die FliegenEva Limbach
Mettenschicht …
der Wind trägt den Geruch von KohlenfeuerRamona Linke
nach dem wortgefecht
die samtene stille des mondlichtsRamona Linke
Familienfeier
nach den Küsschen pudert sie
ihre WangenRuth Karoline Mieger
Museumsshop
Motivsocken van Gogh
zu großRuth Karoline Mieger
Familienfeier
im Stimmengewirr
fehlt eineEleonore Nickolay
Schneemond
es lichtet sich
ihr weißes HaarEleonore Nickolay
der waldsee
ein wind löscht
das bild der bäumeRené Possél
auf der spielstraße
überholt von einem schwarm
seifenblasenRené Possél
blutdruck messen
am küchentisch der brief
vom finanzamtSonja Raab
omabesuch
zwischen den atemzügen
die abständeSonja Raab
Die Raben krächzen –
noch tiefer ziehe ich den Kopf
in die Jacke einDragan J. Ristić
Lawinenwarnung
im Hotelzimmer
lange VerschüttetesWolfgang Rödig
Schneeflocken tanzen
beinah wie damals
dreh’ die Platte noch mal umWolfgang Rödig
Perseidennacht
am Feuer Pläne schmieden
für den UmbauSebastian Salie
flaches Wasser
lauter Scherben auf dem Grund
des SpiegelbildesSebastian Salie
Abbruchhaus
vor dem Bauzaun
StolpersteineEvelin Schmidt
der Zug rast
am Fenster zieht Regen
NotenlinienEvelin Schmidt
frostige Frühe –
aus den Wurzeln der Eiche
steigt das MorgenrotAngelica Seithe
Lange Fahrt
unter meinem Liegestuhl
AmeisenstraßenTanja Sulzberger
ein Traum
zaghaft berührt
vom MorgenFriedrich Winzer
Meeting
sie begutachten
ihre SneakersFriedrich Winzer
die erste Hummel
und gleich im Einklang
mit ihrem SchattenKlaus-Dieter Wirth
Sonderbeitrag von René Possél
René Possél hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das ihn besonders anspricht.
Neujahr
die guten Vorsätze
aus dem altenEleonore Nickolay
Neujahr und gute Vorsätze gehören offenbar für viele zusammen. Ein neues Jahr bedeutet für sie, einen Neuanfang mit dem eigenen Verhalten zu wagen, einen Vorsatz zu fassen; oft in Sachen Gewicht oder Gewohnheiten, Projekte oder Personen – wie auch immer.
Bis zum Ende der zweiten Zeile evoziert das Haiku hier ein gewohntes Verhalten. Die dritte Zeile des Haiku bringt die überraschende Volte: Hatten wir nicht am Anfang des alten Jahres auch gute Vorsätze gefasst? Was ist daraus geworden? Haben wir sie umgesetzt in die Tat? Hat sich etwas geändert in unserem Verhalten oder Leben?
Das sind unangenehm nüchterne Fragen und eigentlich geeignet, die „vorsätzlich Guten“ in ihrem Willen an Neujahr zu entmutigen. Immerhin lässt der Verweis auf die Vorsätze des alten Jahres offen, ob die Erinnerung bei manchen ein positives Ergebnis zeigt …
Tanka-Auswahl der HTA
Ein Tanka, das mich besonders anspricht
wie es mich anstarrt
im Spiegel
das Gesicht meines Vaters
mit den traurigen Augen
meiner MutterFrank Dietrich
Allein beim erstmaligen Lesen spricht mich das Tanka auf der Gefühlsebene mit eher negativen Gefühlen an.
Zunächst einmal ist da das lyrische Ich, entweder ein Sohn oder eine Tochter, welches dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist, bis auf die Augen, die sind von der Mutter, und sie sind traurig. Wer genau hinsieht, kann aus Augen so einiges deuten. Sie werden auch als „Spiegel der Seele“ bezeichnet. Aus unseren Augen strahlt unser innerster Wesenskern unverfälscht und echt.
In diesem Tanka starren die Augen auf ein Gesicht im Spiegel. Der Spiegel gilt als zweideutiges Symbol. Einerseits gilt er als Zeichen der Eitelkeit und Wollust, andererseits symbolisiert er Selbsterkenntnis, Klugheit und Wahrheit. In den ersten drei Zeilen ist es, je nach Lesart, das Gesicht des lyrischen Ichs oder jenes des Vaters. Starren kann durch Neugier, oder wenn einen etwas fasziniert, erfolgen. Für ein Gegenüber, das man anstarrt, kann das sehr unangenehm sein, je nachdem, wie unsicher oder selbstsicher die Person ist. Der starre intensive Blick wird aber auch als Zeichen von Charisma und Stärke gewertet.
„wie es mich anstarrt / im Spiegel / das Gesicht meines Vaters“ – das lyrische Ich wird angestarrt und bemerkt das im Spiegel. Nimmt man nur diese drei Zeilen des Tankas, so ist es der Vater, der starrt. Warum ist hier nicht ersichtlich. Aber in mir keimt der Gedanke, dass das lyrische Ich eine Tochter ist. Und in Verbindung mit den traurigen Augen wird die ganze Szene unangenehm, vielleicht häusliche Gewalt? Wir erfahren ja in den beiden letzten Zeilen „mit den traurigen Augen / meiner Mutter“, dass auch die Augen der Mutter traurig sind.
Nach der dritten Zeile erfährt das Tanka eine Wendung. Auf einmal sehen wir im Spiegel nicht mehr das Gesicht des Vaters, sondern das des lyrischen Ichs. Dennoch ist der Vater durch die Ähnlichkeit präsent, aber auch die Mutter mit den traurigen Augen, die das lyrische Ich geerbt hat oder, was wahrscheinlicher ist, die traurigen Augen bei beiden sind durch schlechte Erfahrungen entstanden. Traurige Menschen haben schärfere Sinne, sie beobachten ihre Umwelt genauer. Das könnte ein Grund für das Starren sein. Das Gesicht wird genau erforscht, was ist von der Mutter, was vom Vater. Oder das lyrische Ich ist auf der Suche nach der Wahrheit. Vielleicht wurden die Gegebenheiten zuvor verleugnet.
Insgesamt ein berührendes Tanka mit vielen Informationen, aber auch mit vielen offenen Fragen, die der Fantasie des Lesers überlassen bleiben.
Ausgesucht und kommentiert von Silvia Kempen
Die Auswahl
Haus am Bahndamm –
eine zerrissene Gardine
weht aus dem Fenster.
Ich steige über die Gleise
der Zeit hinterherGerd Börner
wie es mich anstarrt
im Spiegel
das Gesicht meines Vaters
mit den traurigen Augen
meiner MutterFrank Dietrich
Kaum zu glauben, wie
schnell sie sich eingelebt hat,
die fette Lüge
geballt zur harten Faust in
der Tasche der anderenBeate Conrad
er spricht
– sein Ohr an meiner Brust –
von Zwischentönen
die nun – nach all den Jahren –
doch ihn störenGabriele Hartmann
Mutters Gebäck …
wie mürbe es doch wurde
in der Blechdose
derweil ihr Tadel behält
seinen BissGabriele Hartmann
Glocken läuten
für den Whiskey
drücke ich
sie aus
die ZitronenhälfteJonathan Perry
wie friedlich er schaut
der nussknacker
auf dem bücherregal –
um die weihnachtszeit
beißt er gnadenlos zuTheo Schmich
Sonderbeitrag von René Possél
René Possél hat aus allen anonymisierten Einsendungen ein Haiku ausgesucht, das ihn besonders anspricht.
Neujahr
die guten Vorsätze
aus dem alten
Eleonore Nickolay
Neujahr und gute Vorsätze gehören offenbar für viele zusammen. Ein neues Jahr bedeutet für sie, einen Neuanfang mit dem eigenen Verhalten zu wagen, einen Vorsatz zu fassen; oft in Sachen Gewicht oder Gewohnheiten, Projekte oder Personen – wie auch immer.
Bis zum Ende der zweiten Zeile evoziert das Haiku hier ein gewohntes Verhalten. Die dritte Zeile des Haiku bringt die überraschende Volte: Hatten wir nicht am Anfang des alten Jahres auch gute Vorsätze gefasst? Was ist daraus geworden? Haben wir sie umgesetzt in die Tat? Hat sich etwas geändert in unserem Verhalten oder Leben?
Das sind unangenehm nüchterne Fragen und eigentlich geeignet, die „vorsätzlich Guten“ in ihrem Willen an Neujahr zu entmutigen. Immerhin lässt der Verweis auf die Vorsätze des alten Jahres offen, ob die Erinnerung bei manchen ein positives Ergebnis zeigt …