Es wurden insgesamt 200 Haiku von 75 Autoren und 57 Tanka von 24 Autoren für diese Auswahl eingereicht. Einsendeschluss war der 15. Juli 2023. Diese Texte wurden vor Beginn der Auswahl von mir anonymisiert.

Jedes Mitglied der DHG hat die Möglichkeit, eine Einsendung zu benennen, die bei Nichtberücksichtigung durch die Jury auf einer eigenen Mitgliederseite veröffentlicht werden soll.

Eingereicht werden können nur bisher unveröffentlichte Texte (gilt auch für Veröffentlichungen in Blogs, Foren, inklusive die Foren auf HALLO HAIKU, sozialen Medien und Werkstätten etc.).

Bitte keine Simultan-Einsendungen!

Bitte alle Haiku/Tanka unbedingt gesammelt in einem Vorgang in das Online-Formular auf der DHG-Webseite HALLO HAIKU selbst eintragen: https://haiku.de/haiku-und-tanka-auswahl-einreichen/

Ansonsten per Mail an: auswahlen@sommergras.de

Der nächste Einsendeschluss für die Haiku-/Tanka-Auswahl ist der 15. Oktober 2023.

Jeder Teilnehmer kann bis zu sechs Texte – drei Haiku und drei Tanka – einreichen.

Mit der Einsendung gibt der Autor/die Autorin das Einverständnis für eine mögliche Veröffentlichung in der DHG-Haiku-Agenda, auf http://www.zugetextet.com sowie für eine mögliche Vorstellung auf der Website der Haiku International Association.

 

Haiku-Auswahl der HTA

Die Jury bestand aus Horst-Oliver Buchholz, Birgt Heid und Deborah Karl-Brandt. Die Mitglieder der Auswahlgruppe reichten keine eigenen Texte ein.

Alle ausgewählten Texte – 57 Haiku von 40 Autoren – werden in alphabetischer Reihenfolge der Autorennamen veröffentlicht. Es werden max. zwei Haiku pro Autor aufgenommen.

„Ein Haiku, das mich besonders anspricht“ – unter diesem Motto besteht für jedes Jurymitglied die Möglichkeit, bis zu drei Texte auszusuchen (noch anonymisiert), hier vorzustellen und zu kommentieren. Diesmal wurden sechs Haiku ausgewählt.

Da die Jury sich aus wechselnden Teilnehmern zusammensetzen soll, möchte ich an dieser Stelle ganz herzlich alle interessierten DHG-Mitglieder einladen, als Jurymitglied bei kommenden Auswahl-Runden mitzuwirken.

Peter Rudolf

 

Ein Haiku, das mich besonders anspricht

Nebelmorgen
im Brennofen kühlen noch
chiemseeblaue Teller

Bernadette Duncan

Die spätere Herbstzeit ist sicher eine gute Jahreszeit, um zu töpfern oder sich anderen kreativen Arbeiten zu widmen, weil sie zumeist häuslicher Natur sind. In diesem Haiku wurden für sich oder für andere Menschen Teller getöpfert, glasiert und gebrannt. Praktische Haushaltsgegenstände, die zusätzlich mit dem Flair des individuellen Kunsthandwerks und dem besonderen Charme der optischen Gestaltung verbunden sind und deren Benutzung weit mehr Genuss bietet als neutrale weiße Massenware. Doch nicht nur das: Teller haben mit unserer Nahrung zu tun, die wir gerne gepflegt zu uns nehmen, die uns befriedigend sättigt und uns damit am Leben erhält.

Der Brennvorgang ist abgeschlossen. Das Wort „noch“ deutet darauf hin, dass bereits andere Geschirrteile fertiggestellt wurden und die Teller vielleicht als letzte Stücke an der Reihe waren.

Der Autor oder die Autorin spielt mit Temperaturgegensätzen, sodass es mir selbst ein wenig heiß und kalt wird, als würde ich im heißen Sommer aus einem kühlen See steigen.

Die Farbbezeichnung der Töpferware ist außergewöhnlich, weil sich die Farbe des Chiemsees, wie vermutlich vieler Voralpenseen, je nach Wetterlage und den Gegebenheiten des Untergrunds zwischen tiefem Türkisblau und verschiedenen Grautönen bewegt, die Farbe also gar nicht genau festgelegt werden kann. Vielleicht ist die Farbe der Teller ein helles Türkis, oder es wurden gar blaue Bereiche mit grauen Schlieren kombiniert. Doch am Wort selbst spüre ich die Besonderheit der Glasur, die die Teller tragen. Die Vorstellung des Chiemsees, der Weite, der freien Zeit, die man dort glücklich verbracht hat, sowie der sportlichen und geselligen Möglichkeiten, sprang sofort auf mich über. Die Idee, dass man den nebelgrauen Herbst mit den frischen Seefarben und den in der Glasur verschmolzenen Erinnerungen seiner Teller erträglicher machen möchte, leuchtet unmittelbar ein. Noch dazu, weil man den Nebelmorgen mit November assoziiert und insofern der Winter noch lange dauern wird. Viel Zeit, um die schönen Teller zu genießen. Viel Zeit auch, um sich Gedanken darüber zu machen, wie das eigene Wohlbefinden in grauen Lebensphasen gesteigert werden kann, um es auch anderen, beispielsweise mir in diesem Haiku, zugutekommen zu lassen.

Ausgesucht und kommentiert von Birgit Heid

 

Laue Nacht
Zuletzt verstummen
die Zikaden

Gabriele Hartmann

Ein klassisches, gelungenes Haiku. In sechs Wörtern mit zwölf Silben ist alles gesagt, selbst die Zikaden sind nun still. Warum zieht mich dieses Haiku so an?

Es ist in Fragment und Phrase unterteilt, wobei das Fragment hier das Fenster ins Haiku öffnet, die Stimmung erzeugt (laue Nacht). Das Bild von Sommer entsteht vor meinen Augen, auch wenn „laue Nacht“ kein Kigo ist. Traditionell wird das Kigo meist in die erste Zeile, den ersten Vers gesetzt, um dem Leser die Stimmung und das Setting des Haiku vorzustellen.

Möchte man bei „laue Nacht“ von einem Kigo reden, dann könnte es nur als schwaches Kigo angesehen werden.

Die Phrase hingegen endet mit einem Kigo, einem starken Kigo (Zikaden), welches für den mittleren und späten Sommer steht. Das Haiku ist ein Rätsel, um seine Bedeutung zu erfassen, müssen wir bis zum Ende, bis zum Kigo, lesen.

Zuletzt verstummen also auch sie, die Zikaden. Es ist nicht mehr ihre Zeit. Ein Jahreszeitenwechsel steht vor der Tür, eine Transformation findet statt (im Verstummen der Zikaden). Das ist der Lauf der Welt. Alles ist der Veränderung unterworfen. Und auch, wenn wir jetzt noch in warmen Nächten gesellig und bei guter Laune auf den Terrassen oder unseren Balkonen sitzen mit Freunden und Familie, gehen auch diese Tage vorbei. Deshalb ermahnt uns das Haiku sanft, wir sollen sie genießen, diese leichten, guten Tage. JETZT!

Ausgesucht und kommentiert von Deborah Karl-Brandt

 

Stolpersteine
ich schultere
mein Erbe

Gabriele Hartmann

Auch in meiner Stadt findet man sie überall: Stolpersteine. Dort, wo früher jüdisches Leben zu Hause war. Als Teil meiner Stadt. Viel ist nicht geblieben: eine zerstörte Mikwe am Rheinufer, Stolpersteine und Stolperlesezeichen, wo 1933 mit den Nazis sympathisierende Studenten Bücher verbrannten.

Dieses Senryu, welches nur aus fünf wohlgesetzten Wörtern besteht, entlässt den Leser nicht aus seiner Verantwortung. In der ersten Person geschrieben, ist da von „mein(em) Erbe“ die Rede. Jahrhunderte lang war die jüdische Kultur Teil dieser Kultur, hat diese Kultur mitgeprägt und ist somit auch mein kulturelles Erbe.

Heute kann man sich fragen, wie groß es noch ist. Mehr als siebzig Jahre nach dem Holocaust ist jüdisches Leben in Deutschland zwar noch vorhanden, aber kaum mehr sichtbar. Ein schweres Erbe, das der Leser antreten muss. Es ist kaum erträglich: das Hinschauen, das Sich-Erinnern, aber es bedeutet einen Akt der Solidarität. Es geht um die Frage, was Menschlichkeit ist, was der Einzelne bereit ist mitzutragen, ob das lyrische Ich und der Leser bereit sind, Position zu beziehen und sich der Barbarei entgegenzustellen, auch wenn der Weg vielleicht ein steiniger ist.

Das lyrische Ich hat diese Entscheidung getroffen, denn es schultert aktiv sein Erbe.

Ausgesucht und kommentiert von Deborah Karl-Brandt

 

verwählt
in seiner stimme
etwas wie heimat

Michaela Kiock

Dieses Haiku erinnerte mich sofort an meinen Sohn als Kleinkind, der, fasziniert von den technischen Möglichkeiten des Telefons, wahllos Nummern wählte und begeistert die übliche Ansage als „Kein Anschluss dieses Mumba“ nachplapperte. Doch gelegentlich waren andere Menschen am Apparat. Sein fröhlich gefragtes „Onkel Andi?“ signalisierte mir, dass er eine gültige Nummer erwischt hatte. Ich klärte ihn auf, dass es ein anderer Mann war, der in einer ähnlichen Stimmlage wie der Vermutete gesprochen hatte.

Die Verknüpfung neuer Erlebnisse mit bereits bekannten Erfahrungen ist die grundlegende Lernerfahrung, die kleine Kinder machen, um sich die Welt zu erklären. Aber auch Erwachsene benutzen im Alltag sogenannte Skripts, also Schlussfolgerungen aus bisherigen Erfahrungen, ohne die man sich nicht schnell und sicher durch die Welt bewegen könnte. Ungewohnte Vorkommnisse oder Örtlichkeiten können dadurch rasch eingeordnet werden. Fremdes wird einem vertraut, indem im Unterbewussten eine Reihe von Abgleichen erfolgt, bis man sich einigermaßen sicher ist. Vielleicht fragt man auch nach, um letzte Zweifel zu beseitigen.

Ob diese Vermutungen von Offenheit oder von Vorurteilen geprägt sind, hängt sicher mit den eigenen Erfahrungen und dem persönlichen Naturell ab. Wenige Zweifel bestehen jedoch bei vorliegendem Haiku, denn das Wort „Heimat“ wird allgemein positiv bewertet.

Wie wunderbar ist es, den vertrauten Dialekt oder die Klangfarbe der Sprache zu hören, die einen an das frühere Zuhause erinnert. Erst recht, wenn das Erlebnis überraschend auftritt, wie bei einer zufälligen Begegnung oder einer falsch gewählten Telefonnummer. Mit einem Moment wird man an das eigene Leben in der Herkunftsregion erinnert. An die Eltern und Freunde, die Jugend, die Ausbildung oder das Studium, die erste Liebe, die Landschaft, die Städte und Dörfer. All das Vertraute eben. Wenn ich selbst eine fremde Person treffe, die meinen Heimatdialekt spricht, beginne ich stets ein kurzes fröhliches Gespräch mit ihr. Manchmal stellt sich heraus, dass man in der Nähe gewohnt hat oder dass es gemeinsame Bekannte gibt. Da schließt sich der Lebenskreis, die Biografie rundet sich, so mein Empfinden. Ein heimatlicher Klang ist für eine kurze Zeit wie die Rückkehr nach Hause.

Ausgesucht und kommentiert von Birgit Heid

 

verwählt
in seiner stimme
etwas wie heimat

Michaela Kiock

Eine verunglückte Situation. Das Telefon läutet, man eilt herbei und greift erwartungsvoll zum Hörer. Doch kein Vertrauter meldet sich, kein Freund, sondern … ein Fremder: „verwählt“. Das ist enttäuschend, zunächst. Doch plötzlich die Wendung, in der Stimme des Fremden wird überraschend etwas Vertrautes erfahrbar, „etwas wie heimat“ klingt an. Aus Distanz wird Nähe, aus der Enttäuschung Interesse, vermutlich genaueres Hinhören, Aufmerksamkeit, vielleicht entspinnt sich ein kurzes Gespräch, ein Kennenlernen. Das ist eine gelungene offene Komposition auf engem Raum und an sich schon recht gut. Doch es kommt etwas hinzu, das den drei Zeilen noch etwas mehr Tiefe gibt, nämlich das einschränkende, relativierende „etwas“ in Zeile drei, das anzeigt: die Distanz wird eben nicht ganz überwunden, es bleibt etwas Fremdes, etwas Distanzierendes. So durchmisst dieses Haiku den Raum zwischen Nähe und Distanz, zwischen Fremdheit und Vertrautem. Die Maßeinheit ist dabei die Sprache! Sprache als das wesentliche Element für „etwas wie heimat“, für Heimatempfinden, vielleicht gar ein Sehnsuchtsort. In diesen nur zwölf Silben finden wir eine hohe inhaltliche Anreicherung, die gedankliche Tiefe mit einer Lakonie in der Sprache verbindet. Dass in den Zeilen eins und drei eine kleine Alliteration mitschwingt, setzt dem Haiku noch ein kleines Glanzlicht auf. Wunderbar.

Ausgesucht und kommentiert von Horst-Oliver Buchholz

 

verwittertes Wegekreuz
als wäre nichts
gewesen

Eva Limbach

Ich musste das Haiku ein paar Mal lesen, bis ich es für mich verstand. Unter „als wäre nichts gewesen“ stellte ich mir zunächst eine Begebenheit unter Menschen vor. Ein Konflikt oder eine Liebesbeziehung, etwas, was zwei oder mehrere Personen miteinander verbunden hat, dieses Verbindende jedoch nicht mehr in die Gegenwart zu reichen scheint. Keine Erinnerung ist beim anderen zu erkennen, dass da mal etwas war. Doch ich konnte keinen Zusammenhang mit dem Wegekreuz herstellen. Bestenfalls die Assoziation, dass sich die Wege, die sich womöglich beim Wegekreuz selbst kreuzen, dazu führen, dass man auseinandergegangen ist und sich wieder getroffen hat. Doch das „als wäre nichts gewesen“ gibt eine Zusatzinformation, die ich nicht zuordnen konnte.

Das „verwittertes“ führte mich weiter. Das Wegekreuz vergeht allmählich. Mir leuchtete spontan ein, dass das „Als wäre nichts / gewesen“, die Religion selbst meint. Wenn das Kreuz ganz zerfallen sein wird, erinnert an dieser Stelle nichts mehr an die religiöse Absicht der Menschen, die es dort aufgestellt haben. Vielleicht, um Gott für reiche Ernten zu danken oder an einen hier verstorbenen Mitmenschen zu erinnern. Vielleicht war es ein Grenzzeichen oder der Standort war ein als heilig empfundener Platz. Als hätte es die Religionsausübung nicht gegeben.

Es bleibt offen, ob die Parallele positiv oder negativ bewertet wird. Diese Offenheit ist großartig, denn jeder Leser und jede Rezipientin wird sich in dem Haiku ein Stück weit selbst wiederfinden, sich in der eigenen Haltung bestätigt fühlen. Was wird dann sein, mag man sich fragen, wenn das Wegkreuz zerbrochen beziehungsweise das Christentum bedeutungslos geworden ist? Ist dies eine bange oder womöglich eine befreiende Frage?

Schließlich geht es um wichtigste philosophische Überlegungen im Leben. In welche Richtung zeigt meine Kompassnadel? Wer ist mir Vorbild? Welche Regeln erkenne ich als sinnvoll für mich und die Gemeinschaft an? Was kommt nach dem Tod? Diese großen Fragen, ob Gott und die Bibel oder die philosophischen Schriften von der Antike bis heute als Orientierung im Diesseits wie auch bezogen auf ein mögliches Jenseits dienen, diese fundamentalen Fragen spiegeln sich in diesem Haiku wider.

Ausgesucht und kommentiert von Birgit Heid

 

Nach dem Regen
die Invasion der Schnecken
zum Salat 

Evelin Schmidt

Auf den ersten Blick ein schlichtes, humorvolles Sommer-Haiku. Phrase und Fragment gliedern das Gedicht in zwei Teile. In der ersten Zeile ein Himmelsphänomen, die anderen zwei beschreiben dann die sehr erdgebundenen Konsequenzen. Plötzlich sind sie da, die bei Hobbygärtnern unbeliebten Weichtiere, die gierig frisches Gartengrün verspeisen.

Ich sehe eine Horde roter, brauner, schwarzer oder schwarz-gelb gestreifter Nacktschnecken, höre das Geräusch ihrer Raspelzungen, als sie die usurpierte Nahrung zerkleinern. Eine Invasion.

Der Regen zu wenig, die Sommer zu heiß. Bedroht von Austrocknung, der Unterernährung ausgesetzt, müssen die Schnecken nehmen, was sie kriegen können. Jede Gelegenheit nutzen, weil ihnen sonst der Tod droht. Klimaopfer!

Bruce Ross schrieb, das Haiku stelle essentiell die Beziehung des Einzelfalls mit dem Universellen her. Für mich beinhaltet dieses Haiku eine Mahnung, die Lebensgrundlagen dieser Erde für die Menschheit und alle Lebewesen zu erhalten.

Ausgesucht und kommentiert von Deborah Karl-Brandt

 

Die Auswahl

Abschied
im schwindenden Licht
sein Schatten

Christa Beau

Haltestelle
aus der Bahn steigen
Gerüche

Christa Beau

Equal Pay Day –
eine Biene stößt und stößt
gegen das Fenster

Tony Böhle

Der Buddha
auf dem Grabstein lächelt
aus der Tiefe

Heiner Brückner

die Braille-Schrift
der Blütenblätter –
zarteste Hebungen

Stefanie Bucifal

im nächsten Leben
Schwalbe sein und wiederkehren
für einen Sommer

Stefanie Bucifal

es killt sanft
dein Schweigen nach dem
Liebesgeständnis

Michael Deisenrieder

Das Gespräch verstummt:
Ein riesiger Vollmond schwebt
über den Dächern.

Reinhard Dellbrügge

erstes Grau
ein Teil deines Haares
ist Mondlicht

Frank Dietrich

nach und nach
gehen uns die Themen aus
letzte Sterne

Frank Dietrich

Brandgeruch
die Flüchtlinge im Haus
beten für Frieden

Hildegard Dohrendorf

Gewitterschwüle
die Spatzen nehmen
ein Sandbad

Hildegard Dohrendorf

Nebelmorgen
im Brennofen kühlen noch
chiemseeblaue Teller

Bernadette Duncan

Kindheitsende
ich stelle mich
vor Mutter

Hubert Felber

Brombeeren zupfen –
der Pilger dreht sein Gesicht
in das Morgenlicht.

Volker Friebel

Fliegende Schwäne …
Warum trägt dieser Himmel
nicht mich.

Volker Friebel

Alter Schulatlas
viele Länder
tragen falsche Namen

Dieter Gebell

Liebesspiel
der Mond
in ihren Augen

Dieter Gebell

ein weilchen noch
zusammen sein
hand in hand

Gregor Graf

das Treppenhaus
leichter Biergeruch
Papa ist da

Wolfgang Gründer

Ich bin schwanger
über sein Gesicht huscht
ein Schatten

Wolfgang Gründer

Frühlingsbrise –
ihr leises Lied
am Gartentor

Claus Hansson

wilde Rose
einmal noch treibe
im Abendwind

Claus Hansson

laue Nacht
zuletzt verstummen
die Zikaden

Gabriele Hartmann

Stolpersteine
ich schultere
mein Erbe

Gabriele Hartmann

Trockener Sommer –
er gießt das Unkraut am Weg
der närrische Alte

Torsten Hesse

kondolenzbesuch
sie spricht von hohen
kursverlusten

Michaela Kiock

verwählt
in seiner stimme
etwas wie heimat

Michaela Kiock

Auf der Pirsch
wir hören
das Gras wachsen

Petra Klingl

auch du
bist jetzt ganz weiß
Löwenzahn

Gérard Krebs

unterm Moskitonetz
wir lernen
mit dem Krieg zu leben

Eva Limbach

verwittertes Wegekreuz
als wäre nichts
gewesen

Eva Limbach

blaue Hortensie –
auf der Bank neben ihr
nimmt die Stille Platz

Ramona Linke

Yogastunde
allein mit dem Ungesagten

Ramona Linke

Den Fluss betrachtend
ein Alter: das Leben treibt
dem Meer entgegen

Werner Martini

der Nachbar im Zug
ich erzähle mir
seine Geschichte

Ingrid Meinerts

Hundstage
in den Eistüten
schmilzt der Sommer

Ingrid Meinerts

Kranichrufe
die Sandaletten
im Schrank verstauen

Ruth Karoline Mieger

Novembergrau
wieder streiten sie
ums Besuchsrecht

Ruth Karoline Mieger

Nachtarbeiter
in einer Pfütze
wird es Tag

Eleonore Nickolay

Trauerarbeit
ich begebe mich in die Obhut
der Eiche

Eleonore Nickolay

Lederschuhe am Seeufer
ein Brief
„Für Anna“

Heike Pfingsten-Kleefeld

das Lachen im Halse
zu weit gegangen
die Puppe des Bauchredners

Wolfgang Rödig

Zeitungsnachricht
WELTTAG DER POESIE
doch kein Gedicht

Rita Rosen

Atemzüge
zwischen den Wellen
das Schweigen des Meeres

Frank Sauer

innerer zwist –
mit diesem haus hier verwurzelt
die kletterrosen

Birgit Schaldach-Helmlechner

in der flachen Schale drei Schwertlilien – gelbe Stille

Angela Schmitt

die Marktfrau schreit
die Möwe weicht nicht
aus der Reihe

Helga Schulz Blank

Frühnebel
aus dem Grau
ruft ein Kuckuck

Helga Schulz Blank

auf meinem Weg
blitzt die Sonne auf
in einer Scherbe

Marie-Luise Schulze Frenking

immer öfter
morgens im Spiegel
meine Mutter

Marie-Luise Schulze Frenking

Ihre feinen Adern
Unter pergamentner Haut
Welkende Tulpen

Monika Seidel

durchsonntes Fenster –
die seltene Neigung
mich weit zu öffnen

Angelica Seithe

schlaflos – ich lausche
den vielen Facetten
der Stille

Brigitte ten Brink

Abendsonne
die Pforte zum Friedhof
nur angelehnt

Jan Weck

wieder im Wald
die Brennnesseln kennen
mich noch

Stefanie Wichert

Thermik
ein Gleitschirmflieger folgt
dem Bussard

Friedrich Winzer

 

Tanka-Auswahl der HTA

Silvia Kempen und Martin Thomas wählten 6 Tanka von 4 Autoren aus.

„Ein Tanka, das mich besonders anspricht“ – hier wird diesmal ein Tanka vorgestellt und kommentiert.

 

Ein Tanka, das mich besonders anspricht

zwischen zwei Bissen
fragst du nach Salz und Pfeffer
ohne zu sehen
dass ich das kleine Schwarze
und die Perlen heut’ trage

Gabriele Hartmann

Der Alltäglichkeit, zwischen zwei Bissen nach Salz und Pfeffer zu fragen, steht die Eleganz des kleinen Schwarzen und der Perlen gegenüber. Ein gelungener Gegensatz.

Laut der Psychologie neigen Menschen, die Schwarz tragen, zu Ernsthaftigkeit, sie möchten respektiert werden. Dazu kommt hier, dass mit dem Tragen des „kleinen Schwarzen“ eine Erwartung einhergeht. Ein wohl mit Sorgfalt vor- und zubereitetes Essen mit wahrscheinlich festlich gedecktem Tisch, vielleicht zu einem bestimmten Anlass. Die Perlen könnten ein Geschenk des Partners gewesen sein.

Doch der Partner würdigt weder das Essen noch das Outfit der Frau. Er verlangt nach Salz und Pfeffer und das „zwischen zwei Bissen“, also wie nebenbei. Vielleicht liest er sogar die Tageszeitung, denn er sieht sie nicht einmal.

Eine einzige Enttäuschung für die Frau. Sie wird nicht nur nicht respektiert, sie wird noch nicht einmal richtig wahrgenommen. Da passt es schon fast wieder, dass das kleine Schwarze wohl einst aus Trauerkleidung hervorgegangen ist. Das Verhalten dieses Mannes ist einfach traurig.

Ausgesucht und kommentiert von Silvia Kempen.

 

 Die Auswahl

der Pegel sinkt
Ruinen erheben sich
aus dem Schlamm
als hätte die Erde
ein Machtwort gesprochen

Frank Dietrich

im Museum
die stille Anmut
der Fossilien
ich füge mich
in mein Tierschicksal

Frank Dietrich

unter Gerümpel
mein alter Teddy – du rollst
mit den Augen
als ich ihm Asyl gewähre
in deiner Betthälfte

Gabriele Hartmann

zwischen zwei Bissen
fragst du nach Salz und Pfeffer
ohne zu sehen
dass ich das kleine Schwarze
und die Perlen heut’ trage

Gabriele Hartmann

An diesem Abend
disputieren sie eifrig,
die Frösche im Teich.
Ihrem Ratschluss vertrauend
sinke ich sanft in den Schlaf.

Torsten Hesse

das leise Rauschen
des Windes in den alten
Friedhofsbäumen
es ist als erzählten sie
sich dort Geschichten

Brigitte ten Brink

 

Sonderbeitrag von René Possél

verwählt
in seiner stimme
etwas wie heimat

Michaela Kiock

Ich mag Haiku, die sich nicht ganz erschließen bzw. deren Sinn offen und vieldeutig bleibt – wie dieses.

Das Eröffnungswort bezeichnet eine Situation, die jeder kennt: „verwählt“. Da ruft einer an – und hat offenbar falsch gewählt. Ein Mann ist es auf jeden Fall – „in seiner stimme“ heißt es. Ich stelle mir vor, man kennte das Haiku sukzessive, nur vom Sprechen oder Vorlesen, ohne die dritte Zeile schon zu wissen …

Dann bliebe nach der zweiten eine Spannung. Was liegt in der Stimme dieses Anrufers, der falsch gewählt hat? „in seiner stimme / etwas wie heimat“. Meint das, die Stimme des Fremden hat einen Zungenschlag, einen Dialekt, der mich an meine Heimat erinnert, oder vielleicht eine Wärme, eine andere Eigenart, die heimatliche Gefühle hervorruft?

Das Wort „Heimat“ als letztes Wort steht hier im Gegensatz zum ersten Wort „verwählt“. Das Fremde und das Vertraute kommen so unerwartet auf einmal zusammen. Der Vorgang des Verwählens selbst führt die Pointe herbei; es ist gewissermaßen der Zufall, der das Haiku schreibt. Und wer weiß, was „etwas wie heimat“ bedeutet …

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